von Jolie Black
Kapitel 26
„Letztes Mal hatten wir nicht genug“, sagte Mrs Weasley erklärend, während sie einen Stuhl hinaus in die Halle trug und ihn dort so behutsam wie möglich absetzte. „Wärst du so nett - ich müsste gerade noch eben kurz - “
„Ja klar“, sagte Sirius kurz angebunden. Mrs Weasley löste die Bänder ihrer Küchenschürze und ging zur Treppe nach oben, während Sirius mit einem Stuhl in jeder Hand Snape nach unten in die Küche folgte.
Als er dort ankam, bot sich ihm ein sehr merkwürdiger Anblick. Sirius blieb im Schatten der Tür wie angewurzelt stehen.
Severus Snape stand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, mit dem Rücken zur Tür. Er hatte den linken Ärmel seines Umhangs zurückgeschoben und hielt seinen Arm über das Spülbecken ausgestreckt. Mit der rechten Hand nestelte er daran herum.
In einem Stuhl am Feuer saß Hestia Jones und betrachtete ihn mit einem Ausdruck von tiefer Sorge auf ihrem rosigen Gesicht. Einen Augenblick lang sah sie seine unbeholfenen Bemühungen mit an, dann erhob sie sich. „Brauchst du Hilfe?“ fragte sie leise und machte einige Schritte auf ihn zu.
Snape drehte sich zu ihr um. Sirius sah ihn im Profil, bleicher als sonst unter seinen schwarzen Haaren. Sein Gesicht war angespannt, aber zu Sirius' Überraschung war es diesmal nicht die vertraute Maske der Verachtung, die Snape für gewöhnlich seinen Mitmenschen gegenüber aufsetzte. „Wie? Nein, nicht nötig“, sagte er, unwillig, aber nicht wirklich unfreundlich.
Sirius sah jetzt, dass ein Stück Stoff um Snapes Arm gewickelt war, knapp unterhalb des Ellenbogens. Es war grau und ausgefranst, wie ein behelfsmäßiger Verband, der längere Zeit nicht gewechselt worden war. Snape versuchte, mit der freien Hand den Knoten zu lösen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Schließlich griff er ungeduldig nach seinem Zauberstab, als Hestia die Hand ausstreckte.
„Lass mich doch“, erbot sie sich mit der gleichen leisen Stimme.
Snape sagte nichts, aber er wies Hestia auch nicht zurück, als sie zu ihm trat und vorsichtig begann, den Knoten um den Verband zu lösen. Snape ließ den schmutzigen Stoff in das Spülbecken fallen. Unter dem äußeren Verband kam eine weitere Schicht zum Vorschein,
kaum mehr als ein Fetzen mit gelblich-bräunlichen Flecken, als ob man ihn in eine ungesunde Flüssigkeit getaucht hätte. Snape versuchte, ihn von seinem Arm abzulösen, aber er klebte fest. Er verzog das Gesicht, zerrte ein wenig heftiger daran und ließ einen zischenden Atemzug hören.
„Kannst du nicht - “ begann Hestia Jones, ihr Gesicht noch sorgenvoller als zuvor.
Snape schüttelte den Kopf. „Schau weg“, sagte er.
„Warum?“
Er starrte sie aus schmalen Augen an, aber sie erwiderte seinen Blick standhaft.
„An deiner Stelle würde ich wegschauen.“
„Nein.“
Da zuckte Snape mit den Schultern, ballte seine linke Hand zur Faust und riss den schmutzigen Stofffetzen mit einer einzigen schnellen Bewegung von seinem Arm herunter. Hestia schlug beide Hände vor ihren Mund und trat einen Schritt zurück.
Selbst aus einiger Entfernung war es ein widerlicher Anblick. Die Innenseite von Snapes Unterarm war eine einzige offene, rote Wunde. In der Mitte war ein kleines dunkles Mal. Die Haut darum herum war aufgebrochen, und feuchte Risse hatten begonnen, sich in alle Richtungen auszubreiten. Die Wundränder waren gerötet, und kleine Rinnsale einer gelblichen Flüssigkeit liefen herab bis zu seinem Handgelenk.
„Oh mein Gott“, flüsterte Hestia.
Snape warf ihr einen düsteren Blick zu. Seine Mundwinkel zuckten, aber Sirius war sich ganz sicher, dass auch das diesmal kein Ausdruck von Verachtung war. Snapes linke Hand war so fest zusammengeballt, dass sie zitterte.
„Wie - warum ist es denn so - “ Hestia schluckte und starrte auf die offene Wunde.
„Es brennt eben.“
„Die ganze Zeit?“
„Bis man auftaucht.“
„Aber du warst doch - “
„Nicht schnell genug.“
„Hast du ihm nicht erklärt - “
„Er war bisher nicht in der Laune, sich Erklärungen anzuhören.“ Snape zog seinen Zauberstab aus dem Umhang. „Und jetzt tu mir bitte den Gefallen und schau weg.“ Ohne ihre Reaktion abzuwarten, drehte er sich wieder zum Spülbecken um und murmelte „Ratzeputz.“
Sirius war sehr dankbar dafür, dass er nicht sehen konnte, was da genau vor sich ging. Es sagte genug, dass Hestia Jones jetzt schließlich doch die Augen schloss und sich abwandte. Mit einem leisen Klappern fiel Snapes Zauberstab auf die Tischplatte neben der Spüle, und er hielt mit der Rechten sein linkes Handgelenk umklammert, während Sirius eine zähe Flüssigkeit in die Spüle tropfen hörte.
Als Snape sich wieder umdrehte, war er noch einen Ton bleicher als zuvor, und Sirius fragte sich, ob es nur das Flackern des Feuers war, das seine dunklen Augen glitzern ließ. Schwer atmend hielt Snape noch immer seinen Arm umklammert, den schmutzigen Fetzen wieder auf die Wunde gepresst.
„Nein, warte“, sagte Hestia schnell und wühlte in ihren Taschen, bis sie ein ordentlich gefaltetes Taschentuch darin fand. „Nimm das hier, es ist sauber.“
Nach einem kurzen Zögern nahm Snape es an.
„Hilft denn sonst gar nichts?“ fragte sie.
„Zum Beispiel?“
„Murtlap-Essenz?“
„Hilft längst nicht mehr.“ Snape hob seinen Zauberstab wieder auf und murmelte „Ferula“. Ein frischer Verband entsprang der Spitze des Stabes, und er lenkte ihn um seinen linken Arm herum, so dass er die Wunde und Hestias Taschentuch bedeckte.
„Er kann doch nicht - du musst ihn -“
„Das ist nicht so einfach, wie du denkst, Hestia.“ Snape sprach noch immer im selben gleichmütigen Ton, die Augen auf seinen Verband gerichtet, aber Sirius sah, dass der Zauberstab in seiner Hand zitterte.
„Weißt du“, sagte Hestia leise, „es ist sehr, sehr mutig, dass du das für uns tust.“
Snape hielt inne und sah erstaunt zu ihr auf. „Ich tue es nicht für euch.“
„Nein, natürlich nicht für uns, sondern für unsere Sache“, verbesserte Hestia sich schnell.
„Unsere Sache.“ Snape spukte das Wort förmlich aus. „Nur Narren glauben an eine Sache, Hestia, Narren und hoffnungslose Träumer. Du solltest mich nicht für einen halten.“
„Aber wozu - “ Hestias Stimmer zitterte. „Wozu dann das alles?“ Snape runzelte die Stirn, als hätte sie ihn beleidigt, aber sie ließ nicht nach. „Wozu?“ fragte sie nochmals.
„Wozu?“ wiederholte er. „Sehr einfach. Um zu überleben. Wir könnten uns auch fragen, warum wir atmen.“ Ein Schwung seines Zauberstabs, und das Ende des Verbandes löste sich von der Spitze und schlang sich in einem ordentlichen Knoten um seinen Arm fest. Noch einmal „Ratzeputz“, und mit einer Handbewegung war das Spülbecken wieder spiegelblank.
„Aber es muss doch noch mehr geben“, beharrte Hestia. „ Etwas Höheres. Etwas, was bleibt, auch über unser eigenes Leben hinaus.“
Snape beugte vorsichtig seinen bandagierten Arm. „Wie zum Beispiel?“ fragte er gleichgültig.
„Du glaubst nicht an - an Liebe?“ fragte Hestia sehr leise.
„Ich glaube schon lange an nichts mehr, Hestia.“
„Dann glaubst du auch nicht an Gerechtigkeit?“
„Gerechtigkeit.“ Snape lachte bitter auf. „An Gerechtigkeit am allerwenigsten.“
Hestia sah ihn an, und in ihren Augen lag eine tiefe Traurigkeit. „Aber gibt es denn nichts mehr, was du noch vom Leben erwartest, Severus?“
„Doch, gibt es“, sagte er grob. „Endlich in Ruhe gelassen zu werden. Das würde reichen.“
Er wandte sich von ihr ab zur Tür hin, und Sirius war geistesgegenwärtig genug, seine Stühle zu packen und lautstark in den Raum hineinzupoltern, als sei er gerade erst angekommen.
Snape zog hastig seinen Ärmel bis zum Handgelenk herunter. Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen Augenblick war es so, als sähe Sirius in die Tiefe seines eigenen Schmerzes, der sich in den schwarzen Augen seines Gegenübers spiegelte. Aber dann verengten sich diese Augen voller Misstrauen, Snapes Gesicht nahm wieder seinen gewöhnlichen Ausdruck der Verachtung an, und der Moment war vorüber. Sirius ließ seine Stühle fallen und machte sich so schnell er konnte wieder davon.
Er war in Gedanken noch ganz bei dem, was er eben beobachtet hatte, als er in die Eingangshalle zurückkehrte. Er konnte es kaum fassen. Seit wann war Snape so vertraut mit Hestia Jones? Seit wann war er mit überhaupt irgend jemandem aus dem Orden so vertraut? Wie war es möglich, dass er jemandem erlaubte zu sehen, was Hestia Jones da eben gesehen hatte? Und ausgerechnet Hestia, die kleine Hestia Jones, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete, vor lautem Geschrei und vor großen schwarzen Hunden, selbst in deren menschlicher Gestalt, aber die sich nicht im geringsten gefürchtet hatte vor dem Dunklen Mal, noch vor dem, der es trug.
Warum?
* * *
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