von MIR
REKOMMIS
***
... wenn das Blut ihrer Kinder in den Tiefen verinnt ...
Kingsley Shacklebolt bekamen sie nur gelegentlich zu sehen. Er war ihre einzige Verbindung zum Leben im Schloss, doch er musste sehr, sehr vorsichtig sein, um nicht aufzufliegen. Eines Abends kam er aber doch unverhofft in den Raum der Wünsche und brachte Nymphadora mit. Die Erstklässlerin war fürchterlich zugerichtet.
„Nehmt sie hier auf. Ich fürchte, sie ist nicht mehr sicher im Schloss. Nicht nur, dass ihre Mutter wegen Protektion magischer Unwesen in Askaban sitzt und ihr Vater inzwischen als Muggelgeborener die Flucht ergriffen hat … sie ist auch heute im Verwandlungsunterricht – na ja – sagen wir ,über ihre Grenzen hinaus geschossen'. Die Direktorin hat darauf eine ,angemessene Strafe' beschlossen, die Mr. Filch ausführen durfte."
„Die Kröte hat über Werwölfe gelästert … da hab ich sie nur ein bisschen erschreckt!“, erklärte Nymphadora. „Dass sie gleich Filch heiß macht, hab ich nicht gedacht!“
„Du musst vorsichtig sein, Dora, bitte!“, rief Lily erschrocken und schloss sie in die Arme. „Bleib bei uns hier. Lernen kannst du von uns auch etwas, nur Gleichaltrige gibt es leider nicht.“
***
So schleppten sich die Wochen dahin. Lily und Severus fühlten sich hilflos, obwohl Albus zuversichtlich von geheimen, neuen Plänen redete. Sie sahen mit an, wie die Todesser schleichend an Macht gewannen, im Ministerium und in der Bevölkerung - bis sich schließlich alles erneut zuspitzte.
Der Eichhörnchen-Patronus kam mit einer traurigen Botschaft: „Heute Nacht wird es wieder geschehen. Es wird Aktionen geben, um die Gesellschaft vom Schmutz schlammblütiger Kinder zu befreien. Die Maßnahmen werden sich diesmal auf Kleinkinder unter drei Jahren konzentrieren. Doch nehmt euch in Acht: Sie sind besser vorbereitet als zum Jahreswechsel. Ich werde teilnehmen müssen, um meine Tarnung nicht zu verlieren.“
„,Ich werde teilnehmen müssen'? Wer sagt uns, dass es ihm nicht gefällt teilzunehmen! Ich traue ihm nicht. Warum hilft er uns nicht endlich, an den Stein zu gelangen? Du solltest uns so langsam mal sagen, wer es ist, Albus – oder wer sie ist“, forderte Lily. „Wenn er oder sie tatsächlich auf unserer Seite steht und wir ihn oder sie versehentlich töten, wäre das übel. Oder wenn wir die falsche Person verschonen, weil wir sie als Spion vermuten...“
„Handelt so, als gäbe es keinen Spion. Er wird für sich selbst sorgen. Ich kann seine Identität jetzt nicht preisgeben. Zu viel steht auf dem Spiel. Voldemort darf nicht den geringsten Verdacht schöpfen, dann wird der Stein bald in unserer Hand sein.“
„Dann wird er … sie … Kinder töten … um Voldemort zu täuschen? Ist das ein besserer Beweggrund als ihn die anderen Todesser haben?“
Jetzt ergriff Severus das Wort. Seine Stimme klang hart: „Manchmal ist es nicht leicht abzuwägen, wie weit man gehen darf. Hätte ich damals nicht Schwäche gezeigt ...“
„Schwäche? Hast du gerade Schwäche gesagt? Was meinst du?“
Severus schwieg betroffen. Doch Lily war schnell klar, was genau er meinte.
„Das glaubst du nicht im Ernst! Er war keine Schwäche, sondern Stärke, dass du Petunia verschont hast! In dieser Situation das Richtige zu tun, war mutig!“
„Es freut mich, dass du es mutig fandest, doch war es wirklich das Richtige? Vielleicht wäre alles anders gekommen? Voldemort hätte nicht meinen Körper besetzt und ich könnte noch immer Spion sein...“
„Oh ja, das wär' so richtig klasse!“, giftete Lily zurück.
Doch Severus fuhr unbeirrt fort: „Vielleicht es nie so weit gekommen wie jetzt. Vielleicht hätten wir längst ...“
„Vielleicht – vielleicht auch nicht“, unterbrach ihn Lily erneut. „Vielleicht hättest du auch nicht mehr erreicht als dieser andere Spion. So hast du jedenfalls nicht den Mord an meiner Schwester auf dein Gewissen geladen.“
„Lily – manchmal ist es nicht leicht zwischen dem richtigen und dem falschen Weg zu unterscheiden“, mischte sich nun Albus ein. „Für das größere Wohl muss manchmal ...“
„Aha! Da ist es wieder – das größere Wohl! Weißt du, dass ich von deinem schrecklichen größeren Wohl nichts hören will! Absolut nichts! Gar nichts!“
„Lily. Ich werde nicht von dir erwarten, dass du Harry opferst“, sagte Albus leise, „obwohl es ein Weg wäre, um Voldemort zu besiegen und all das enden zu lassen.“
„Böses kann nicht durch Böses überwunden werden, sondern nur durch Gutes! Du bist doch sonst immer der Meinung, dass die Liebe über allem steht.“
„Hoffen wir es“, erwiderte Albus.
Bevor sie aufbrachen, gab es ein Ordenstreffen. Dabei machten Spekulationen um dem Spion wilder denn je die Runde. War es Cassiopeia Black, Narcissa Malfoy – die allerdings lange Zeit in Askaban gesessen hatte – Barty Crouch oder jemand, den sie so gar nicht auf der Rechnung hatten? Walden Macnair, zum Beispiel.
„Bevor ich glaube, dass Macnair auf unserer Seite ist, löse ich Barnabas den Bekloppten ab und bringe Trollen Ballett bei“, schnaubte Severus ärgerlich. Hagrid nickte. „Jemand, der all die lieben Tiere so behandelt, kann nich gut sein!“
Peter war es auch nicht. Er hatte Lily gegenüber seine wahre Gesinnung deutlich gezeigt. Doch jede andere Alternative erschien ebenso unwahrscheinlich.
***
Die Angriffe liefen diesmal tatsächlich völlig anders als zu Jahresbeginn. Die Ordensmitglieder hatten Schwierigkeiten ihre Gegner überhaupt wahrzunehmen, da diese mit Desillusionierungszauber verborgen, ganz plötzlich die Kinder beim Essen angriffen. Und zwar nur die Kinder. Die völlig verschreckten Eltern erlebten nur, wie ihr Nachwuchs plötzlich einen „Anfall“ bekam, röchelte, zuckte und verstarb. Jedesmal versuchten die Eltern verzweifelt, ihren kleinen Sohn oder ihre Tochter zu retten, doch es war zu spät. Kein Notarzt konnte mehr helfen. Unzählige Male musste die ebenfalls unsichtbare Lily Tränen, Verzweiflung und Trauer mitansehen, doch nie schaffte sie es, rechtzeitig einen Todesser zu entdecken oder ein Kind wirkungsvoll zu schützen oder zu retten. Es waren völlig unbekannte schwarzmagische Flüche, die jeden Schutzzauber durchdrangen.
Die Muggel schoben die Schuld jedesmal auf des Essen und glaubten es sei vergiftet gewesen oder das Kind habe sich tragisch verschluckt.
Am nächsten Tag waren die Muggelzeitungen voll von dem rätselhaften Essensskandal.
Vom Zahnarztehepaar bis zum Milchmann gingen die Todesfälle durch alle Schichten und bei der Suche nach einem Zusammenhang stand der Untersuchungsausschuss der Muggel vor einem Rätsel.
Die Tragödie bei der Zahnarztfamilie hatte Lily selbst miterlebt. Und nun – wieder zurück in Hogwarts, in Sicherheit – sah sie immer die Mutter vor sich, die mit leeren Augen in die Luft stierte und ihr lebloses dreijähriges Mädchen mit den braunen Locken auf dem Schoß hin und her wiegte.
So viele Kinderleben sinnlos geopfert. Nur weil sie sich an das eine klammerte. Hätte sie loslassen können, hätten all diese Kinder nicht sterben müssen. Der Avada Kedavra war, soweit sie wusste, schmerzlos – Harry würde nicht leiden, nur sie selbst würde einen unerträglichen Schmerz auf sich laden. Eine Schuld, mit der sie nicht weiterleben konnte. Aber sie konnte auch nicht weiterhin das Leid so vieler anderer verschulden. Sie sackte in sich zusammen und weinte bis sie sich völlig leer fühlte.
Als sie wieder aufblickte, sah sie eine Person neben sich stehen, die sie niemals hier im Raum der Wünsche erwartet hätte: Barty Crouch, junior.
Ein Jahr lang hatte sie ihn nicht mehr gesehen und er hatte sich verändert: Er war erwachsen geworden.
„Wie kommst du hier herein? Und wo sind die andern? Was willst du?“
„Dumbledore hat alle in den Hogshead gelockt. Er wollte, dass wir allein reden.“
„Albus wollte das?“, fragte Lily scharf. „Ich glaube kein Wort davon!“
„Mrs. Potter, … ähm, Verzeihung … Mrs. Snape, ich ...“
„Schlammblut reicht völlig als Anrede. Du brauchst dich nicht verstellen!“, fuhr sie ihn an.
„Ich hätte das nicht sagen sollen, damals. Wirklich. Meine Mutter hat mir das klargemacht.“
„Oh, tatsächlich“, gab Lily ironisch zurück. „Richte Mummy meinen Dank aus.“
„Sie ist tot. Sie war sehr krank.“
„Tut mir leid. Ich meine, tut mir leid für sie, nicht für dich! Damit wir uns nicht falsch verstehen!“
„Mrs. Snape – Sie haben ein völlig falsches Bild von mir. Wirklich. Ich wollte aufhören – wirklich. Nachdem mir richtig klargeworden war, was Sie und vor allem Mr. Snape für mich getan hatten, wollte ich aussteigen. Aber Dumbledore hat mich gebeten, die Rolle weiterzuspielen. Nur zum Schein.“
„Du warst der Spion?“, sagte Lily. „Du? Wir haben es ein paarmal vermutet, aber ich konnte es nie wirklich glauben. Und ich glaube dir auch jetzt nicht, dass du wirklich auf unserer Seite stehst!“
„Aber es stimmt.“
„Wie viele Kinder hast du heute Nacht getötet?“, fragte Lily hart.
Barty schwieg.
„Wie viele?“
„Ich … ich durfte meine Tarnung nicht verlieren! Ich ...“
„Und es waren ja ohnehin nur Schlammblute!“
„Nein. So denke ich nicht mehr!“
„Wie viele? Bevor du mir diese Frage nicht beantwortet hast, werde ich dir nicht weiter zuhören.“
„Zwei“, antwortete er leise und zitterte. „Der eine Junge hieß Justin und der andere ...“ Er schluckte und seine Stimme erstarb.
Zwei Kinder ermordet. Aus taktischen Gründen. Doch so sehr sie ihn auch dafür verachtete, die Antwort bewirkte tatsächlich, dass sie ihm glaubte.
„Und jetzt?“, wollte sie wissen.
„Ich werde Harry mitnehmen und ihn zum Dunklen Lord bringen. Damit es aufhört. Ich weiß über die Horkruxe Bescheid. Auch über den letzten.“
Lily hatte keinen Grund, diese Aussage anzuzweifeln.
„Der dunkle Lord will sich endlich einen richtigen neuen Körper erschaffen. Damit er den Stein nicht mehr benötigt. Dazu braucht er Harrys Blut. Dumbledore meint, dass dann ...“
„Ich will es gar nicht wissen!“, unterbrach Lily ihn. „Wo ist Harry? Ist er hier oder bei den anderen? Ich will mich verabschieden“, sagte sie dann und ihre Stimme klang matt und teilnahmslos.
„Sie … Sie geben ihn mir mit ? Einfach so? Das … das glaube ich jetzt nicht“, stotterte Barty. „Er sitzt da vorne und spielt.“
„Bitte hol ihn her, bevor ich es mir anders überlege.“
Bald hielt sie Harry in den Armen und wiegte ihn ihn und her, genauso wie die Muggelmutter ihr Mädchen heute Nacht. „Ich habe dich so lieb, mein Schatz!“, flüsterte sie unter Tränen. Dann murmelte sie einen Zauberspruch, der Harry in tiefe Bewusstlosigkeit versetzte. Doch sie übergab ihn noch nicht an den wartenden Barty., sondern strich ihm über die dunklen Strubbelhaare. „Harry. Mein kleiner Junge. Ich weiß noch, wie du geboren wurdest, da hattest du schon die vielen schwarzen Haare, ich weiß noch, wie ich erfahren habe, dass ich ein Kind haben werde. Und wie ich zum ersten Mal deine Bewegungen im Bauch gespürt habe. Wie dein erster Zahn durchbrach, wie du deine ersten Schritte gemacht hast, wie du auf dem Besen herumgeflogen bist … ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg! Ich wünschte, ich könnte an deiner Stelle gehen. Ich würde mich auf jede erdenkliche Art foltern und töten lassen, wenn ich damit das vermeiden könnte, was ich jetzt tue. Verzeih mir, Harry. Verzeih mir, James!“
Sie küsste ihren Jungen zum Abschied, dann legte sie ihn in Bartys Arme.
„Versprich mir, dass er nicht wach wird! Versprich mir, dass er nicht leiden wird!“
„Das verspreche ich“, erwiderte Barty, der ebenfalls heftig schluckte. „Ich … habe großen Respekt vor Ihnen, Mrs. Snape.“
„Verachte mich lieber“, sagte Lily.
***
„Du hast … WAAAAS?“, brüllte Severus sie an, als er zurück war. „Hast du den Verstand verloren? Hat er dich verhext? Ich dachte du kannst den Imperius abschütteln! Wie kannst du nur? Ich dachte, du würdest es unter keinen Umständen tun! Muss ausgerechnet ich – ausgerechnet ich! - dich daran erinnern, was sein Vater für Harry getan hat? James hat sein Leben für den Jungen gegeben und du wirfst es einfach weg?“
Lily schüttelte nur stumm den Kopf. Sie war nicht in der Lage etwas zu antworten. Sie war wie in Trance und die Worte drangen kaum zu ihr vor.
„Severus“, sagte Albus vorsichtig, „Barty ist auf unserer Seite. Ich habe ihn...“
„Du hast ihn beauftragt, ja? Hast du vergessen, wie oft du versprochen hast, dass du es nicht von Lily verlangst? Dass du angeblich einen anderen Weg hast? Waren das alles Lügen?“
„Nein. Severus ...“
„Und habt ihr eigentlich alle die Prophezeiung vergessen? Die neue? Wenn Harry stirbt, ist alles aus.“
„Voldemort wird ihn vielleicht gar nicht töten“, sagte Albus und zum ersten Mal blickte Lily auf.
„Warum“, gab Severus zurück, „etwa, weil er so nett ist und Kinder so gern hat?“
„Nein, weil er für den neuen Körper nur ein paar wenige Tropfen braucht. Und wenn er danach versucht, Harry zu töten, wird es nicht gelingen, weil ...“
„Ach … und was macht dich so sicher, dass er sich auf wenige Tropfen beschränkt, alter Narr?“, zischte Severus zynisch. „Wo es doch viel mehr Spaß macht, das Blut richtig spritzen zu lassen?!“
Lily schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Wieso sollten wir überhaupt zulassen, dass Voldemort sich einen neuen Körper erschafft? War es nicht unser Plan, ihm den Stein der Weisen zu entwenden, bevor es soweit kommt? Ich werde Harry zurückholen“, sagte Severus und wollte davonstürmen, ohne weiter auf Albus zu achten.
„Wird aber nich leicht sein, die zu find'n“, wandte Hagrid ein.
Doch Severus hob nur leicht seinen linken Unterarm an. „Es funktioniert noch“, erklärte er bitter.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel