von käfer
Die Atmosphäre in dem fliegenden Auto war bedrückend. Peter weinte immer noch still vor sich hin, der kranke Junge stöhnte von Zeit zu Zeit im Schlaf. Mr. Myer schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, als wolle er das Elend nicht mit ansehen. Severus hatte damit zu tun, seine Aufregung niederzukämpfen.
Als London am Horizont auftauchte, weckte Mr. Myer den Schläfer und gab ihm aus einer grünen, bauchigen Flasche etwas zu trinken. Dann sagte er: „Herhören, Jungs. Wir sind gleich in London. Ich bringe euch noch bis zum Zugang zu Gleis 9 3/4, ihr geht dann allein durch. Hinter der Absperrung wartet der Zug; ihr gebt euer Gepäck ab und sucht euch einen Platz. Die Schuluniformen werden im Zug angezogen, das ist so Tradition, seit es den Hogwarts-Express gibt. Der Zug hält erst am Ziel in Hogsmeade, dort steigt ihr aus. Alles weitere wird euch gesagt.“ Dann verteilte er die Tickets.
Plötzlich griff sich Mr. Myer an die Stirn. „Wo habe ich denn heute nur meine Gedanken! Hier, Severus, das ist für dich. Ich habe mich um dein Verließ gekümmert. In dem Umschlag sind die Eigentumsurkunde, Verließnummer und die letzte Verließinhaltsmeldnung. Und hier ist der Schlüssel. Bewahre ihn gut auf, ohne den Schlüssel kommst du nicht rein.“
Unter den staunenden Blicken der anderen beiden nahm Severus Umschlag, Schlüssel und ein Paket belegter Brote in Empfang.
Unmittelbar darauf kam das Auto zum Stehen. Sie stiegen aus und standen bald vor der Mauer, die Gleis 9 von Gleis 10 trennte. „Bis hierher also. Wer von euch macht den Anfang?“
Die drei standen regungslos da, keiner wagte es, als erster zu gehen. Severus betrachtete den „Durchgang“. Das Tor zu seinem neuen Leben sah aus wie eine ordentlich fest gemauerte Wand. Peter fing schon wieder an zu weinen, der andere sah aus, als würde er gleich umkippen. Mit solchen Versagern wollte Severus nicht in der Zaubererwelt ankommen. Er holte tief Luft und machte einen Schritt auf die Wand zu. Sein Gepäckwagen verschwand halb, und nach drei schnellen Schritten durch dunkle Kühle fand er sich auf einem belebten Bahnsteig wieder.
Der Zug wartete tatsächlich schon, eine glänzend schwarz lackierte Lokomotive stand unter Dampf. Vorn und an den Seiten trug sie die Aufschrift „Hogwarts-Express“. Auf dem Bahnsteig begrüßten Kinder ihre Freunde, trugen Koffer und Schachteln ins Gepäckabteil, Eltern verabschiedeten sich von ihren Kindern. Staunend und ohne darauf zu achten, wohin er trat, näherte sich Severus dem Gepäckabteil. Dabei stieß er mit seinem Gepäckwagen an einen Mann, der fuhr herum und schimpfte ihn aus. „He, Bengel, was soll denn das, hast du keine Augen im Kopf!“
Severus entschuldigte sich stotternd. Er wusste sofort, dass er Lucius´ Vater gegenüberstand, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Mr. Malfoy musterte Severus von oben bis unten und sagte dann zu seiner Frau: „Wo ist der denn ausgebrochen? Dass sie so was nach Hogwarts lassen, also nein. Das verstehe ich nicht.“
Severus warf den beiden einen hasserfüllten Blick zu. Zum Glück war Lucius anders als seine Eltern.
Kurz bevor er an der Reihe war, seinen Schrankkoffer abzugeben, fiel Severus ein, dass er ja im Zug die Schuluniform anziehen musste. Rasch öffnete er den Koffer, aber er hatte ihn nicht hingelegt und so fielen Kleidungsstücke, Bücher und Pergamentrollen auf den Bahnsteig. Im Hintergrund war Gekicher zu hören; Severus lief rot an.
Ein Mädchen mit rotblonden Zöpfen kam hinzu und half ihm. „Du musst den Koffer erst umlegen, dann kannst du alles wieder reintun.“ Gemeinsam wuchteten sie die schwere Kiste herum und sammelten die verstreuten Gegenstände wieder ein. „Übrigens, ich heiße Lily Evans und komme in die erste Klasse.“ – „Severus Snape, auch Erste“, stellte sich Severus knapp vor. Als alles wieder eingepackt war, standen sie sich verlegen gegenüber und keiner wusste, was er sagen sollte. Da ertönte eine Männerstimme: „Lily, nun komm´ schon. Du willst doch einen guten Platz haben, oder nicht?“
Lily ging zu ihren Eltern. Verstohlen sah Severus hinüber. Sie trugen alle Muggelkleidung und neben Lilys Mutter stand anscheinend ihre ältere Schwester, die ziemlich säuerlich dreinschaute.
Severus gab nun endlich sein Gepäck ab und lief am Zug entlang auf der Suche nach einem freien Abteil. Irgendwo in der Mitte entdeckte er Lucius´ Blondschopf an einem Fenster. Er winkte ihm zu, aber Lucius wandte sein Gesicht ab.
Im letzten Wagen waren noch einige Abteile frei; Severus stieg ein, setzte sich ans Fenster und aß erst einmal etwas. Dann öffnete er den Umschlag. Viel hatte er nicht in seinem Verließ liegen, acht Galleonen, siebzehn Sickel und zwölf Knuts war alles. Aber das machte nichts, er hatte ja den Zauberstab, den seine Mutter gemacht hatte.
Severus zog seine einzige neue Schuluniform an, er wollte nicht schon am ersten Tag durch abgewetzte Kleidung auffallen.
Der Zug fuhr los. Anfangs sah Severus aus dem Fenster, aber als es lange durch eintönige Hügellandschaften ging, wurde es langweilig. Er nahm das Buch aus der Tasche, das er auf dem Bahnsteig noch schnell hineingesteckt hatte. Es war das Zauberkunst-Lehrbuch und Severus kapierte überhaupt nichts. Na, das konnte ja heiter werden!
So stand er auf, um Lucius zu suchen. Der musste irgendwo in der Mitte des Zuges sein. Severus hörte aus einem Abteil ein Fetzchen einer fröhlichen Unterhaltung, jemand fragte Lucius, ob er in den Ferien auch Muggel geärgert hat. Severus wusste, dass er am Ziel war. Da stieß er mit einem gut gekleideten, etwas größeren und kräftigeren Jungen zusammen. „He, Kleiner, pass doch auf, wo du hintrampelst!“
Severus murmelte: „Entschuldigung“ und der andere rief so laut, dass alle es hören mussten: „Wo kommst du denn her? Warst du im Knast oder hattest du Läuse, dass sie dich kahlgeschoren haben?“ Dabei fuhr er Severus gegen den Strich über die Haarstoppeln und grinste. Severus ging mit beiden Fäusten auf den Kerl los, aber der lachte nur. Es war ein hässliches, gemeines Lachen, das Severus´ Zorn noch anstachelte. Als der andere den Zauberstab zog, griff auch Severus nach dem seinen und richtete ihn auf sein Gegenüber.
Severus überlegte, welcher Zauberspruch jetzt wohl angebracht wäre.
Der andere griente. „Na, fällt dir nichts ein?“
Ah ja, der könnte gehen. „Immobi…“ – weiter kam Severus nicht. Der andere hatte „Protego“ gerufen und Severus flog in hohem Bogen über den Gang. „Aua, das wirst du mir noch büßen!“
Auf den Lärm hin kam ein älterer Schüler aus seinem Abteil. Er hatte ein Abzeichen auf der Brust, auf dem „Vertrauensschüler Arthur Weasley“ stand. „Was auch immer die Ursache Eurer Auseinandersetzung war – Anfänger sollten im Zug nicht herumzaubern. James, setz dich bitte wieder hin und du gehst am besten auch zurück in dein Abteil.“
Bevor Severus antworten konnte, kam Lucius, half Severus hoch und zog ihn zu sich ins Abteil. „He, Kleiner, was war denn los?“
Severus erzählte kurz. Lucius sagte vorwurfsvoll: „Und wozu habe ich dir all die schönen Zaubersprüche aufgeschrieben? Ich denke, du hast alles gelernt?“
„Habe ich auch, ich kann alles auswendig hersagen, aber ich wusste nicht, welchen ich nehmen sollte.“ – „Das kann tödlich sein. Falls du zu mir nach Slytherin kommst, übe ich mit dir. Das hier ist übrigens ein Slytherin-Abteil und hier sitzen alle meine Freunde.“
Außer Lucius waren noch drei Jungen im Abteil und zwei Mädchen, die sich so ähnelten, dass sie Schwestern sein mussten. „Cissy, Bella, rückt mal ein Stück, damit sich mein kleiner Freund setzen kann.“ Widerspruchslos gehorchten die Mädchen, obwohl eine von ihnen offensichtlich älter war als Lucius.
Verlegen setzte sich Severus in die entstandene Lücke. „Severus ist im Waisenhaus groß geworden. Der Haarschnitt ist bestimmt Rodneys Rache, oder?“
Severus nickte. Lucius erinnerte sich an das, was er ihm über Mr. Rodney erzählt hatte!!!
„Wie groß werden wohl deine Chancen sein, dass du zu uns kommst? Wer waren deine Eltern?“, fragte Lucius nachdenklich.
Severus antwortete: „Meine Mutter hieß Eileen Prince.“
„Von der habe ich mal was gehört. Muss ganz gut beim Quidditch gewesen sein“, sagte einer der Jungs.
„Und mein Vater…“ In dem Moment fiel Severus ein Satz ein, der in einem der letzten Briefe von Lucius gestanden hatte: „…sollte man diese Viertel- und Halbblüter keinesfalls nach Hogwarts lassen…“ Schnell zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung, hab´ ihn nicht gekannt.“
„Na ja“, meinte Lucius. „Deine Mutter war, soweit ich weiß, in Slytherin. Könnte sein, dass du zu uns kommst. Das werden wir heute Abend sehen. Jetzt wäre es ganz gut, wenn du uns alleine lässt, wir haben noch was zu besprechen.“
Gehorsam, aber ein bisschen traurig ging Severus zum Ende des Zuges zurück.
In seiner Tasche wühlte er nach dem Päckchen mit den Briefen von Lucius. Zwei Seiten hatte Lucius darüber geschrieben, dass es nicht gut wäre, wenn Hexen und Zauberer mit Muggeln zusammen und unter Muggeln lebten. Zu viele Leute würden etwas von der Zauberei mitbekommen und das wäre gegen das Geheimhaltungsgesetz. Die Zauberer sollten lieber unter sich bleiben; außerdem würde Muggelblut die magischen Kräfte schwächen.
Manches von dem, was Lucius geschrieben hatte, leuchtete Severus ein. Er hatte plötzlich Angst, dass er kein mächtiger Zauberer werden würde – hatte er nicht eben in der Auseinandersetzung mit diesem James versagt? Vielleicht war es doch nicht so gut, wenn er als Halbblut nach Slytherin kam? Diese Entscheidung lag nicht in seinen Händen, eine andere dagegen schon: er würde seine Haare nie wieder schneiden lassen.
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