von käfer
Der Saal war brechend voll. Sekunden vor der offiziellen Auftaktveranstaltung zur Lesetournee des Bestsellerautoren huschten noch zwei Gestalten herein, die ihre Gesichter unter Kapuzen verborgen hatten. Sie quetschten sich ein eine Ecke der Empore, von der aus sie einen guten Überblick über die Anwesenden hatten. Ein paar schwarze Augen schauten unter der Kapuze der größeren Gestalt hervor und musterten die Leute. Bei einem Zauberer ganz vorn in der ersten Reihe blieben die Augen hängen. Die Kapuze nickte. Die Hände der beiden Vermummten fanden sich. Schweigend und unbeweglich, aber mit brennenden Augen folgten die beiden der Rede des Chefredakteurs des „Tagespropheten“ und der anschließenden dreistündigen Lesung des Autoren. Anfangs hörte das überwiegend weibliche Publikum mit Begeisterung die Geschichten, später jedoch knickte der eine oder andere Kopf nach unten. Außer den beiden hinten lauschte auch der Zuhörer in der ersten Reihe sehr aufmerksam.
Endlich war Schluss. „…wäre noch so viel zu erzählen, aber leider ist meine Zeit begrenzt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und gebe jetzt gern noch Autogramme.“
Beifall brauste auf, die Schläfer erschraken. Die dunkle Gestalt in der Ecke sprang auf und rief mit dröhnender Stimme: „Mister Lockhart! Sind Sie wirklich schon 250 Jahre alt? Das müssten Sie nämlich mindestens sein, wenn Sie, wie Sie behaupten, alle die Dinge, die Sie aufgeschrieben haben, tatsächlich selbst erlebt hätten!“ Schlagartig war Ruhe im Saal, die Köpfe fuhren herum.
„Außerdem muss ich mich energisch gegen die Behauptungen wehren, die Sie über Hogwarts und speziell meine Person hier vorgetragen haben. Dies alles, meine Damen und Herren“, Snape nahm die Kapuze ab, „dies alles ist nicht wahr. Es war nicht Gilderoy Lockhart, der Professor Lupin aus den Schwefelsümpfen gezogen hat. Mr. Lockhart hat auch nicht eine einzige Stunde Zaubertränke unterrichtet. Aber er hat die Stunden, in denen er im Auftrag des Ministeriums bei mir und anderen Lehrern hospitieren sollte, dazu genutzt, den Unsinn aufzuschreiben, den er heute Abend hier vorgelesen hat. Eigentlich müssten jedem, der eine magische Ausbildung hat, eine ganze Menge Fehler aufgefallen sein.“
Gemurmel erhob sich im Saal. In der ersten Reihe hatte sich ein blonder Kopf nach vorn gebeugt; Snape sah mit Genugtuung, dass Rita Kimmkorn emsig schrieb. Der Chefredakteur hatte das allerdings auch bemerkt und redete jetzt heftig auf die Reporterin ein. Immer wieder schüttelte Kimmkorn den Kopf.
Lockhart stand vorn auf der Bühne, dümmlich grinsend. Sein Mund bewegte sich, aber niemand hörte, was er sprach. Buh-Rufe wurden laut. Das Publikum spaltete sich in zwei Parteien. „Lügner!“ und „Angeber!“ riefen die einen, die anderen hielten dagegen: „Er schreibt eben gut. Ihr seid doch nur neidisch!“ Etliche, vor allem ältere Hexen, verließen den Saal, so schnell ihre Beine sie trugen.
Langsam, als ob er nicht wüsste, was er tun sollte, bewegte sich Lockhart in Richtung Ausgang. Niemand achtete auf ihn, mit Ausnahme des unscheinbaren Herrn aus der ersten Reihe. Roger Chapman folgte Lockhart, holte ihn ein und sprach ihn an.
Severus winkte Elly. Was er erreichen wollte, hatte er erreicht. Er wollte verschwinden, bevor hier ein Tumult ausbrach. Allerdings stand Rita Kimmkorn an der Tür. Severus sah sich nach einem anderen Ausgang um.
Zu spät, die Kimmkorn hatte ihn entdeckt und Feder und Block gezückt.
„Professor Snape, ein paar Fragen bitte. Wer hat Remus Lupin aus den Schwefelsümpfen geholt, wenn es nicht Gilderoy Lockhart war?“ – „Ich“, antwortete Severus kurz angebunden und wollte weitergehen, aber Rita war hartnäckig. Sie blätterte in ihrem Block, fragte dann: „Die Dickköpfige Grashalmnatter – wer hat die in den Unterricht mitgebracht – Sie oder Lockhart?“ – „Lockhart.“ – „Bitte sagen Sie doch etwas dazu, wie gefährlich eine solche Schlange ist und was hätte passieren können.“
Snape verdrehte die Augen. Elly drehte bedauernd die Handflächen nach oben; Severus fügte sich und antwortete kurz. Rita Kimmkorn schrieb Wort für Wort auf, was Severus sagte.
Eine halbe Stunde lang prasselte nun Frage auf Frage auf Severus herab. Ihm blieb nicht weitr übrig, als zu antworten; die Kimmkorn war hartnäckig. Immer bereitwilliger antwortete er, Severus hoffte, dass dieses Interview die Chance war, das richtigzustellen, was er schon lange richtigstellen wollte.
Um die kleine Gruppe hatte sich eine Menschentraube gebildet. Durch die drängte sich jetzt der Chefredakteur, nicht nur wegen seiner vierzig Pfund Übergewicht heftig schwitzend. „Kimmkorn, was soll das, was tun Sie da?“, schnauzte er die Reporterin an.
„Ich tue meine journalistische Pflicht – die Wahrheit aufdecken!“, fauchte Rita zurück und stellte Severus eine letzte Frage: „Warum haben Sie während der Zeit, in der Mr. Lockharts Geschichten im Tagespropheten abgedruckt wurden, nie eine Gegendarstellung versucht?“
„Oh, das habe ich schon. Ich habe zehn Briefe an die Redaktion geschrieben, dreimal persönlich vorgesprochen und sogar versucht, den Zaubereiminister auf die Sache aufmerksam zu machen – nun, man hat mich ignoriert.“
Rita Kimmkorn strich die letzten Sätze doppelt an und bedankte sich bei Severus.
Der nahm Elly bei der Hand, zog sie nach draußen und sagte: „Schnell weg hier, zu Madam Puddifoot.“
Konzentrieren, drehen, und schon war er in Hogsmead. Keine Sekunde später plumpste Elly neben ihm auf die Straße vor dem Café. Dummerweise hatte Madam Puddifoot wegen Krankheit geschlossen; so gingen sie in die „Drei Besen“ und bestellten jeder eine große Kürbissaftschorle. Die Atmosphäre in der Kneipe war nicht gerade einladend. Ein paar angetrunkene Jugendliche – keine Hogwartsschüler, Severus sah genau hin – grölten herum und stritten sich. In einer Ecke verpesteten fünf kartenspielende Männer die Luft mit dicken Zigarren. Severus blickte Elly an, die nickte. Er warf dem Wirt ein paar Münzen zu und sie gingen hinaus.
Gemächlich schlenderten sie durch den Wald heimwärts. Die Vögel zwitscherten, sonst war es still. Zum Abendessen würden sie auf jeden Fall zu spät kommen. Severus spekulierte darauf, dass der Lehrertisch verlassen sein und keiner etwas dabei finden würde, wenn er sich zu Elly an den Angestelltentisch setzte.
„Da ist jemand!“ – Severus hatte die Anwesenheit weiterer Personen gespürt, ehe die sich durch einen knackenden Ast verraten hatten. Schnüffelte da schon wieder jemand hinter ihm her? Der Weg vor und hinter ihnen war leer, das Geräusch war von weiter rechts gekommen. Schüler auf einem heimlichen Ausflug? Was wäre als Strafe angebracht? Hogsmead-Verbot auf jeden Fall und eine saftige Strafarbeit dazu, am besten zu erledigen, wenn die anderen auf dem Quidditchfeld waren… Geräuschlos schlich Severus dorthin, von wo das Knacken gekommen war. Nach ein paar Schritten konnte er Stimmen unterscheiden. Ein Pärchen vergnügte sich da anscheinend auf einer kleinen Lichtung. Snape hockte sich hin und spähte hinter einem Busch hervor. Die Frau war blutjung, blond und wohlgeformt, der Mann grauhaarig und muskulös. Er war gerade damit beschäftigt, sie aus der Bluse zu pellen. Für eine Sekunde nur konnte Severus sein Gesicht von der Seite erkennen, dann verschwand er so schnell er konnte von dem Platz. Er packte Elly an den Armen und apparierte mit ihr ein Stück weg. Eine wilde Freude erfasste sein Herz; denn wenn Phillipp Kirby sich mit einer anderen beschäftigte, war Elly endgültig frei für ihn!
„Hey, was war das denn gerade für eine Aktion?“, wollte Elly wissen.
„Ich dachte, das wären Schüler, die sich unerlaubt aus dem Haus entfernt hätten. Waren es aber nicht und es wäre mir furchtbar peinlich gewesen, wenn die beiden mich gesehen hätten.“ Elly kicherte. Gut gelaunt verbrachten sie einen gemütlichen Abend im Raum der Bedürfnisse.
Am Montagmorgen kam Severus nur sehr schwer in die Gänge. Er wünschte sich den Sonntag zurück und rutschte tiefer unter die Decke. Sissy versuchte immer wieder, ihn zum Aufstehen zu bewegen, aber er hörte einfach nicht darauf. Erst als sie sagte: „Wenn Master Snape zu spät kommt, geht Master Lockhart hin und macht Zaubertränke“, sprang er knurrend aus dem Bett.
Snape kam zum Frühstück in die Große Halle etwa zehn Minuten, nachdem die Eulen Post und Zeitungen für die Schüler gebracht hatten. Es summte wie in einem Bienenschwarm. Tagespropheten wurden hin und her gereicht, Schüler diskutierten und gestikulierten. Am Angestelltentisch beugten sich Madam Pomfrey und Elly über eine Zeitung; Phillipp Kirby hatte ebenfalls ein Blatt vor sich liegen und formte wie ein Schulanfänger die Worte mit den Lippen. Während er seinen Haferbrei löffelte, beobachtete Severus die Schüler. Ihm fiel auf, dass immer wieder mal jemand zu ihm hochsah; manch ein Blick wanderte auch zum Angestelltentisch. Dort war Lockharts Platz wie immer um diese Zeit noch leer, der Gockel brauchte morgens lange, um seine Federn zu richten.
Severus schob seinen Teller weg und langte nach einer Zeitung, die wohl einer der Kollegen vergessen hatte. Für einen Moment wurde es still in der Halle, dann setzte ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert ein. Snape sah hoch. Soeben war Lockhart eingetreten, wie immer perfekt gestylt (auch wenn er das pink-gelbe Ensemble in der letzten Zeit ungewöhnlich oft getragen hatte). Das strahlende Lächeln verschwand von seinem Gesicht, als er merkte, dass die Pfiffe ihm galten.
Severus war sich nicht sicher, ob er für Ruhe sorgen sollte oder nicht. Er senkte den Blick auf die Zeitung; die Überschrift sprang ihm geradezu in die Augen: „Erfolgsautor als Lügner entlarvt“, darunter zwei Bilder von der Lesung vom Samstag – eines mit Lockhart, wie er dümmlich grinsend auf die Zuschauer herunterblickte und eines mit Snape beim Interview. Deshalb also die Pfiffe!
Severus stand auf und schlug den großen Gong, der hinter dem Lehrertisch stand. Eine Staubwolke wirbelte auf; der Gong war schon lange nicht mehr benutzt worden. „Ich bitte darum, diese Missfallenskundgebungen einzustellen. Beenden Sie Ihr Frühstück und begeben Sie sich in die Klassenräume.“ Mehr fiel Severus jetzt nicht ein.
Zum Glück konnte auch ein Zauberer nicht mit bloßen Blicken töten, sonst wäre nicht viel von ihm übriggeblieben. Dennoch jagte Lockharts wilder Blick einen Schauer über Snapes Rücken. Er rannte in sein Büro, warf Flohpulver in den Kamin und hoffte, dass in Roger Chapmans Praxis so früh schon jemand anzutreffen war. In der Eile beugte er sich zu weit vor und landete, den Kopf voran, in einer Staubwolke. Das erste, was er sehen konnte, war ein Zauberstab, auf seine Stirn gerichtet. Hustend richtete er sich etwas auf. Chapman steckte kopfschüttelnd seinen Zauberstab weg und half Severus hoch. „Was verschafft mir denn die Ehre eines so effektvollen Auftritts zu dieser frühen Stunde?“
„Lockhart. Ich glaube, er dreht durch“, würgte Severus immer noch hustend hervor. „Die Schüler haben ihn ausgepfiffen.“
Chapman hob den „Tagespropheten“ hoch. „Deswegen wahrscheinlich.“ Severus nickte.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Kommen Sie.“
Severus fühlte noch, wie er in den Kamin geschoben wurde, ein Sausen und Wirbeln und schon rutschte er in seinem Büro auf den Kaminvorleger, neben ihm Chapman. Während sie ihre Kleider säuberten, sagte Chapman: „Ach ja, das gute alte Hogwarts. In diesem Büro bin ich allerdings nie gewesen. Weder habe ich zu den Lieblingen von Professor Slughorn gehört noch hatte ich Ärger mit ihm. Dafür habe ich bei Miss Lunders um so öfter nachgesessen.“
Snape grinste. Auch er hatte so gewisse Erinnerungen…
Im Sturmschritt liefen die beiden in Richtung Große Halle. Etliche Schüler kamen ihnen entgegen. Snape sah angstgeweitete Augen und Fassungslosigkeit in den Gesichtern. Jemand rief: „Sie sollten da jetzt besser nicht reingehen, Professor Snape!“, aber er kümmerte sich nicht darum. Flitwick, Sprout und Fairbanks erreichten kurz vor Snape und Chapman die Tür. Ihnen bot sich ein furchtbarer Anblick. Um den Angestelltentisch herum lag einiges in Trümmern und Fetzen; Madam Pomfrey und Elly kümmerten sich um ein paar Schüler, die offenbar Zauber abbekommen hatten. Phillipp Kirby hielt Gilderoy Lockhart von hinten umklammert und wand dem Tobenden den Zauberstab aus der Hand. Mit Lockharts eigenem Stab lähmte Kirby ihn; wie ein nasser Sack sank Lockhart zusammen.
Roger Chapman hatte eine Zwangsjacke hervor- und Lockhart hineingezaubert, ehe Professor Sprout etwas sagen konnte. Im gleichen Moment kam das Medi-Magier-Notfall-Team angerannt. Severus kam die Galle hoch. Der Chef war Jim Brown, der Hasenfuß, der damals in den Schwefelsümpfen einfach disappariert war. Brown stritt sich mit Chapman, wer von ihnen Lockhart mitnehmen sollte. Chapman bestand darauf, dass Lockhart in die Hände eines erfahrenen Seelenklempners gehörte und ohnehin sein Patient sei und behielt die Oberhand. Er warf Lockhart einen Umhang über die Zwangsjacke und führte ihn mit sanften Druck aus dem Haus.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Wogen wieder glätteten. Die ersten beiden Stunden wurden abgesagt; Severus nutzte die Zeit zum Zeitunglesen. Der Tagesprophet brachte nicht nur Rita Kimmkorns Artikel über Lockharts Lesung mit dem kompletten Interview mit Snape, sondern auch eine umfangreiche Aufstellung von Schmiergeldern, die Dolores Umbridge an verschiedene Stellen im Ministerium gezahlt hatte, um ihr persönliches Ziel zu erreichen – Macht und immer mehr Macht zu haben. Sie hatte Verwandte und Bekannte in guten Stellungen untergebracht und so dafür gesorgt, dass ihre geheimen Anweisungen durchgesetzt wurden. Gilderoy Lockhart, Dustin Sticky und etliche andere wurden namentlich als ihre Marionetten genannt; Schmiergeld empfangen hatte auch Rufus Scrimgeour. Die Frage, woher Umbridge das Geld dafür hatte, wurde auch beantwortet: sie hatte für Lucius Malfoy Geschäfte abgewickelt und dabei kräftig in die eigene Tasche gewirtschaftet.
Hollaho! Snape atmete tief durch und blätterte um. „Selbstverständlich“ waren Umbridge und alle anderen vom Dienst suspendiert, Scrimgeour übergab bis zur vollständigen Klärung des Falles die Amtsgeschäfte an seinen Stellvertreter (der angeblich von der Affäre nichts gewusst hatte).
George Bligh war vor etlichen Jahren schon mit Berufsverbot belegt worden und hatte sich die Stelle in Hogwarts durch gefälschte Papiere erschlichen. Er musste die Schule sofort verlassen; die Praktikantin vom Magical Arts College, die ihm ohnehin zugeteilt war, würde bis zum Schuljahresende Verwandlung unterrichten. Severus stockte der Atem, als er die gutgebaute Blondine wiedererkannte.
Unnötig zu erwähnen, dass schon am Dienstag Remus Lupin seine Tätigkeit wieder aufnahm und Willy, der Hauself, zu seinem angestammten Meister zurückkehrte.
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