„Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Einverstanden?“
Die Geschichte eines ruhelosen Geistes
Gellert wartete ab, bis Albus kurz genickt hatte. Dann erst begann er mit seiner Erzählung.
„In einem kleinen Wäldchen unweit meines Heimatdorfes gibt es eine Weggabelung, die alle Einheimischen entschieden meiden und nur dann beschreiten, wenn es unbedingt notwendig ist. Diese Weggabelung liegt mitten im Herzen des Waldes und alle, die schon einmal dort waren, erzählen, dass es ein ungewöhnlich dunkler, düsterer und bedrückender Ort ist.
Auch die Waldtiere meiden dieses Fleckchen, sodass es dort vollkommen einsam und unnatürlich still ist. Wie ausgestorben. Keine menschliche Stimme, kein Lachen, keine Schritte, kein Vogelzwitschern, nichts.
Der Grund, so erzählt man sich, ist eine vor langer, langer Zeit verstorbene Seele, die an eben dieser Stelle herumwandelt und ein jedem erscheint, der das Herz des Waldes betritt. Diese verstorbene Seele mag im Grunde harmlos sein und niemandem etwas zu Leide tun, aber ihre Erscheinung soll so fürchterlich und grauenhaft sein, dass alle, die sie erblicken, zutiefst erschüttert und verstört sind und fortan nie mehr einen Fuß in jenen Forst setzen wollen.
Angeblich ist es der Geist einer Frau, der dort so spukt - der ruhelose Geist einer alten Frau, blass wie der Tod selbst, mit einem langen unheilvoll über den Waldboden raschelnden Gewand, so schwarz wie der Tod selbst, mit erschreckenden blutig roten, feuerrot glühenden Augen, die jeden wie im Wahn anstieren, als wollten sie ihn durchbohren.
Diese Frau ist dazu verdammt, so lange als ruheloser Geist in diesem dunklen Wald umherzuwandeln, ohne Rast und Frieden zu finden, bis eines fernen Tages irgendwann ein Reisender des Weges kommt, der die letzte Zeile ihres Lieblingsgedichtes kennt und von ihrem schrecklichen Anblick nicht so erschüttert ist, dass er kein Wort mehr herausbringt. Erst wenn ihr jemand diese letzte Zeile, die sie vergessen hat, obgleich besagtes Gedicht ihr so wichtig und teuer ist, aufsagen kann, wird sie endlich ihre ewige Ruhe finden.“
Der Gefangene legte an dieser Stelle gekonnt eine kleine Kunstpause ein.
Er konnte nicht umhin zu registrieren, wie die Atmosphäre in der kargen Zelle sich langsam, aber merklich verändert hatte. Er konnte nicht umhin zu registrieren, dass Albus Dumbledore jedem seiner Worte aufmerksam und gespannt gelauscht hatte. Gellert Grindelwald war trotz allem, trotz seiner sonstigen Ohnmacht, noch immer in der Lage, andere in seinen Bann zu schlagen und zu fesseln. Doch das alles nahm er eher am Rande wahr.
Er hatte diese kleine schaurige Geschichte des ruhelosen Geistes nicht zum Besten gegeben, um einen möglichst großen Effekt zu erzielen oder sich selbst etwas zu beweisen. Er hatte diese kleine Geschichte, anders als er behauptet hatte, auch nicht nur deshalb erzählt, um Albus auf andere Gedanken zu bringen. Nein. Es gab noch einen anderen Grund. Es gab eine Antwort, die Albus Dumbledore ihm noch schuldig war. Und diese Antwort wollte Gellert Grindelwald endlich bekommen.
Schließlich nahm er den Faden wieder auf und fuhr fort.
„Natürlich weiß ich nicht, ob sie tatsächlich wahr ist, diese kleine Geschichte des ruhelosen Geistes. Aber in letzter Zeit musste ich oft an sie denken. Denn das, was diese Geschichte schildert, gilt nicht nur für ruhelose Geister verstorbener Seelen. Auch Lebenden kann es so ergehen.
Lebenden, die dazu verdammt sind, sich nur mit sich selbst und ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Tag ein, Tag aus nichts anderes tun können als alte Erinnerungen zu durchforsten. Diese Menschen fühlen sich ganz genauso wie jener bemitleidenswerte Geist, wenn es eine Frage gibt, die stets unbeantwortet bleibt, eine Erinnerung, deren Inhalt stets unter einem undurchdringlichen Nebelschleier verborgen bleibt, wie oft man sie auch durchforsten mag ...“
Gellert Grindelwald blickte sein Gegenüber durchdringend an, als er leise hinzufügte: „Und ich glaube, Albus, ich glaube, du weißt ganz genau, wovon ich spreche. Aber das macht nichts. Ich werde noch ein wenig weitererzählen ...“
Er holte kurz Luft und fuhr dann fort.
„In dieser Erinnerung, die ich meine, ist es Sommer. Der Sommer 1899, unser Sommer von damals, um genau zu sein. Wir beide sitzen nebeneinander im Gras. Wir haben die ganze Nacht und auch den ganzen Vortag über geredet, Pläne geschmiedet, gelacht und weiter geredet. Die Sonne geht gerade auf und wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich über den Horizont kämpft und die Morgendämmerung verscheucht.
Du bemerkst, dass ich müde bin, sehr müde, und breitest deinen Umhang im Gras aus, damit ich mich darauf legen und ein wenig schlafen kann. Das tue ich dann auch. Ich schlafe lange, sehr lange, und tief.
Und dann ... ist da dieser neblige Zustand zwischen Schlaf und Erwachen. In diesem dämmerigen Zustand merke ich undeutlich, dass du mit mir sprichst. Dessen bin ich mir ganz sicher. Aber ich bin noch zu tief im Land der Träume, zu wenig wach, um zu verstehen, was du sagst.
Als ich dann aufwache, bist du ganz erschrocken, als hätte ich dich bei irgendetwas Ungehörigem ertappt. Du wirst rot und sagst, du hättest gedacht, dass ich schliefe. Und dann ... sage ich dir, dass ich aufgewacht bin von dem Gefühl, jemand würde zu mir sprechen, und ich frage dich, was du denn zu mir gesagt hast, während du mich fest schlafend geglaubt hast.
Aber du antwortest mir nicht.
Und deswegen denke ich wieder und wieder darüber nach, durchlebe diese eine Erinnerung wieder und wieder, aber ich finde keine Antwort. Das quält mich. Das ist die letzte Zeile des Lieblingsgedichtes, die den ruhelosen Geist in mir rastlos umherwandeln lässt. Der Geist kann nur Frieden finden, wenn ein des Weges kommender Reisender das Rätsel löst, das habe ich dir ja erzählt.
Der einzige, der je in meine Zelle kommt, und der einzige, der die Antwort kennt, bist du. Du musst dieser Reisende sein, der den armen Geist erlöst, Albus. Was war es, das du damals gesagt hast? Was war es, von dem du so dringend das Bedürfnis hattest es auszusprechen und von dem du doch nicht wolltest, dass ich es höre? Was? Sag es mir, Albus.“
Der eindringliche Blick des Gefangenen schien Albus Dumbledore beinahe zu durchbohren, so intensiv war er. Eine Flamme brannte in diesen braunen Augen.
Albus Dumbledore selbst schien fürchterlich mit sich selbst zu kämpfen und mit den Worten, die Gellert Grindelwald hören wollte, zu ringen. Mehrmals öffnete er leicht den Mund, als wollte er zu einer Antwort ansetzen, als wollte er Gellerts drängende Frage tatsächlich beantworten. Er besann sich letztendlich jedoch anders und schloss den Mund wieder, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben.
Er wirkte plötzlich sehr müde und erschöpft, als hätte dieser innere Kampf ihn all seiner Kräfte beraubt.
Gellert Grindelwald jedoch wirkte zornig.
„Warum? Warum willst du es mir partout nicht sagen? Warum? So weltbewegend kann es doch gar nicht gewesen sein!“
Der letzte Satz schien Albus Dumbledore schwer getroffen zu haben. Nun wirkte er noch viel erschöpfter und schwächer als noch vor einem Augenblick. Ein trauriger Schatten legte sich auf sein Antlitz und trübte auch das sonst strahlende Blau seiner Augen. In nur wenigen Sekunden war er um Jahrzehnte gealtert. Seine Stimme klang matt und gebrochen, als er endlich leise sprach.
„Du hast recht, Gellert, für dich wird es wohl wirklich nichts Weltbewegendes gewesen sein. Und außerdem ... ist es zu spät. Es ist zu spät ... dafür. Für diese Worte. Sie hätten damals gesagt werden müssen, als unsere Freundschaft noch heil und unversehrt war, als noch keine Schuld und keine Verbrechen und keine zerstörten Menschenleben zwischen uns standen. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich damals nicht den Mut hatte, diese Worte auszusprechen. Jetzt ist es zu spät. Aber sei versichert, dass es für dich nicht mehr von Bedeutung ist, Gellert. Wahrscheinlich wäre es auch damals nicht von Bedeutung für dich gewesen.“
Dumbledores Stimme klang jetzt, als wollte sie wirklich brechen und ihren Dienst versagen.
„Quäle dich nicht weiter damit, Gellert, es ist ... nicht wichtig ... für dich.“
Noch bevor der Gefangene den Mund öffnen konnte, um zu protestieren, hatte Albus Dumbledore sich von der hölzernen Pritsche erhoben und war zur Tür der Zelle geschritten. Dieses eine Mal verließ Albus Dumbledore den Gefangenen ohne ein einziges Wort des Abschieds. Nur eine stumme, einsame Träne tropfte auf den steinernen Boden des Verließes, ehe die eiserne Tür mit einem kalten Scheppern ins Schloss fiel.
So, damit hat sich dieses Kapitel wieder ziemlich traurig entwickelt. Ich hoffe, dass es euch trotzdem gefallen hat und ihr es halbwegs realistisch und nachvollziehbar fandet.
Außerdem muss ich mich bei euch entschuldigen, dass ihr so unglaublich lange auf ein neues Kapitel warten musstet, das tut mir sehr, sehr leid. Aber bei uns in der Familie gab es einen ziemlich schweren Krankheitsfall, der uns alle in Atem gehalten hat, und mein Rücken, der vor einiger Zeit bei einem Autounfall Schaden davon getragen hat, hat auch wieder ziemlich stark geschmerzt, sodass ich einfach nicht schreiben und tippen konnte.
Ich hoffe natürlich von Herzen, dass ihr der Geschichte trotzdem treu bleibt und mir die lange Wartezeit verzeiht!
Nächstes Mal sehen wir dann, wie Gellert die Zeit unmittelbar nach diesem verhängnisvollen Besuch erlebt.
Bis dann ganz liebe Grüße,
eure halbblutprinzessin137
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