von Ithelia
Des Messers Ringe
Fliegen war wirklich eine seltsame Sache, überlegte Elodea, während unter ihr die Landschaft dahinsauste. Erst um die Mittagszeit hatte Neil sie an diesem Tag aus dem Bett geschmissen, um ihr ein wenig spät zu erklären, dass sie eine Bekannte der Großeltern besuchen würden. Denn es war keine Selbstverständlichkeit, sich mit einem Besen sicher und schnell von A nach B zu bewegen, wie sie feststellen musste, als sie in den von Nebel verhüllten Matsch fiel.
Die Sonne stand im Zenit, als sie zur Landung ansetzten und in einem kleinen Waldstück nahe dem Dorf zu Boden gingen. „Lumos.“, murmelte die Gruppe im Chor und sieben Zauberstäbe begannen den schattigen Waldboden mit kleinen Lichtkegeln zu erleuchten.
Nach vielleicht zehn Minuten Fußmarsch erreichten sie die um das Dorf gelegenen Weizen- und Rübenfelder und schon bald standen sie in einem kleinen Vorgarten in einer Nebenstraße vor einem windschiefen Bruchsteinhaus. Aus der Tür trat eine alte Dame in einen zyanitblauen Umhang gewandet, das grauweiße Haar zum Zopf geflochten. Kurz musterte sie die Gruppe und nickte.
Ohne ein weiteres Wort traten sie ein und wurden ins winzige Wohnzimmer geführt. Mrs. Bagshot holte sogleich Kaffee und Gebäck. Ein Wink mit dem Zauberstab und die Fensterläden verbargen die Versammelten vor neugierigen Blicken. Immer noch stehend, da die Sofagarnitur nie genug Platz geboten hätte, trank jeder von ihnen schweigend die erste Tasse.
Dann erhob Mrs. Bagshot ihre etwas krächzige aber nichts desto trotz kräftige Stimme und forderte: „Ihr Kinder müsst eine Weile hier bleiben und euch Gedulden aber Daniel und Gayane sind auch da, die schicke ich gleich zu euch.“, dann erklärte sie den Erwachsenen zugewandt, „Die meisten sind bereits eingetroffen. Wir freuen uns sehr, dass ihr auch hier seid.
Schon waren Eltern und Großeltern Mrs. Bagshot gefolgt. Ziemlich ratlos saßen die vier Kinder noch dort, als sich schon wieder die Tür öffnete. Bei den beiden Elfjährigen handelte es sich zweifellos wie angekündigt um noch zwei, die man rausgeschmissen hatte.
Das rotblonde, sommersprossige Mädchen, welches sich auch sogleich murmelnd als Gayane vorstellte, verzog sich schüchtern zu Oliver in die Sesselkissen, ließ ihre hüftlangen glatten Haare vorhangartig über Großteile ihres Gesichtes fallen und musterte sie alle mit ihren babyblauen Augen eindringlich.
Unter großem Hallo folgte Daniel ihr. Dem hätte es zweifellos gut getan ihr ein klein Wenig seines extrovertierten Wesens abzugeben. Hatte er mit seinem dunkelbraunen Lockenwust und leichten Übergewicht bei einer gleichzeitig rätselhaft in die Länge gezogenen Statur äußerlich nicht all zu viel mit Neil gemeinsam, reichte doch sein überbreites, gleich mehrere Hauteinfaltungen um die Mundwinkel schlagendes Lächeln und die Beiden hatten ihre Seelenverwandtschaft entdeckt. Da sich ihm keine freie Sitzgelegenheit bot legte er sich einfach quer über Matt, Neil und Elodea, die er bereits von ihren Oberschenkeln aus braunäugig angrinste, ehe die freundlich Bitte, ihm diesen Ehrenplatz zu gewähren ganz ausgesprochen war.
Zweifellos war es die Überraschung gewesen, die Elodea zwei Sekunden hatte inne halten lassen. Schließlich hatte er das ja nicht ernst meinen können! Ein weiterer Moment verstrich und der Neuankömmling fand sich auf dem flauschig weichen weißen Wohnzimmerteppich wieder.
„Oh.“, war das Einzige, was ihm dazu einfiel. Noch etwas verwirrt rappelte er sich auf und sah Elodea vorwurfsvoll an: „Hey, was war das denn gerade?“
Die Arme vor der Brust verschränkt verkündete sie in leicht herablassendem Tonfall: „Es behagt mir nicht, wenn man mir derart auf die Pelle rückt, weißt du?“
Im Schneidersitz ließ er sich nieder und lehnte sich gegen ihre Beine, was ihm sogleich einen Klaps auf den Hinterkopf einbrachte. Aber abgesehen von leisem Protest bewirkte es überhaupt nichts und als wäre das noch nicht genug, schien Neil das Ganze zum Schreien komisch zu finden. „Verräter.“, raunte Elodea ihm zu. Ein silberhelles Kichern erklang aus den Untiefen des Sessels.
Den Kopf leicht schief gelegt meinte sie: „Sei vorsichtig, Daniel, sonst tritt sie dir vielleicht noch ins Gesicht. Das würde zumindest ich tun, wenn ich an Elodeas Stelle wäre.“
Ebendiese erwiderte auch sogleich: „Danke, Gayane. Das war die best Idee seit langem hier.“, und begann ihren Fuß mit zahlreichen Verrenkungen direkt vor sein Gesicht zu bewegen.
Daniel beäugte dieses vor ihm hängende Bein, schnappte es sich und begann es zu betasten. Sogleich entzog Elodea es seinem Griff. Breit grinsend erkundigte er sich: „Was ist, Kleines? Willst du, dass ich an deinen Zehnen nuckle?“ Und unter lautem Protestgeschrei und einer Menge Verwünschungen begann er sie zu kitzeln.
Er hätte es besser wissen sollen. Es war sein erster Gedanke, als sie einfach zutrat und es verdächtig knackte. Blut floss unaufhaltsam aus seiner angebrochenen Nase und einer seiner Zähne hing ziemlich locker in seinem Mund.
„Ups.“, entfuhr es Elodea. „Tschuldigung, war echt keine Absicht.“
Die übrigen Beteiligten schwiegen zu dieser Erkenntnis einmütig. Und so war es an Elodea, ihr kleines Missgeschick wieder in Ordnung zu bringen: Sie beugte sich vorsichtig zu dem geschockt wirkenden Jungen herab und erklärte: „Gut, das müsste schnell wieder zu richten sein.“
Offenbar drangen neue Informationen nur noch im Minutentakt in sein Gehirn, denn sonst hätte Daniel sich zweifellos gewehrt, als sie seine Nase zurechtbog und die Bruchstücke wieder zusammenfügte. Schnell saß auch der Zahn wieder dort, wo er hingehörte – fest wie eh und je.
Den Mund zu einem bitterschiefen Grinsen verzogen folgerte er: „Ah, so ist das also. Sie treffen sich wegen dir. Hätt ich mir ja denken können.“
Schlagartig kippte die Stimmung im Raum, denn er hatte seine Vermutung einer Anklage gleich ausgesprochen. Ohne ersichtlichen Grund musterte er die Anderen mit vor der Brust verschränkten Armen.
„Leider sind wir nicht alle so unglaublich schlau, also red mal Klartext. Hast du etwa was gegen sie?“, fragte Neil ihn aufgebracht und enttäuscht, während er seinen Rücken malträtierte. Dieser wehrte sich entsprechend und die beiden begannen sich zu kabbeln.
Elodea seufzte und zog sie energisch auseinender. Noch etwas außer Atem erklärte sie: „Jetzt macht mal halblang. Selbst wenn sie sich wegen mir treffen, bin ich – wie ihr alle sehen könnt – nicht eingeladen. Außerdem glaube ich eher, sie beraten über die gesamte Situation. Gibt ja noch mehr Leute, die ohne Zauberstab halbwegs brauchbare Magie zustande bringen.“
„Denkst du? Ich glaube sowieso, dass solche Geschichten totaler Humbug sind, du Huhn.“, verkündete Daniel gespielt skeptisch. Mit einem entschuldigenden Grinsen stimmte er die übrige Meute wieder gnädig – außer einer natürlich.
„Hat er mich gerade Huhn genannt?“, verhörte Elodea aufgebracht die Zeugen.
Auf Gayanes knappes Nicken hin erklärte er kleinlaut: „Ist ja gut – Hühnchen.“
Ohne eine Miene zu verzeihen beugte sie sich falsch herum über ihn. „Soll das Hünchen dir dein Näschen wieder brechen oder merkst du auch so den absolut humbugmäßigen Placeboeffekt, den ich mit meinen verlogen erdichteten Zauberkräften erzielt habe?“
Nun entfernte er sich fluchtartig aus ihrer Reichweite. „Tschuldigung, war nicht so gemeint Kleines. Es ist nur einfach ein wenig…ungewöhnlich, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Na schönen Dank auch. Aber das ist ja auch egal. Was besprechen die also?“, überlegte Elodea, die keine Lust hatte sich weiter mit ihm zu streiten.
Väterlich klopfte Neil auf ihren Rücken und erklärte: „Ich denke, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden…“
Und so saßen sie seit gut fünf Minuten vor der offenbar durch Zauber geschützte Tür, denn nur ein undefinierbares Surren war aus dem Inneren des Raumes zu hören.
„Kannst du nichts dagegen machen?“, drängte Oliver Matt, der bereits mit seinem Zauberstab versuchte, die Küchentür zu bearbeiten. Mit konzentrierter Mine stocherte er im Schloss herum.
„Daniel?“, fragte Elodea erschrocken, als sie feststellte, dass dieser hinter ihr zusammengebrochen war. Gayane versuchte bereits ihn wieder aufzuhieven, brach jedoch unter seinem Gewicht zusammen. Ungeachtet der versammelten Erwachsenen, die sie zweifellos erwischen würden ging nun auch Neil mit erhobener Stimme auf ihn ein: „Ganz ruhig, ich hole…“
Doch Daniel öffnete bereits wieder seine Augen. Verwirrt blickte er ins Leere und begann unter heftigen Zuckungen seltsam krächzende Laute auszustoßen. Nach vielleicht einer Minute war er wieder vollkommen ruhig und lag nur da. Alle dachten der Anfall wäre vorüber und zuckten umso heftiger zusammen, als er in ebenjenem krächzenden Ton zu sprechen begann:
„In der dritten Dekade am Siegestag
Werden sich die Bande Zweier lösen,
die schworen ein Erdengebundenes zu vernichten,
von zweien, die doch ein Gleiches sind.
So wird der Sieger leben,
wie jenes Zweite; und Dritte im Bunde zugleich.
Denn siegen wird und fortbestehen
durch die Tränen des Heils
das Messer,
vom Blute des Messers
geknechtet das Ganze zu trennen,
in beide Teile.
Und wird zu zweien zerstören
Und tilgen Zeugnis
innerster Verdorbenheit.
In der dritten Dekade am Siegestag,
Werden des Messers Ringe
Gebrochen im Lichte eines vollkommenen, makellosen,
ganzen Seins.“
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