von käfer
Sein Grinsen war widerlich. Er schaute sie von oben herab an und grinste. „Ich warte.“
„Du…!“ Sie schluckte ein sehr unanständiges Wort hinunter. Er hatte bekommen, was er wollte. Er hatte ihr Haus, ihr Geld, ihr Auto. Sie hatte für ihn geputzt, gewaschen und gekocht. Er hatte ihren Körper benutzt.
Jetzt hatte er eine andere und schickte sie fort. Sie weinte nicht, sie hatte längst keine Tränen mehr, nur noch Wut. Wut auf sich selbst, weil sie so dumm gewesen war, ihm zu vertrauen und ihm alles gegeben hatte, was sie besaß. Beinahe alles.
Dabei wusste sie doch aus unguter Erfahrung, dass man bei den gutaussehenden Männern besonders vorsichtig sein musste. Man hatte sie nie allein und sie wussten, wie man eine Frau dazu bekommt, die größten Dummheiten zu begehen.
„Bist du bald weg? Wage ja nicht, jemals wieder hier aufzutauchen!“
Mit überheblicher Geste wies er ihr die Tür. Sie krümmte sich unter ihrem Mantel zusammen, fasste den Zauberstab fester, konzentrierte sich und verstaute die Diamanten in ihrer Hosentasche. Ihre Diamanten, ihr letzter Besitz. Er wusste nichts davon, sonst hätte er sicher einen Weg gefunden, die Steine an sich zu bringen.
Sie richtete sich auf, straffte ihren Körper und schritt erhobenen Hauptes zur Haustür. Dort drehte die sich um und sagte mit schneidender Stimme: „Eines Tages wirst du im Dreck liegen und winseln. Good bye!“
Er grinste immer noch oder schon wieder. Es war ihr egal. Sie wusste, dass sie Recht hatte.
Den Mantel eng um sich geschlungen, marschierte sie die Straße entlang. Sie wusste, dass er ihr nachsah, seinen Triumph genoss. Aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, heulend gekrochen zu kommen.
Es war still im Ort. Durch das eine oder andere Fenster erhaschte sie Blicke auf glückliche Familien, die im Kerzenschein in geschmückten Zimmern beim Essen saßen. Es war Weihnachten und sie war ganz allein und ohne Dach über dem Kopf.
Sie bog auf die Hauptstraße ab. Hier war der Schnee festgetreten, sie hinterließ keine Spuren mehr, denen er hätte folgen können. An einer dunklen Stelle drehte sie sich auf dem Absatz und verschwand aus der Muggelstadt.
Schnee stiebte auf, als sie irgendwo in einer völlig verlassenen, verfallenden Siedlung landete. Sie fiel mit dem Gesicht in einen Busch, hustete, rappelte sich auf. Der Wind heulte um die Ecken der alten Häuser, trieb Schnee vor sich her, Fensterläden klapperten. Es war eine gespenstische Gegend. Sie suchte die alten Häuser nach einem brauchbaren Quartier ab. Nirgendwo waren noch Fenster und Türen vorhanden, Dreck und Ratten überall. Wo sollte sie bleiben?
Langsam wurde ihr kalt. Ihr Zorn war einer abgrundtiefen Traurigkeit gewichen. Sie fühlte sich so trostlos wie diese Siedlung hier war. Warum nur war sie hierher gekommen? Was wollte sie hier?
Sie fand nicht die Kraft, noch einmal zu apparieren. Mit matten Zauberstabbewegungen verwandelte sie eine alte Couch in einen Haufen Stroh. Mit einem halb zusammengefallenen Schrank machte sie Feuer im Kamin. Aber ihr wurde nicht warm. Sie hatte Hunger und Durst und die Glieder schmerzten ihr. Sie kroch tiefer ins Stroh. Der Kamin zog nicht, das Feuer qualmte und ging aus. Das Stroh wurde feucht. Eine Ratte huschte über ihre Beine. Angewidert stand sie auf und lief nach draußen.
Sie überlegte, was sie tun sollte. Wenn sie die Diamanten zu Geld machte, würde sie eine Weile leben können, die Zügel ihres Daseins wieder in die eigenen Hände nehmen. Und dann ihren Rachefeldzug starten. Nur – wer würde ihr am Weihnachtstag Diamanten abkaufen? Sie kannte keinen Juwelier.
Ziellos lief sie in der Siedlung herum. Dann entdeckte sie, dass das letzte Haus an der Straße noch Türen und Fenster hatte.
Ironie des Schicksals – sie kam nicht hinein. Erschöpft sank sie auf der Schwelle zusammen und schlief ein, bevor sie sich Gedanken machen konnte, warum sie die Tür nicht öffnen konnte.
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Nachtwächter John Prince steckte sein Buch ein, ehe er sich auf die letzte Runde für diese Weihnachtsnacht machte.
Es war ruhig im Haus, die alten Leute schliefen noch. Ebenso die diensthabende Schwester. Sollte sie doch, ihm war es egal. Er kontrollierte die Fenster im großen Aufenthaltsraum, inspizierte die kleine Teeküche, fand alles in Ordnung und ging durch die Seitenpforte in den tief verschneiten Garten. Er lauschte in alle Richtungen und hörte nichts.
John Prince beschloss, noch einmal die Runde am Außenzaun entlang zu gehen. Im Licht einer starken Taschenlampe musterte er den Schnee auf der niedrigen Mauer. Abgesehen von der Stelle, an der die Katze der Köchin ein und aus ging, waren keine Spuren zu sehen. Wer sollte auch in ein Seniorenpflegeheim einbrechen? Die Leute, die hier lebten, hatten ihr Geld auf der Bank und Fremde verfügten darüber. Der Schmuck, den die eine oder andere Lady noch besaß, lohnte keinen Einbruch. Solange Prince hier als Nachtwächter arbeitete, hatte er nie etwas anderes als „Keine Vorkommnisse“ ins Wachbuch eingetragen, nicht einmal einen Bettler hatte er abweisen dürfen.
Fünf Minuten vor sechs kam wie jeden Morgen der Hausmeister. Er grüßte gähnend: „Morgen, Prince. Na, haben Sie den Weihnachtsmann gesehen?“
Der Nachtwächter brummte: „Kinderkram!“
Die beiden Männer gingen hinunter in die kleine Stube, die sie gemeinsam benutzten. Der Nachtwächter machte seine letzten Eintragungen ins Wachbuch, während der Hausmeister Kaffee brühte und zwei Stullenboxen auspackte. Sie frühstückten schweigend, dann stand der Nachtwächter auf, warf sich seinen schweren dunklen Umhang über die Schultern, sagte wie immer „bis morgen“ und ging.
Wie immer nahm John Prince die Straße, die von der Stadt wegführte, wie immer sahen die Pflegerinnen, die zum Dienst kamen, nur seine verhüllte schwarze Gestalt in der Ferne verschwinden.
Die Straße führte mitten durch einen dunklen Wald. Noch nie hatte jemand John Prince auf der anderen Seite herauskommen sehen. Denn John Prince löste sich jeden Morgen zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle in Nichts auf, um als Severus Snape in Spinners End wieder zu erscheinen.
Reglos verharrte Snape auf seinem Landeplatz und lauschte. Totenstille. Zügig ging er zu seinem Haus. Drei Schritte hinter ihm lag der Schnee wieder unberührt wie eh und je. Niemand würde vermuten, dass in der alten Siedlung jemand lebte.
Plötzlich erstarrte er. Spuren! Er hatte seinen Zauberstab gezückt, noch ehe er realisiert hatte, dass es tatsächlich menschliche Fußabdrücke waren, kleine Stiefelspuren. Jemand hatte sich mit schweren, müden Schritten durch den tiefen Schnee gequält.
Alle Sinne geschärft folgte Snape den Fußabdrücken. Sie kamen aus einem Vorgarten. Ihm wurde mulmig. Jemand war in Spinners End appariert, in das übernächste Haus hineingegangen, wieder herausgekommen, hin- und hergelaufen. Schließlich führte die Spur zu seinem Haus.
Snapes Herz schlug bis zum Hals. Er spürte eine schwache weibliche Präsenz und schlich vorsichtig näher. Da entdeckte er die zusammengesunkene Gestalt auf der Schwelle.
„He, wer sind Sie und was wollen Sie?“ – Keine Reaktion. Vorsichtig, den Zauberstab immer noch bereit, berührte er ihre Schulter. Keine Reaktion. Er schüttelte die Frau. Sie öffnete die Augen, starrte ihn an.
Er wiederholte: „Wer sind Sie und was wollen Sie?“ Sie wollte antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Ihre Zähne klapperten. Mit matten Bewegungen versuchte sie, aufzustehen, sackte aber wieder zusammen. Kopfschüttelnd hob er sie hoch, trug sie ins Haus und wunderte sich, wie leicht sie war. Er packte die Frau auf seine Couch, machte Feuer im Kamin und pellte sie weitestgehend aus ihrer Kleidung. Ihr magerer Körper war von blauen Flecken übersät.
Er wärmte das einzige Federbett an, das er besaß, wickelte die Fremde hinein und flößte ihr einen Zaubertrank ein. Binnen einer Minute hatte sie sich entspannt und schlief tief und fest.
Als Snape ihre Sachen aufhängte, fielen aus der Hosentasche ein schlanker hellbrauner Zauberstab und einige Steine. Knurrend sammelte er alles wieder ein und betrachtete die nussgroßen Steinchen genauer. Es waren gelbliche und weißliche, unregelmäßig geformte Kristalle mit trüber Oberfläche. Schulterzuckend steckte er alles in die Tasche ihres Mantels.
Dann suchte er seine restlichen Decken zusammen, packte heiße Steine dazwischen und ging schlafen.
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Als sie erwachte, war es heller Tag. Die Sonne schien ungehindert von Vorhängen in das Zimmer, im Kamin knisterten einige Holzscheite vor sich hin.
Das alte Sofa ächzte und knarrte, als sie sich aufrichtete und umsah. Das Wohnzimmer war mit alten, abgenutzten Möbeln spärlich eingerichtet. Keine Bilder, keine Ziergegenstände, kein Weihnachtsschmuck sagte etwas über die Persönlichkeit der Bewohner. Die Bücherregale an den Wänden waren bis auf ein Fach leer. Alles war blitzsauber.
Sie hörte Schritte und ließ sich zurücksinken. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete sie den Ankömmling. Seine Kleidung – dunkelgrauer Rollkragenpullover und schwarze Cordhose – waren wie die Einrichtung: alt, aber sauber. Mit den strähnigen schwarzen Haaren, dem bleichen Gesicht mit den zusammengekniffenen schmalen Lippen unter der Riesennase war dieser Mann wohl kaum unter die Rubrik „Besonders gutaussehend“ einzuordnen. Allerdings glaubte sie, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihr und fragte: „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“
„Ich bin Mary Louise und ich will nichts… von Ihnen. Ich,… ich bin,… mein Mann…, mein Exmann…, wir sind seit vorgestern geschieden. Gestern hat er mich rausgeschmissen, damit Platz ist für seine Neue.
Da wollte ich mich für ein paar Tage … über Weihnachten… verstecken und dann weitersehen.“
Er schnarrte: „Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir?“
„Ich …, ich bin hier großgeworden.“
„Hier in diesem Haus?“, fragte er drohend.
„Nein“, antwortete sie ein bisschen eingeschüchtert, „weiter unten, in Nummer sieben. Aber das ist ganz zusammengefallen.“
Mit noch immer drohendem Gesichtsausdruck sah er sie an.
Wer war er bloß?
Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder auf. Erinnerungen, die sie verdrängt hatte und längst vergessen glaubte: … Brutus, der riesige Hund ihres Nachbarn, verfolgte sie die ganze Dorfstraße entlang. In letzter Sekunde sprang sie in einem Riesensatz über den Zaun und auf den großen Apfelbaum. Der Nachbar kam gelaufen und sagte mit schmierigem Grinsen zu ihr: „Wenn ich jetzt den Hund wegnehme, musst du dann aber ganz lieb sein zu mir“…
… Der Vater verdrosch sie, weil sie vom Gemüseverkaufen auf dem Markt viel weniger Geld mitgebracht hatte als er erwartet hatte…
… Ihre Klassenkameradinnen lästerten, weil sie die abgelegten und zusammengeflickten Hosen von ihren großen Brüdern tragen musste…
Mary Louise kapierte und drängte ihn hinaus aus ihren Gedanken. Jetzt wusste sie, wer er war. „Was soll das, Mr. Snape? Wenn Sie was aus meiner Vergangenheit wissen wollen, dann fragen Sie gefälligst.“
Der drohende Ausdruck in seinem Gesicht wich einem dämonischen Grinsen. „Mary Louise Winterbottom, die Kleine mit den großen Träumen. Schau an, auch du bist wieder ganz unten. Willkommen in Spinners End!“
Sie fauchte wie eine Katze. Er grinste sie an und holte ihre Sachen. „Hier, falls du dich angezogen wohler fühlst.“
Er verschwand in der Küche, während sie sich anzog.
Als er zurückkam, funkelte Mary Louise ihn wütend an. „Wo ist mein Zauberstab und was sonst noch in den Hosentaschen war?“
„In deiner Manteltasche.“
Sie warf ihm einen stechenden Blick zu. Er deckte mit einem Schlenker seines Zauberstabes den Tisch in der Küche, mit einem zweiten machte er das Weihnachtessen - Truthahnbraten mit Rosenkohl und Kartoffeln aus der Supermarkt-Tiefkühltruhe – heiß, mit einem dritten stellte er gefüllte Rotweingläser neben die Teller.
„Falls du Hunger hast, musst du in die Küche kommen!“, rief er und sie kam auf der Stelle. „Snape, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das? Die Steine sind mein letzter Besitz.“
„Toller Besitz, Steine. Ich habe wenigstens ein warmes und trockenes Haus.“ Er hob sein Glas. „Auf unser Wiedersehen, kleine Prinzessin.“
„Danke, dass du mich mit reingenommen hast.“ Sie senkte den Kopf.
„Sollte ich dich etwa auf meiner Schwelle erfrieren lassen?“
Sie aßen schweigend. Später saßen sie sich am Küchentisch gegenüber und musterten sich gegenseitig.
Dann sagte Mary Louise: „Ich geh dann mal. Danke für das Essen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“
Er fragte ruhig: „Wo willst du hin, so ohne alles? Von Steinen kann man sich nicht ernähren. Oder ist das Trockenfutter?"
„Diamanten sind es, Rohdiamanten. Und die kann man verkaufen.“ Sie biss sich auf die Lippe. Das hatte sie doch nicht verraten wollen!
„Und wem willst du die Dinger verkaufen, heute zum ersten Feiertag?“
Sie schwieg mit gesenktem Kopf. So weit war sie auch schon mal gewesen mit ihren Überlegungen. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, ausgerechnet auf Severus Snape zu treffen, zu dem sie in ihrer Kindheit aufgeschaut hatte und der sie nie bemerkt hatte… Für ihn war sie nur ein kleines Mädchen unter vielen gewesen...
Als sie gehört hatte, dass er als Tränkemeister nach Hogwarts gegangen war, hatte sie versucht, dort den Posten als Krankenschwester zu bekommen – vergebens. Sie hatte ihm Briefe geschrieben und nie eine Antwort erhalten. Später war ihr zu Ohren gekommen, dass er sich dem angeschlossen hatte, dessen Name nicht genannt werden durfte und sie hatte nach einem anderen Traumprinzen gesucht – und war zweimal tüchtig auf die Nase gefallen…
„Also von mir aus kannst du ein paar Tage hier bleiben“, sagte er in ihre Gedanken hinein. „Vorausgesetzt natürlich, dass du mir nicht auf die Nerven fällst und mich vormittags schlafen lässt. Ich arbeite nämlich als Nachtwächter in einem Muggel-Seniorenheim.“
„Als Nachtwächter - in einem MUGGEL-Seniorenheim?“, fragte sie fassungslos.
„Von irgendwas muss ich ja mein Essen bezahlen, oder? Dort stellt wenigstens keiner blöde Fragen.“
„Verstehe.“ Die Gerüchte über Severus Snape waren selbst ihr zu Ohren gekommen…
Mary Louise Winterbottom blieb nicht nur ein paar Tage in Spinners End…
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