von käfer
Orange Lichtblitze; das Hirn explodiert.
Schwärze. Stille.
Schwärze. Nervtötendes Sirren im Ohr. Klumpen statt Augenlider.
Stille. Schwärze.
Gleichförmige Geräusche. „Tick, tick, tick, tack, tick, tick, tick, tack, tick, tick, tick,…“
Augen auf. Grüner Schimmer, roter Schimmer. Augen zu.
Stille. Bunte Bilder.
Gleichförmige Geräusche. „Tick, tick, tick, tack, tick, tick, tick, tack, tick, tick, tick,…“
Augen auf. Grelles Licht. Augen zu, langsam wieder auf.
Besser.
Kahle Wände. Alles weiß.
Rechten Fuß bewegen: geht. Linker Fuß: geht. Knie anziehen, strecken: geht. Rechte Hand: bewegt sich. Linke Hand: will, aber kann nicht. Kopf drehen: aua. Augen zu, durchatmen. Augen auf: linke Hand ist festgebunden. Wo? Bett? Möglich. Bestes Stück? Winzig, aber vorhanden.
Melde gehorsamst, alles da.
Was ist los?
Schritte, ein Halbgott in Weiß. „Nu gugge an, der Herr Meier is aufgewacht!“ Eine Halbgöttin. Was ist das für eine komische Sprache? Irgendwie fremd. Herrmeier?
„Da werde ich gleich mal Ihrer Frau Bescheid sagen.“
Frau?
Die Zunge ist viel größer als die Höhle, in die sie gehört. Nicht weggehen!!! – „D-d-d-dur-durst!“
„Ach, klar. Warten Sie, ich komme gleich.“
Ihh, Bahndamm Sonnenseite! Lauwarm, eklig, aber flüssig. Schluck, schluck, noch einen. Pfui Teufel!
„So, jetzt hole ich Ihre Frau. Die wird sich bestimmt freuen, dass sie wieder da sind, Herr Meier!“
Herr Meier? Frau?
„Hermann!“
Hermann? Sollte er das sein? Nein, das war nicht sein Name. Aber wie hieß er dann?
Keine Antwort.
„Hermann! Na, du hast mir ja einen schönen Schrecken eingejagt!“
Das war nicht „seine Frau“! Seine Gefährtin war nicht klein, dick, blond. Aber wie sah sie aus? Keine Ahnung. Aber diese hier war es nicht.
Halt, das war eine Erinnerung! Er hatte keine Ehefrau, nur eine Freundin. Wie hieß die bloß? Keine Antwort.
„He, was soll das? Sie sind nicht meine Frau! Lassen Sie mich los, ich bin nicht Ihr Hermann!“
„Aber – aber, erkennst du mich gar nicht? Ich bin doch deine Minna!“
„Minna? Nie gehört!“
Was war das denn für eine Sprache? Die Worte rollten ihm auf der Zunge herum wie Steine. Es war nicht seine gewohnte Sprache. Aber wie sprach er eigentlich? Wer war er? Hermann Meier bestimmt nicht. Was war los?
Die Frau flüsterte mit tränenerstickter Stimme: „Erkennst du mich wirklich nicht?“
Er sah sie an und schüttelte den Kopf. Die Frau begann zu schreien und hörte erst wieder auf, als ein Weißkittel kam und sie hinausführte.
Endlich Ruhe.
Denkste.
Der Weißkittel kam wieder, setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Machte die linke Hand los, zog eine Kanüle heraus.
„Wo bin ich hier eigentlich und warum bin ich hier?“
Der Weißkittel sah auf. „Sie sind im Krankenhaus von Z.“
„Z.? Nie gehört.“ Der fremde Ortsname bereitete seiner Zunge Schwierigkeiten.
Der Weiße zog die Augenbrauen hoch. „Können Sie sich an gar nichts mehr erinnern?“
„Nein. Ich weiß nur, dass ich nicht Hermann Meier heiße und diese Minna nicht meine Frau ist.“
„Aber als man Sie gefunden hat, hatten Sie einen Personalausweis auf genau diesen Namen bei sich. Hier.“
Der Weißkittel zog eine Schublade auf, holte eine Plastikkarte heraus, drückte sie ihm in die Hand.
Links befand sich ein Passfoto. Den Mann darauf kannte er nicht. Rechts stand:
Meier
Hermann
03.04.1956
Darunter eine Unterschrift, die „H. Meier“ heißen konnte. Und obendrüber in Blockbuchstaben: „BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND“
Die Karte glitt ihm aus der Hand. „Das soll ich sein?“
Der Weißkittel nickte. „Das Passbild ist eindeutig Ihres und Ihre Frau hat Sie erkannt.“
Er schüttelte den Kopf. Der antwortete mit stechenden Schmerzen. Er ließ sich zurücksinken, schloss die Augen, orange Kreise kamen und gingen. Als der Schmerz wieder nachgelassen hatte, öffnete er die Augen wieder.
„Irgendwas stimmt nicht. Wie komme ich hierher?“
„Man hat Sie bewusstlos auf der Straße zwischen D. und L. gefunden.“
„D.? L.? Nie gehört. Mir ist alles so fremd…!“
„Keine Panik“, redete der Weißkittel beruhigend auf ihn ein. „Es wird ein Weilchen dauern, aber ich bin sicher, dass Sie Ihre Erinnerungen wiederfinden.“
Damit ging der Weißkittel, man ließ ihn in Ruhe.
Er lag da und grübelte darüber nach, wer er war. Plötzlich schoss etwas durch sein Hirn. Was hatte auf der Karte gestanden? BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND? Da war er noch nie gewesen. Wie kam er hierher? Dann war die komische Sprache, über die er bei so ziemlich jedem Wort stolperte, deutsch? Aber deutsch war nicht seine Muttersprache, das war etwas, was tief in seinem Inneren feststand. Nur, mit welchen Worten war er aufgewachsen? Er grübelte, schlief ein, wachte auf, grübelte weiter, schlief ein, wachte auf, grübelte. Es führte zu nichts. Er wusste nur, was NICHT war.
Irgendwann ging die Tür auf, eine ältere, gemütlich aussehende, rosabekittelte Frau kam herein. „Erika Enders, Helferin“, stand auf dem Schild, das sie an der Brust trug.
„So, Herr Meier“, sagte sie munter, „Sie dürfen´s jetzt mal mit ein bisschen Nahrung probieren.“
Er wollte schon protestieren, besann sich aber eines Besseren. Man hatte den Personalausweis eines Hermann Meier in seiner Tasche gefunden und so lange er es nicht besser wusste, würde er Hermann Meier bleiben müssen.
„Hier, ein Teller Hühnerbrühe.“
Er schnupperte, kostete, erinnerte sich. So roch, so schmeckte Hühnerbrühe. Und sogar ein paar Nudeln schwammen darin!
„Was sind das hier für weiße Fäden?“
Die Helferin sah ihn erstaunt an. „Fadennudeln“, antwortete sie leicht verwundert.
„Wenigstens etwas, an das ich mich richtig erinnere“, sagte er bitter. Die Helferin lächelte ihn mitleidig an.
Die Suppe schmeckte, er löffelte drauflos. Erst jetzt merkte er, dass er ziemlichen Hunger hatte.
„Langsam, langsam, Herr Meier! Sie haben fast vierzehn Tage nichts mehr zu sich genommen.“
„Was, so lange?“
„Ja“, antwortete sie. „Sie sind sozusagen ein medizinisches Rätsel, weil die Herren Doktoren nichts finden, was diese tiefe und lange Bewusstlosigkeit ausgelöst haben könnte.“
Er starrte sie nur an.
Der nächste Schock kam am Abend. Ein junger Mann, der sich als Pfleger Mischa vorstellte, forderte Herrn Meier auf, doch mal zu versuchen, ob es mit Aufstehen und ein bisschen Waschen klappte. Er schlug die Decke zurück und erschrak. Was für einen fürchterlichen Pyjama hatte man ihm denn angezogen? Braun-orange längsgestreift, steifes Baumwollgewebe – so etwas hatte er nie besessen. Seine Farben waren eher grau und blau. Haaalt – das war eine Erinnerung. Festhalten, bloß nicht wieder vergessen. Wer war er wirklich?
„Geht´s?“, fragte Pfleger Mischa.
„Ja, ja“, stöhnte er, richtete sich auf und fuhr in die bereitgestellten Pantoffeln. Braun-gelb kariert, igitt. „Sind das meine?“ – „Ja, natürlich. Die hat Ihre Frau mitgebracht.“
Frau? Ach so, Minna Meier. Die schien tüchtig unter Geschmacksverirrung zu leiden.
Er hatte nicht erwartet, dass seine Füße in diesen kleinen Dingern Platz hatten, aber sie passten.
Sich festhaltend und vom Pfleger gestützt, ging er hinter einen Wandschirm, wo sich ein Waschbecken befand.
Er sank geschafft auf den bereitstehenden Hocker, während Mischa Wasser einließ und Waschlappen, Seife und Handtuch zurechtlegte. „Wollen Sie selber?“
Er nickte, quälte sich aus dem Pyjama, sah an sich herunter und erschrak. Diese Brust, die herunterhing wie bei einer Frau, dieser übergroße, widerlich weiche Bauch, diese ekelhaft fetten, wabbeligen Schenkel mit diesem winzigen Dingsda dazwischen, das kaum die Bezeichnung Penis verdiente – das war doch nicht er! Er war groß gewesen, mager, weniger behaart und sein kleiner Lümmel … nun ja, etwas größer war der schon.
Was war los?
Er stemmte sich hoch, um im Spiegel sein Gesicht zu betrachten.
Dass er jetzt das altvertraute, lange, von schwarzen Haaren eingerahmte Gesicht mit den schmalen Lippen, den dunklen, umschatteten Augen und der großen Nase sehen würde, hatte er nach dem Anblick des Körpers nicht mehr wirklich erwartet. Was ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte, passte zu dem Rest: ein aufgedunsenes Mondgesicht mit hellgrauen, halb im Speck versunkenen Augen, vollen Lippen und einer Knollennase, darüber rotblonde strubbelige Haare.
Er steckte in einem fremden Körper! Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag und streckte ihn nieder.
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