von rodriquez
Meine Eltern sind Dentisten, Zahnärzte.
Ihre Gemeinschafts-Praxis befindet sich aber nicht Mitten in London, sondern in einem kleinen, beschaulichen Ort in der Grafschaft Surrey, wenige Autominuten südlich von London.
In Joanne's Büchern erhält dieser Ort einen Fantasienamen.
Little Whinging…
Das Wohnhaus meiner Eltern liegt nur wenige hundert Meter von der Praxis entfernt.
Bevor ich geboren wurde teilten sich meine Eltern die Arbeit und die Patienten in gleichem Maße, danach, also nachdem ich das Licht der Welt erblickte, steckte meine Mum beruflich zurück. Nur noch an drei Vormittagen unter der Woche ging sie ihrem Beruf nach. In dieser Zeit befand ich mich in der Obhut meiner Grandma. Einer lieben und herzensguten Frau.
Ihr habe ich einen Großteil meines Wissens und meinen grenzenlosen Wissensdurst zu verdanken. Viele Dinge erklärte sie mir an Anschauungsbeispielen, oder sie las mir einfach aus Büchern vor. Büchern, aus denen man Kindern normalerweise nicht vorliest.
Grandma merkte wohl schnell, dass ich kein Interesse an den Gebrüder Grimm oder an Hans Christian Andersen hatte. Meine Aufmerksamkeit galt Sach- und Geschichtsbüchern. Sie war es auch, die mir lesen und schreiben beibrachte, und sie tat das besser und geschickter als jeder Lehrer, der mich später unterrichtete.
Die Wochenenden, und vor allem die Sonntage gehörten Hermine und ihren Eltern.
Ihr haltet uns für altmodisch?
Das sehe ich anders. Mein Dad arbeitete Rund um die Uhr. Oft sah ich ihn unter der Woche so gut wie gar nicht, wenn er nach Hause kam lag ich schon friedlich schlummernd in meinem Bett. Diese Wochenenden waren bis zu einem gewissen Tag die schönste Zeit meiner Kindheit.
Gleichaltrige Freunde hatte das kleine, damals mit hellbraunen Locken gesegnete Mädchen keine. Grandma war mein Freund.
Dann kam dieser gewisse Tag, den ich bis heute nicht vergessen habe. Ich habe ihn noch so deutlich vor Augen, als wäre er erst gestern gewesen.
Es war ein Sonntag im September. Der Himmel grau verhangen, die Luft kalt und feucht. Der Nebel sprühte einen feuchten Belag in unsere Gesichter, es störte mich nicht, ich war glücklich. Glücklich bei meinen Eltern zu sein. Fröhlich spazierte ich neben ihnen her, versuchte an der Hand meiner Mum mit Ihnen Schritt zu halten.
Ein ganz besonderer Tag, dieser Sonntag. Er führte mich auf einen Weg, den ich bis an mein Lebensende nicht mehr verlassen werde. Doch zu diesem Zeitpunkt konnte ich das noch nicht wissen. Wie auch?
Das kleine Mädchen war doch gerade erst sieben Jahre alt geworden.
„Dein letzter Tag in Freiheit“, wie mein Dad spaßiger Weise erwähnte. Doch an diesem Tag blieb er erstaunlich ruhig. Sein kleines Mädchen sollte am nächsten Tag in der Elementary School Surrey eingeschult werden. Ein sehr später Schulbeginn in diesem Jahr, dafür ein kurzweiliges Schuljahr, nicht nur auf Grund der mir noch bevorstehenden Situation. Wir feierten meinen Geburtstag im engsten familiären Kreis mit einem ausgiebigen Dinner. Nur meine Eltern und Grandma, doch das störte mich keineswegs. Der Vater meiner Mum starb bereits vor meiner Geburt an Multiple Sklerose, eine Krankheit die viele nur MS aussprechen, weil sie das vollständige Wort nicht beherrschen. Entschuldigt ich schweife ab … Die Großeltern väterlicherseits leben in den schottischen Highlands, und verlassen ihre Einöde eigentlich nie. Sie gehören zu der Gattung Menschen, die erwartet, dass man zu ihnen kommt. Standartspruch war: „Schön, dass man auch wieder einmal etwas von euch hört“. Als ob sie sich nicht auch hätten melden können…
Und das war nicht etwa der Spruch nach Wochen ohne Kontakt, sondern bei einem Anruf an meinem Geburtstag. Von mir wohl gemerkt. Ich musste anrufen, um mir gratulieren zu lassen.
Sie sind lieb und nett, keine Frage. Nur in diesen Dingen doch eher … gewöhnlich.
Die spätere Erfahrung hat mir gezeigt, dass sehr viele Muggel so denken.
Doch zurück zu meinem Geburtstag.
Nachdem wir Kaffee und Kuchen zu uns genommen hatten, schlug Mum einen Verdauungsspaziergang vor um „unsere angelegten Pfunde zu verarbeiten“.
Wir befanden uns schon wieder auf dem Rückweg, als wir an einem kleinen Spielplatz vorbeikamen, der mir vorher noch nie aufgefallen, oder einfach nur völlig uninteressant war, doch dieses Mal himmelte ein kleines Mädchen aus unerklärlichen Gründen ihre Eltern erwartungsvoll an. „Geh schon“, ermutigte mich meine Mum mit einem Lächeln. „Aber nicht zu lange. Spätestens in einer halben Stunde ist es völlig dunkel.“
Der Spielplatz war außerordentlich gut gepflegt, der Rasen einheitlich und vor noch nicht allzu langer Zeit gemäht, die Spielgeräte, wie neu. Eine zweiteilige Schaukel, eine Wippe, eine Rutsche, ein kleines Karussell. Genug um alles in kurzer Zeit ausgiebig zu testen. Während meine Eltern langsam weitertrotteten, lag ich bereits das erste Mal im Sand unterhalb der Rutsche. Sie war feucht und dadurch enorm rasant, ich fand keinen Halt und schlug im sandigen Auffangbecken, wie eine Wasserbombe ein.
Schnell rappelte ich mich auf, schüttelte den feuchten Sand von meinem Körper, und rannte blindlings zur Schaukel. Erschrocken stoppte ich ab. Eines der beiden Schaukelbretter war belegt. Vor mir saß ein trauriger, hagerer, fast abgemagerter Junge mit ungepflegten, strubbeligen Haaren. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, es lag abgesenkt in seinen Händen. Nur ein leises Schluchzen glaubte ich zu hören. Langsam und vorsichtig ging ich ganz Nahe zu ihm heran. „Was machst du hier so alleine?“
Noch langsamer als meine Schritte löste er sein Gesicht aus seinen Händen und versuchte mich anzuschauen. Das Erste was mir ins Auge stach, war eine Narbe auf seiner Stirn. Eine Narbe in der Form eines Blitzes. Sein Gesicht wirkte traurig. „Entschuldige“, murmelte ich leise. „Ich habe dich vorher nicht bemerkt.“
„Das bin ich gewohnt“, waren seine ersten traurig klingenden Worte.
„Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint“, erwiderte ich resolut.
„Für die Wahrheit brauch man sich nicht zu entschuldigen.“
„Wohnst du hier?“, versuchte ich meine peinliche Berührtheit zu überspielen.
Er zeigte mit ausgestrecktem Arm an mir vorbei.
„Ligusterweg, Nummer vier.“
„Deine Eltern lassen dich alleine hier? Es ist bald dunkel!“
„Ich habe keine Eltern.“
„Du veralberst mich. Bei wem wohnst du, wenn nicht bei deinen Eltern?“
„Bei der Schwester meiner Mum...“
„Deiner Tante!“
„...und meinem Onkel“, ignorierte er meine Belehrung. „Meine Eltern sind tot. Autounfall.“
Zum ersten Mal war ich sprachlos ergriffen.
„Tu … Tut mir…“, stammelte ich verlegen.
„Lass gut sein. Mir tut es auch leid.“
„Warum bist du so traurig? Ist es wegen deinen Eltern?“
Er schüttelte seinen Kopf. „Nein. Ich habe meine Eltern nie wirklich kennen gelernt. Ich war gerade mal ein Jahr, als sie…“
Angestrengt versuchte er mich anzuschauen, presste die Augen zusammen, als hätte er Probleme mich zu sehen. Offensichtlich interessierte ihn meine weitere Reaktion.
„Was ist mit deinen Augen?“
Er zuckte teilnahmslos mit der Schulter. „Ich habe Probleme manche Dinge zu erkennen. Alles wirkt irgendwie verschwommen. Aber die Umrisse kann ich alle sehen.“
„Warst du schon bei einem Augenarzt?“
„Nein, wozu?“
„Aber du brauchst eine Brille“.
„Die kostet Geld, das ich nicht habe“
„Deine Verwandten...?“, fragte ich ungläubig.
Über seine Lippen rutschte ein sarkastisches Lachen. „Da bin ich nur geduldet, mehr nicht, sie haben nichts für mich übrig.“
„Ist es das, warum du so traurig bist?“
Erneut bekam ich nur ein teilnahmsloses Zucken zur Antwort.
„Wie heißt du?“
„Harry. Harry Potter.“
„Hör zu Harry Potter, wenn du es möchtest kann ich mit meinem Vater reden. Er ist Zahnarzt…“
„Meine Zähne sind sehr gut…“
„…in der Gemeinschaftspraxis dort drüben“, ich zeigte über meine Schulter, und ließ mich nicht beirren. „... da gibt es auch ein Augenarzt und der ist ein guter Freund meines Vaters. Wenn du willst kann ich mit ihm reden.“
„Meine Verwandten werden mir keine Brille kaufen.“
„Es gibt Brillen, für die man nichts bezahlen muss.“
„Aber der Arzt kostet Geld…“
„Wie willst du lesen und schreiben?“
„Ich kann nicht lesen…“.
„Aber du willst es doch sicher lernen, oder?“ Erstaunt starrte ich ihn an.
„Dafür komme ich ja morgen in die Schule, da wird man mir helfen.“
„Da bist du aber sehr zuversichtlich. Wie willst du lesen und schreiben, wenn du nichts siehst?“
„Ich bin nicht blind!“, konterte er. „Ich sehe nur … etwas schlecht. Außerdem bin ich nicht zuversichtlich sondern hoffnungsvoll. Die Schule wird mir helfen. Wenn ich eine Brille brauchen sollte, wird man mir eine besorgen.“
„Du bist lustig…“, flötete ich ironisch über seine naive Art.
„Eben war ich noch traurig“, konterte er schlagfertig.
Ich konnte es einfach nicht glauben. Da, vor mir auf der Schaukel saß ein kleiner Junge, der in seinem kurzen Leben schon viel Leid und sicherlich auch Not und Elend erleben musste, der aber immer noch an das Gute in den Menschen glaubte.
Es imponierte mir, wie hoffnungsvoll und schlagfertig er versuchte sein Leben in den Griff zu bekommen. Ich unterdrückte eine sicherlich schmerzhafte wahre Antwort, weil ich ihm nicht auch noch die Hoffnung rauben wollte. Sein Mut war ungebrochen, und schon damals rebellierte sein großartiges Kämpferherz.
„Mit dieser Einstellung wirst du im Leben nicht weit kommen“, lag mir auf der Zunge. Zum Glück unterdrückte ich die Worte.
Wie falsch ich doch gelegen hätte…
„Und warum bist du jetzt hier? Hier draußen?“ Ich schaute mich suchend um.
„So gehe ich einem Streit aus dem Weg, sagt Onkel Vernon.“
„Einem Streit? Ich verstehe nicht!“
Er zuckte Verlegen mit seiner Schulter.
„Die Schwester meines Onkels ist zu Besuch, die mag mich nicht. Und ich mag sie und ihren hässlichen Köter nicht.“
„Und deswegen haben sie dich rausgeworfen? Hast du denn keine Freunde?“
„Du bist der erste Mensch, der mehr als ein paar Worte mit mir spricht, abgesehen von den Beleidigungen meines Cousins.“
Nachdenklich starrte ich ihn an. Einerseits konnte ich ihn verstehen, auch ich war nicht gerade mit Freunden reich gesegnet. Andererseits klang seine Geschichte unglaubhaft.
Wie könnte man ein Kind, dazu noch ein verwandtes Kind nicht gern haben?
Es bei Besuch vor die Tür setzen?
Aber könnte ein Kind überhaupt solche Dinge erfinden?
Seine Geschichte hatte aber ihren Höhepunkt bei Weitem noch nicht erreicht. Nicht an diesem Abend und nicht in naher Zukunft. Es sollte noch Jahre dauern.
„Mein Cousin“, sagte er plötzlich, als hätte er nachgedacht, „er könnte so was, wie ein Freund sein. Jedenfalls ist er das einzige Kind, zudem ich Kontakt habe“. Harry wirkte immer noch nachdenklich, schien zu überlegen. „Nein. Wohl eher nicht“, antwortete er sich selbst. „Er triezt mich immer. Petzt mir in den Arm. Verpetzt mich bei Tante Petunia, oder meinem Onkel. Der arme, arme Junge ist immer unschuldig. Ab und zu versucht er auch mich zu schlagen.“
„Warum wehrst du dich nicht?“
„Er ist Mamis Liebling und ich das lästige Kind der ungeliebten Schwester meiner Tante, das unter der Treppe wohnen darf und…“
„Unter der Treppe?“, ein schwerer Klos rutschte durch meinen Hals. „Du lebst unter der Treppe?“
„Eine kleine Kammer“, desinteressiert zuckten seine Wangen, „Zum Schlafen reicht es...“
„Du veralberst mich!“
„Warum sollte ich das tun? Ich kenne dich doch gar nicht…“
Erschrocken stellte ich an dem Vorwurf in seiner Stimme fest, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte. „Ich bin Hermine…“
„So habe ich das nicht gemeint“, ein flüchtiges Schmunzeln huschte über sein Gesicht, „- Dudley, mein Cousin versucht mich zu quälen, wann immer es ihm möglich ist, aber viel Erflog hat er nicht damit.“
Obwohl er gedanklich zurück bei seinem Cousin war, beschäftigte mich immer noch die Vorstellung, wie man unter einer Treppe leben konnte.
„Warum wehrst du dich nicht?“, wiederholte ich. „Sie quälen dich, bringen dich in … in … in einer Abstellkammer, oder so was ähnlichem unter“.
„Du kennst Dudley nicht.“
„Ich kann Dinge bewegen, wenn ich mich ganz fest konzentriere, oder wenn ich wütend bin. So habe ich schon einen Teller Tomatensuppe nur mit meinen Gedanken vom Tisch fallen lassen. Du musst wissen, ich hasse Tomatensuppe…“
„Kommst du?“ Die Stimme meines Dad hallte durch die mittlerweile völlige Dunkelheit. Ich hatte tatsächlich die Zeit vergessen und schaute mich suchend um. Mein Dad war nicht zu sehen. Stockfinster war es geworden. Nur der kleine Junge, der immer noch vor mir auf der Schaukel saß war noch zu erkennen. Vor allem seine Augen, seine wunderbaren Augen, die mich wie helle Smaragde anleuchteten. Ich war fasziniert von der Ausstrahlung dieses Jungen, seine Augen hatten mich gefangen, genau, wie die Narbe auf seiner Stirn. „Ja! Gleich!“ rief ich über meine Schulter hinweg in die Dunkelheit.
Aus einem mir unerklärlichen Grund ertastete ich die blitzartige Narbe. Er ließ es geschehen, zuckte nicht einmal zusammen. Im Gegenteil, seine Stirn schien zu kochen. Sie war glühend heiß. Von ihr sprang der Blitz über in meine Finger, ein wunderbar warmes, herzliches Gefühl strömte über meinen Arm. Meine Fingerkuppen kitzelten, und klebten an dieser Stelle an seiner Stirn fest. Der warme Strom hatte mein Herz erreicht, und schien sich darin zu verteilen. „Was ist das?“ Meine Stimme zitterte.
„Ein Narbe, von der ich nicht weiß woher ich sie habe“, antwortete er mit einem nervösen Schlucken, aber völlig ruhiger Stimme. Auf seinem Arm hatte sich eine Gänsehaut gebildet.
„Hermine!?“ Ein neuerlicher, dieses Mal ungeduldig fordernder Ruf meines Vaters. „Du musst doch noch die Geschenke auspacken.“
„Fünf Minuten“, flehte ich.
„Aber, wenn du dann nicht kommst…“
„Geschenke?“, wiederholte Harry. „Hast du etwa heute…?“
„Ich bin heute Sieben geworden“, lächelte ich.
„Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag … Meiner wird regelmäßig vergessen“, fügte er traurig hinzu. Ich schüttelte meinen Kopf. Harry tat mir unendlich leid. Ich glaubte ihm jedes Wort, und hätte mich Ohrfeigen können, auch nur einen Moment gezweifelt zu haben. Alles was er sagte klang ehrlich.
„Wann ist dein Geburtstag?“
„Am einunddreißigsten Juli werde ich auch Sieben.“ Ich musste lächeln. Der Junge war ein dreiviertel Jahr jünger als ich, aber dass er wirklich erst Sechs war, war genauso unglaublich, wie alles, was er mir erzählte. „Dann alles Gute nachträglich, Harry.“
„Danke. Weißt du, dass du damit der Erste bist, der mir jemals gratuliert hat?“
Die Wahrheit kann manchmal schlimmer sein als eine Lüge.
Dieser Junge brachte mich zum ersten Mal zum Nachdenken. Ich war fassungslos.
Hinter meinem Rücken hörte ich ein heftiges Keuchen, gefolgt von einem schweren Trampeln. Als würde jemand rennen, aber kaum von Fleck kommen. Mein erster Gedanke war „jetzt hatte ich es wohl doch übertrieben“, und ich rechnete schon heimlich mir einem etwas angesäuerten Dad, doch der gestöhnte, atemlose Ruf: „Du … du … sollst nach Hause kommen, Doofmann“, konnte niemals von meinem Dad stammen. „…Sonst gehst du ohne Essen ins Bett, soll ich dir ausrichten“. Noch während ich die Situation zu erfassen versuchte, hörte ich ein „…verschwinde“, und verspürte einen heftigen Schubs, durch den ich den Boden unter den Füßen und das Gleichgewicht verlor. Es ging alles blitzschnell und ich fand mich der Länge nach, im nassen Gras wieder. Meine Seite schmerzte. Erschrocken blickte ich hoch, und sah den ersten keuchenden Fleischklops dieses Universums. Ein Junge, nicht viel größer als die kleine Hermine, aber so breit wie ein Bär stand über mich gebeugt und grinste mich hämisch an. Noch immer schien dieser Junge unter der Last seines massiven Körperbaus zu leiden. Er keuchte, schnappte mehrfach nach Luft. Und das nach geschätzten zehn schnellen (Relativen!) Schritten. In sein Sweatshirt hätten Harry, ich und noch ein weiterer Harry locker reingepasst.
„Verschwinde du dumme Pute“, schrie er und verschluckte immer noch atemlos seine Stimme. Sie linkes Bein schwang ganz leicht nach hinten. Gerade bevor es wieder nach vorne schwang, (wie bei einer extremen Zeitlupe) drehte ich mich zur Seite. Sein Tritt ging ins Leere. Wütend holte er erneut aus. Doch genau in diesem Moment geschah das Unfassbare.
„LASS - SIE - IN - RUHE“
Es war richtig Unheimlich.
Harry war aufgesprungen. Sein Gesicht angespannt, voller Wut. Die Augen fest auf einen Fleischklops fixiert. Seine Stimme völlig verändert. Ein angsteinflößendes Schreien, aber auch gleichzeitig ein Zischen am Ende jedes Wortes, wie bei einer Schlange. Die Wippe hatte begonnen sich auf und ab zu bewegen, ohne dass jemand darauf saß. Das zweite Schaukelbrett schwang vor und zurück. Das Karussell drehte sich quietschend, wie von Geisterhand angestoßen. Ein Blitz erhellte den Nachthimmel und der dicke Junge stand kreidebleich, wie angewurzelt neben mir. Vorne an seiner Hose ein kleiner feuchter Fleck, der rasch größer wurde. Dann rannte er weinend und schreiend davon. „Das sage ich Dad!“ konnte ich noch hören.
Unterdessen kam dieses Mal mein Dad wirklich und äußerst besorgt angerannt. „Alles in Ordnung?“ rief er ängstlich. „Du solltest jetzt wirklich…“
„Ja. Dad“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Das ist Harry. Harry Potter Ich glaube er braucht eine Brille, könntest du nicht…?“
„Ganz langsam“, lächelte er, nachdem er mit suchenden Blicken feststellte, dass wirklich alles in Ordnung war. Abwechselnd starrte er zwischen Harry und mir hin und her. „Hallo Harry“.
„Er hat kein Geld und seine Verwandten helfen ihm nicht“, schnatterte ich munter weiter. „Ich denke, das lässt sich einrichten, komm einfach morgen…“
„Er kommt morgen auch in die Schule“, unterbrach ich erneut. Im Ablenken war ich echte Weltklasse.
„…am Nachmittag, sagen wir so um Drei in meine Praxis“.
„Darf ich dabei sein?“, bettelte ich hoffnungsvoll.
Dad nickte mir zu und sprach weiter zu Harry. „Dr. Stevens ist ein guter Freund, und ein sehr guter Augenarzt. Er wird dir bestimmt helfen können.“
Ich durfte dabei sein. Und das Ergebnis war niederschmetternd. Harrys Augen waren wirklich unglaublich schlecht. Dr. Stevens verordnete ihm eine Brille, die er in einem Optikergeschäft, nahe unserer Schule in Auftrag gab. Der Optiker legte einige Gestelle zur Auswahl auf den Tresen. Ich wusste sofort, nach welcher Brille Harry greifen würde. Ohne Nachzudenken griff er nach genau diesem Gestell, eine schwarze Nickelbrille. „Ausgerechnet diese kostet zehn Pfund Aufpreis“.
Ein Nackenschlag für Harry. Ich konnte die Enttäuschung in seinem Gesicht sehen. Traurig legte er sie zurück. Griff nach einer x-beliebigen und wartete auf ein bestätigendes Nicken des Optikers. Als dieses Nicken erfolgte, antwortete Harry leise. „Dann eben diese…“
„Also gut“, sagte der Mann, „Ende nächster Woche könnt ihr sie abholen“.
Wir hatten das Glück in die gleiche Klasse zu kommen. Und es gab nur uns. Andere Kinder kamen nicht an uns heran, wir ließen es auch gar nicht zu. Ich habe heute keinerlei Erinnerung an andere Kinder. Lediglich ein Klassenfoto erinnert mich noch an diese Zeit. Aber Namen spielten keine Rolle. Namenlose Gesichter.
Fortan trafen wir uns fast täglich ein, zwei Stunden nachmittags auf dem Spielplatz.
Doch die Tage wurden kürzer. Der Regen und die Kälte von Tag zu Tag heftiger. Nichts konnte uns abhalten. Die Tage vergingen, wie im Flug. Aufgeregt suchten wir am Ende der folgenden Woche erneut gemeinsam den Optiker auf. Ihr hättet Harrys Gesicht sehen sollen, als ihm der kahlköpfige Mann nicht die erwartete, sondern die erhoffte Brille unter die Nase hielt. Mit zitternden Händen nahm sie Harry entgegen, und starrte abwechselnd zwischen mir und der Brille hin und her. Sein Mund stand offen. „Aber…“, stammelte er, „die kostet Geld, das ich nicht habe.“ Schon wollte er sie wieder zurück auf den Tresen legen. Doch ich fasste nach seiner Hand, griff in meine Tasche und drückte dem Mann zehn Pfund in die offene Hand, die ich von meinem Geburtstag gespart hatte.
„Das kann ich nicht annehmen“, murmelte Harry.
„Doch du kannst“, belehrte ich ihn. „Ich tu es gerne“.
Unendlich dankbar schaute er mich an. Immer noch wirkte er fassungslos.
„Du musst dich unendlich glücklich schätzen eine solche Freundin zu haben“, lächelte der Mann. „Eine Stunde nach dem du sie dir ausgesucht hattest, kam sie mit einer ungewöhnlichen Bitte noch einmal zurück.“
„Irgendwann bekommst du es von mir zurück“, überging Harry die Anmerkung des Optikers.
Er hat es nicht vergessen…
Langsam schloss er seine Augen, setzte die Brille auf und dreht sich vollends in meine Richtung. Gespannt verfolgte ich, wie sich unter der Brille ganz langsam seine Augenlider bewegten. „Du bist das erste Wesen auf dieser Welt, dass ich richtig erkenne“, lächelte er verlegen, „und du bist wunderschön.“
Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, und mir wurde klar, was ich getan hatte.
Es war der Beginn einer sicherlich außergewöhnlichen, aber auch einer ewigen Freundschaft.
Meine restliche Kindheit war geprägt von Harry. Gegenseitig halfen wir uns, sprachen wir uns immer wieder gegenseitig Mut zu. Er musste auch nicht mehr auf den Spielplatz ausweichen, wenn die gehasste Tante zu Besuch kam. Meine Eltern hatten Harry genauso ins Herz geschlossen. Er war bei uns immer willkommen. Mein Dad machte sich immer über uns lustig, fragte wann wir denn endlich heiraten wollten. Die Gespräche, die Harry und ich führten, würden einem „alten Ehepaar ähneln“. Wir diskutierten, stritten über die Diskussion und vertrugen uns wieder. „Da kommt deine Sandkastenliebe“, witzelte Dad.
Im Laufe der Zeit entdeckten wir unsere Fähigkeiten, ungewöhnliche Dinge geschehen zu lassen. Harry unterhielt sich im Zoo mit einer Schlange, verhexte irgendwie seinen Cousin, der immer mehr Respekt, ja sogar Angst vor Harry bekam. Ich schaffte es meine Fähigkeiten Dinge zu bewegen auszuweiten. Trennen konnte man uns nur in den Sommerferien, wenn ich mit meinen Eltern in den Highlands Grandma und Grandpa einen Besuch abstattete.
Erst vier Jahre später erhielt unsere Beziehung einen ersten Knacks. Und wieder war es an meinem Geburtstag. Meinem Elften um Genau zu sein. Eine Eule flog durch unser offenes Küchenfenster, in den Krallen hielt sie einen Brief adressiert an:
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