von MIR
„Nehmen Sie doch Platz, bitte!“, forderte der Heiler sie auf, „Am besten hier auf dem Sessel.“
Annie folgte der Aufforderung und setzte sich.
„Was muss denn eigentlich noch gemacht werden?“, fragte sie, „Eigentlich fühle ich mich schon wieder ganz gesund!“
„Nun es ist... also... wir... ähm... machen normalerweise...“, druckste er herum, „es ist nur zur Sicherheit. Also zur Sicherheit der Zauberer. Verdammt! Ich sollte gar nicht darüber reden, sondern es einfach tun.“
Annie runzelte die Stirn. Die Sache kam ihr so langsam merkwürdig vor. Vielleicht sollte sie doch lieber ganz schnell hier verschwinden. - Andererseits hatte sie in den letzten Tage so viele nette Leute hier kennen gelernt und irgendwie Vertrauen zu den Zauberern gefasst.
„Was tun?“, fragte sie lauernd.
Blitzschnell hatte er seinen Zauberstab gezückt und richtete ihn auf sie: „Petrificus totalus!“, rief er und das Gefühl der Bewegungsunfähigkeit, das sie schon einmal erlebt hatte, breitete sich erneut in ihrem Körper aus. Die alte Panik stieg in ihr hoch.
„Es tut mir Leid, aber ich kann, ich darf dich einfach so nicht gehen lassen.“
Sie nahm den Wechsel in die vertraute Anrede kaum wahr.
„Ich werde dir vorher erklären was ich mache. Das bin ich dir schuldig. Aber ich darf nicht zulassen, dass du dann abhaust. Ich darf es einfach nicht.“
Sie hätte gerne etwas geantwortet, aber die Ganzkörperklammer legte auch die Sprachorgane lahm.
„Also, es ist so, dass Muggel nichts über uns erfahren dürfen.“
Das wusste sie schon von Mary.
„Es gibt sogar ein Gesetz dazu. Deshalb ist es so, dass wir bei Muggeln, die trotz aller Vorsicht etwas mitbekommen haben, das Gedächtnis verändern.“
Er hatte recht! Jetzt wäre sie sofort abgehauen, wenn sie gekonnt hätte.
„Keine Angst! Es verändert nicht deine Persönlichkeit oder so. Du wirst dich nur nicht an die letzten Tage erinnern können.“
In Annies Gedanken zog die kleine Maisie vorbei. Ihre Mutter. All die anderen Leute aus der Cafeteria und auch die traurigen Gestalten aus ihrer Abteilung. Die Heiler. Die ganze Welt der Zauberer. Dann fiel ihr Harry Potter ein. Seine wahre Geschichte. All das würde sie vergessen. Es würde ihr geraubt werden von einem Idioten, der in ihrem wehrlosen Zustand an ihr herumspielte. Sie würde nicht einmal mehr wissen, warum sie wirklich „krank“ gewesen war.
„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben!“
Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Glaubte er wirklich, dass der Verlust ihrer Erinnerungen für sie ganz locker wäre?
Er beugte sich über sie und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie ihm dafür am liebsten eine gescheuert hätte. Aber sie war gelähmt.
„Was ist los?“, fragte er bestürzt, nachdem er in ihre Augen gesehen hatte.
Sie erwiderte nichts - logischerweise.
Doch so schwer fiel es ihm gar nicht, den Zorn und die Panik zu verstehen. Eigentlich würde er auch nicht wollen, dass ihm jemand die Erinnerungen weg nähme. Und eigentlich wollte er auch gar nicht, dass sie ihn vergaß.
Trotzdem, es musste sein. So waren die Gesetze, und die hatten durchaus ihren Sinn.
Er richtete erneut den Zauberstab auf sie.
Sein Kopf formte den Zauberspruch, doch er schaffte es nicht, ihn auszusprechen. Er schloss die Augen, um ihrem Blick zu entgehen.
Wieder versuchte er es, doch er konnte es einfach nicht.
Statt dessen sagte er: „Ich werde jetzt den Lähmfluch von dir nehmen. Wir müssen etwas besprechen. Ich möchte nicht, dass du so hilflos bist, aber bitte hau nicht ab!“
Verwundert bemerkte sie kurz darauf, dass sie tatsächlich alles wieder bewegen konnte.
„Jetzt nichts wie weg!“, sagte ihr Verstand, doch sie blieb sitzen.
Noch einmal erklärte er ihr alles über das Geheimhaltungs-Abkommen und die Maßnahmen gegenüber Muggeln.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, dich davor zu bewahren. Du musst Mitglied der Zaubererwelt werden, in dem du jemanden von uns heiratest“, schlug Hipp vor.
„Wen denn? Dich etwa?“
Sie platzte fast vor Zorn. „Das ist ja wohl der bescheuerteste Grund zu heiraten, den es gibt! Seit ich wieder wach bin, sind erst ein paar Tage vergangen. Ich kenne dich kaum.
Mag sein, dass du dich in der langen Zeit meiner Bewusstlosigkeit in die leblose Puppe verliebt hast! Aber selbst, wenn ich dich leiden könnte, wollte ich keinen Mann, der mir jederzeit seinen Willen aufzwingen könnte, indem er mich lähmt oder sonst irgendwie verhext!“ Hippocrates sah sie betroffen an.
„Du hast recht“, sagte er, „So habe ich das noch nie gesehen. Na gut, ich lasse dich einfach so gehen. Aber du musst mir versprechen...“
„Ich verspreche überhaupt nichts!“, giftete sie ihn an.
„Na gut. Du versprichst nichts. Ich lasse dich trotzdem gehen. Aber du solltest wenigstens wissen, dass meine Zukunft damit in deiner Hand liegt. Wenn raus kommt, dass ich gegen das Geheimhaltungs-Gesetz verstoßen habe, verliere ich nicht nur meine Zulassung als Heiler. Mir droht dann nach einer Gerichtsverhandlung sogar eine Haftstrafe in Askaban.“
Sie sah ihn an: „Oh, das ist heftig. Sind eure Gesetze wirklich so hart?“
Er nickte.
„Na gut. Ich werde alles für mich behalten und so tun, als könnte ich mich an nichts erinnern. Ich hatte sowieso vor, nichts zu verraten, bevor ich zu dieser sogenannten Behandlung kam.“
Der Abschied war kurz, aber nicht schmerzlos. Für Hippocrates jedenfalls nicht. Es war hart für ihn, sie nicht mehr sehen zu können. Aber die Vorstellung, dass sie ihn wenigstens nicht ganz vergessen würde, tröstete ihn irgendwie.
Annie wusste überhaupt nicht, was sie fühlen sollte. Ihre Gefühle wechselten ständig zwischen Erleichterung, Wut, Angst, Bewunderung, Hass, Zuneigung...
Zuneigung??? Nein, bloß das nicht! Nicht, dass sie sich am Ende noch in diesen Kerl verlieben würde!
***
Annie Stonewalker saß vor einem Schoko-Eisbecher und tauchte den Löffel tief ein.
Die Erlebnisse der letzten Wochen zogen an ihr vorbei. Immer wieder musste sie an diese denkwürdige letzte „Behandlung“ im St. Mungos denken.
Man hatte sie noch bis zum Ende des Schuljahres krank geschrieben. Danach sollte sie an eine neue Schule kommen, da ein anderer Lehrer jetzt ihre Stelle in Little Whinning übernommen hatte.
Sie fand es schade wegen Harry, dessen Geschichte sie jetzt kannte. Andererseits wäre es ihr dort bestimmt sehr schwer gefallen, sich nicht zu verplappern.
Jetzt, am Beginn der Sommerferien saß sie also hier und konnte kaum glauben, mit wem sie sich heute verabredet hatte.
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