von ratterhorpy
Der unbekannte Patronus
Neville blieb fast das Herz stehen, weil er Hannah nicht sah. Er brauchte einen Moment um zu erkennen, das sie auf der anderen Seite des Turmes sein musste. Hastig wollte er auf die andere Seite eilen, landete aber schon nach dem ersten Schritt auf dem Hintern. Eine dünne Eisschicht hatte sich auf dem Boden gebildet, stellte Neville verwundert fest. So kalt war es doch gar nicht gewesen.
Doch die Betonung lag auf war. Neville konnte auf die Schnelle nur eine Erklärung finden. Er schaute nach oben und sah, wie er schon erwartet hatte, einen Dementor über dem Turm kreisen.
Das war genau das, was Hannah als allerletztes gebrauchen könnte. Das dieser Dementor ihr noch den letzten Rest Lebensmut nehmen würde. Während Neville über das dünne Eis schlitterte, versuchte er einen Patronus herauf zu beschwören. Doch er konnte keinen glücklichen Gedanken fassen. Es war nicht der Heiler, den er vor sich sah, sondern es war Hannah. Hannah, die vom Astronomieturm stürzte.
Neville hatte das Geländer erreicht und hangelte sich um die Plattform herum. Als er Hannah sah, wurden ihm vor Erleichterung beinahe die Knie weich. Sie war noch da! Zwar stand sie immer noch auf der falschen Seite des Geländers, aber zu erst zählte nur, das sie nicht gesprungen war.
Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, näherte sich Neville dem weinenden Mädchen.
„Hannah, bitte!“ flehte Neville. „Mach das nicht!“
Hannah schaute über ihre Schulter.
„Bleib wo Du bist! Komm nicht näher!“ schrie sie verzweifelt.
Neville hob beschwichtigend die Hände. „Ich bleibe hier, keine Angst!“
„Lass mich in Ruhe, geh weg!“
„Nein!“ sagte Neville und versuchte dabei möglichst ruhig zu klingen. „Ich lasse Dich nicht alleine!“
„Was weist Du schon?“ schluchzte Hannah auf.
„Ich denke mal, mehr als Du ahnst!“ antwortete Neville.
Das Geländer, an dem er sich festhielt, war sehr kalt. Neville hoffte inständig, das Hannah sich weiter festhalten konnte und ihre Hände nicht so kalt wurden, das sie die Kraft verloren. Als er vom Turm hinunter schaute, wurde ihm beinahe schwindelig. Es war so weit, bis zum Boden. Es hatte sich auch eine kleine Gruppe Leute gebildet, die neugierig nach oben schaute. Auf der einen Seite wünschte sich Neville, das diese Leute verschwanden, aber er konnte sich auch noch dunkel erinnern, als Harry im dritten Schuljahr vom Besen gefallen war und Dumbledore seinen Sturz verlangsamt hatte. Damals hatte er das für selbstverständlich angesehen, aber heute wünschte er sich, er hätte sich erkundigt, welchen Zauber der Direktor damals benutzt hatte. Hoffentlich kannte einer von denen da unten den Zauber. Es war schrecklich, so hilflos zu sein.
Ein schemenhaftes silbernes Tier stieg aus der Gruppe auf, wenigstens versuchten die da unten etwas gegen den Dementor zu tun. Es war jedoch kein besonders starker Patronus, der Dementor zog sich zurück, aber nicht all zu weit.
„Hannah, bitte, erzählst Du mir warum?“ fragte Neville.
„Warum was?“ schluchzte Hannah.
Neville sah, wie sich der Patronus auflöste. Er blickte nach oben, wo sich der Dementor wieder näherte. Scheinbar genüsslich drehte er wieder seine Kreise über dem Astronomieturm. Eigentlich komisch, fand Neville. Hier war doch nirgends Glück, das den Dementor anlocken konnte. Die nächsten Ereignisse liefen zu schnell ab, als das Neville hätte darüber nachdenken können. Hannah lehnte sich nach vorne. Neville stürzte auf sie zu. Sie berührte nur noch mit den Fingerspitzen das Geländer als Neville versuchte zu zupacken.
Im gleichen Moment kam von irgendwo her ein gestaltlicher Patronus, eine silberne Hirschkuh, die den Dementor in die Flucht trieb.
Ein Stockwerk tiefer, was auf dem oberen Plateau niemand mitbekam, zog Susan gerade ihren Zauberstab und schockte die kichernde Pansy Parkinson, weil die soeben fröhlich verkündet hatte, man sei wahrscheinlich eines dieser dummen Halbblüter los.
Neville krallte sich in Hannahs Ärmel. Sie stand zwar noch mit den Füßen auf dem Rand der Plattform, hing aber mit dem Oberkörper über dem Abgrund und wurde nur noch von Neville gehalten. Vorsichtig, damit ihre Füße den Halt nicht verloren, zog Neville Hannah an sich. Schließlich fand Hannah ihr Gleichgewicht wieder und kletterte, mit der Hilfe von Neville vorsichtig auf die sichere Seite des Geländers.
Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, riss Neville sie in eine Umarmung. Er konnte gar nicht anders, das musste einfach sein.
„Was machst Du bloß?“ flüsterte er in ihre Haare.
„Ich wollte das doch gar nicht!“ jammerte Hannah und fing an herzerweichend zu weinen.
Neville konnte und wollte gar nichts anderes tun, als sie im Arm zu halten. Behutsam streichelte er Hannahs Rücken.
„Ich hatte solche Angst um Dich!“ sagte Neville.
Hannah hob den Kopf. „Um mich?“ fragte sie verwundert.
„Natürlich um Dich!“ sagte Neville und wischte ihr ein paar Tränen von der Wange.
„Das solltest Du nicht tun!“ sagte sie, als sie ein paar Schritte zurückwich. Sie berührte ihre Wange, dort wo er ihre Tränen weggewischt hatte.
„Lauf doch nicht schon wieder weg!“ bat Neville.
„Neville! Ich bin hier her gekommen, weil ich alleine sein wollte. Dann kam dieser blöde Dementor. Plötzlich habe ich da draußen gestanden!“ sagte sie und wies auf das Geländer. „Ich will hier weg!“
„Gut, dann komme ich mit Dir!“
Hannah biss sich auf die Unterlippe. „Lieber nicht!“
Vorsichtig versuchte Neville Hannahs Hand zu nehmen, was Hannah veranlasste wieder ein paar Schritte zurück zu weichen.
„Hannah, bitte...“ flehte Neville.
Doch bevor er etwas weiteres sagen konnte, herrschte Tumult an der anderen Seite des Podestes. Professor Sprout versuchte sich an Susan vorbei zu drängeln, die sich ihrer Hauslehrerin in den Weg gestellt hatte.
„Oh Merlin sei Dank, Miss Abott!“ rief Professor Sprout aus, als sie Hannah entdeckte. Sie schob sich endgültig an Susan vorbei und lief auf ihre Schülerin zu.
„Was machen sie denn für Sachen?“ rief sie aus, während sie Hannah in eine mütterliche Umarmung zog.
„Professor Sprout, lassen Sie mich bitte los!“ wehrte sich Hannah und kämpfte sich frei. Kaum hatte sie wieder ihre volle Bewegungsfreiheit, lief sie durch Türe, die zu den Treppen führte.
„Warten sie doch, Miss Abott!“ rief Professor Sprout dem Mädchen hinterher und setzte sich ebenfalls in die gleiche Richtung in Bewegung.
Neville wollte ebenfalls Hannah folgen, doch Susan hielt ihn zurück.
„Lass es Professor Sprout versuchen. Ich bin bei ihr gescheitert. Ich hatte für einen Moment geglaubt, Du hättest mehr Chancen, aber das war wohl auch nicht so.“ sagte Susan.
„Ja!“ sagte Neville, wenig überzeugt. Hoffen wir das Beste. Ich will doch nur, das es ihr besser geht!“
„Du magst sie wirklich sehr?“ fragte Susan mit dem Hauch eines Lächelns.
Neville nickte verlegen. Susan klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern.
„Komm jetzt hier runter. Das wird schon wieder!“
Gemeinsam fingen sie an, die Treppen hinunter zu steigen, aber bereits nach den ersten Stufen wurde Susan langsamer und sah sich suchend um.
„Was ist los?“ fragte Neville.
„Ich habe hier eben Pansy Parkinson geschockt!“ erklärte Susan, als sie auf eine unscheinbare Holztüre zuging.
„Was?“ fragte Neville.
„Du kannst Dir nicht vorstellen, was sie gesagt hatte!“ meinte Susan, als sie die Türe öffnete.
Susan trat ein, gefolgt von Neville.
„Was denn?“
Doch Susan antwortete nicht. Sie sah sich in dem kleinen Raum um. Grüne Kissen waren auf dem Boden verteilt und an einer der Wände war eine Fahne mit dem Slytherinwappen befestigt. Nicht nur leere Butterbierflaschen lagen dort herum, sondern auch eine leere Flasche Feuerwhisky. Ein Karton, in dem noch unzählige leere Verpackungen von Süßigkeiten herumlagen, stand in der Mitte des kleinen Raumes.
„Sieht ganz nach einer Party aus!“, murmelte Susan.
„Das macht Sinn!“ überlegte Neville. „Ich hatte mir schon überlegt, was der Dementor da oben wollte. Hannah war...“ Er korrigierte sich. „Hannah ist nicht in der Stimmung, die einen Dementor anlocken würde. Aber eine Party, direkt unten drunter...“
„Die feiern hier eine Party, während Hannah da oben steht und sich...“ sagte Susan stockend.
„Nein!“ unterbrach Neville sie. „Das war der Dementor! Sie wollte sich nichts antun!“
„Ich hoffe nur, das Du Recht hast!“ meinte Susan.
„Sie hat es selbst gesagt!“
Susan atmete erleichtert durch.
„Gut!“ sagte sie. „Wie geht es eigentlich Seamus?“
An den hatte Neville in der letzten halben Stunde überhaupt nicht gedacht.
„Ich wollte nach dem Mittagessen nach ihm sehen!“
„Na, dann mal los, sonst verpasst Du noch das Essen!“ sagte Susan und hakte sich bei Neville unter.
„Sag mal Susan, findest Du das klug?“ fragte Neville, als Susan ihn die Treppen hinunter zog.
„Was?“
„Zusammen mit mir so vom Astronomieturm zu kommen!“ grinste Neville.
Susan schaute verblüfft und lachte kurz danach laut auf.
„Ein Schelm ist, wer falsches dabei denkt!“
Es war in diesem Jahr häufiger als sonst vorgekommen, das in der großen Halle großer Trubel herrschte und heftig diskutiert wurde. Natürlich hatte Luna auch von der Sache mit Hannah gehört, aber wie es schien, hatte sich das Problem vorerst gelöst. Luna hatte Hannah gesehen, als sie auf dem Weg zum Mittagessen war. Gemeinsam mit Professor Sprout war Hannah ihr auf der Treppe entgegengekommen. Normalerweise hätte Luna versucht, sich nach Hannah zu erkundigen. Betrachtete man den Hufflepufftisch, versuchten die Schüler dort genau das selbe. Doch der Hufflepufftisch war nicht der einzige, an dem große Aufregung herrschte. Auch an ihrem eigenen Tisch wurde heftig und sorgenvoll spekuliert. Anthony Goldstein war verschwunden, seit der Professor ihn nach der Unterrichtsstunde in Dunkle Künste gebeten hatte, noch zurück zu bleiben. Natürlich seien sie darüber beunruhigt gewesen, so hatte Terry Boot erzählt, aber wirklich Sorgen machte man sich, als er in der folgenden Unterrichtsstunde nicht erschienen war. Die Siebtklässler waren daraufhin zu Professor Flittwick gegangen. Der hatte mit ernster Miene verkündet, er werde sich darum kümmern.
Jetzt saßen die Schüler des Hauses Ravenclaw beim Mittagessen und nicht nur von Anthony fehlte jede Spur. Auch Professor Flittwick war nicht da.
„Terry?“ sprach Luna den Jungen an, der ihr gegenüber saß. „Hast Du irgendeine Ahnung, warum Anthony zurück bleiben sollte?“
„Er hat nichts angestellt! Und wenn, das wäre doch Flittwicks Sache gewesen!“ sagte Terry.
„Wie ist denn die Unterrichtstunde gelaufen? Hat es da etwas gegeben?“
„Da war alles normal!“ antwortete Terry ratlos.
„Vielleicht wollte Carrow etwas von ihm wissen?“ überlegte Luna. „Nach seinen Befragungen waren einige Schüler im Krankenflügel!“
„Da ist er nicht! Sonst würde Seine Mutter sich ja nicht so aufregen!“
„Moment!“ sagte Luna verblüfft. „Was ist mit seiner Mutter?“
„Sie ist beim Direktor! Sie ist direkt hier her gekommen und macht sich natürlich fürchterliche Sorgen!“
„Stopp! Findest Du das nicht seltsam?“ fragte Luna.
„Das seine Mutter besorgt ist?“
„Nein!“ winkte Luna ab. „Nicht das! Natürlich ist sie besorgt. Aber Anthony ist gerade einmal drei, vier Stunden weg und schon sind seine Eltern informiert und sie sind hier!“
Terry schaute nachdenklich auf die Tischplatte.
„Jetzt wo Du es sagst, ist das schon merkwürdig. Er hätte ja auch einfach schwänzen können. Das ging viel zu schnell!“ sagte er.
„Wir sollten vielleicht die DA zusammen trommeln.“ sagte Luna. „Vielleicht können wir ja etwas tun!“
„Was denn?“ fragte Terry in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Verzweiflung.
„Sehen ob irgendjemand mehr weiß, oder jemand eine Idee hat was wir tun können.“
„Redest Du mit Neville?“ fragte Terry.
„Mach ich sofort!“ sagte Luna und sprang auf, obwohl sie schon ahnte, das Neville im Augenblick noch ganz andere Sorgen hatte.
Doch für Luna war klar, sie würde für jedes einzelne Mitglied der DA einstehen. Das galt sowohl für Anthony, als auch für Hannah.
Auf dem Weg zum Gryffindortisch kam Neville ihr schon entgegen.
„Neville, wir müssen reden!“ versuchte Luna Neville zu stoppen.
„Ich habe wenig Zeit! Wenn Du was willst, musst Du mitkommen und es mir unterwegs erzählen!“
„Hast Du von Anthony gehört?“
„Nein, keine Ahnung wovon du redest! Hannah wäre beinahe vom Astronomieturm gesprungen, Seamus ist durch meine Tollpatschigkeit im Krankenflügel gelandet, aber ich habe keine Ahnung was mit Anthony ist. Aber erzähl es ruhig. Schlimmer kann es ja gar nicht kommen!“ leierte Neville geradezu herunter.
„Er ist verschwunden, nachdem Amycus Carrow mit ihm reden wollte!“ sagte Luna und betrachtete Nevilles Mienenspiel.
Neville war stehen geblieben. Dunkel erinnerte er sich an den Moment, an dem Hannah heute Morgen am See vor ihm davon gelaufen war. Schon da hatte er über den Tag geflucht.
„Das wird allmählich zu viel!“ sagte Neville verzweifelt.
„Wegen Anthony könnten wir die DA zusammentrommeln, mal sehen ob da jemand eine Idee hat, was wir tun können und die DA kann auch etwas für Hannah tun!“ sagte Luna aufmunternd.
Neville sah auf. „Meinst Du? Was denn?“
„Hannah ist im Moment so voller Schmerz, Trauer und Wut. Sie weiß wahrscheinlich gar nicht, wie sie mit all den Gefühlen umgehen soll. Deshalb zieht sie sich zurück.“
„Sie redet mit niemanden. Nicht mit Susan, ihrer besten Freundin und mit mir auch nicht!“ sagte Neville.
„Sie hat womöglich Angst, sie könnte die Kontrolle über sich verlieren, wenn sie auch nur eines dieser Gefühle raus lassen würde.“
„Du meinst, sie glaubt, das dann alle Gefühle gleichzeitig herauskommen? Immer noch besser, wenn sie schreit und tobt und alles kurz und klein schlägt, als das sie vom Astronomieturm springt!“
„Sie braucht halt noch Zeit und Ruhe. Aber es ist besser, wenn man auf sie achtet. Wenn wir, die DA, da ein wenig zusammen halten, sind Du und Susan ein wenig entlastet.“
„Ich würde so gerne selbst etwas für Hannah tun!“ sagte Neville.
„Wenn sie so weit ist, wirst Du das auch tun!“ sagte Luna bestimmt. „Bis dahin musst Du genügend Geduld aufbringen und darfst Dir selbst nicht zu viel Druck machen!“
„Schön und gut, da bleibt mir nur zu warten, die Sache mit Seamus klären, ein DA Treffen zu organisieren und war da noch was? Ach ja, ein Schüler der zuletzt bei einem Todesser war, ist verschwunden. Das mach ich doch alles mit links!“ sagte Neville aufgebracht.
„Neville, nein.“ sagte Luna sanft. „Ich organisiere das Treffen! Ich werde mich darum kümmern. Ich wollte Dir nur Bescheid sagen! Geh Du zu Seamus und ich würde mich freuen, wenn Du zu dem Treffen kommst!“
Mittlerweile waren die Beiden an der Türe zum Krankenflügel angekommen. Neville lehnte sich an die Wand neben der Türe.
„Ich wollte mich nicht so aufregen!“ sagte Neville entschuldigend.
„Schon in Ordnung!“
„Nein, das ist es nicht. Wenn ich Dir helfen soll, sag es mir!“ sagte Neville.
„Ich werde Ginny um Hilfe bitten. Es ist höchste Zeit, das sie auf andere Gedanken kommt. Das Quidditchspiel hängt ihr immer noch nach. Damit muss langsam mal Schluss sein!“
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