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Das zweite Leben des Severus Snape - Begegnungen

von käfer

Ein paar Tage später flatterte eine Eule in sein Zimmer und brachte einen Brief vom Chef des St. Mungo´s. Die Leitung des Hospitals bat ihn, zum einen rechtzeitig vor dem nächsten Vollmond im Krankenhaus zu erscheinen und den Wolfsbann-Trank herzustellen, zum anderen sollte er ausgewählte Mitarbeiter in der Herstellung unterweisen. Der Brief schloss mit den Worten: „Fürstliche Honorare können wir Ihnen nicht zahlen, aber mit einer kleinen Entschädigung dürfen Sie durchaus rechnen.“ – Snape grinste schief. Er hätte das auch ganz ohne Honorar gemacht; irgendjemand musste ja den Trank herstellen können, wenn er verurteilt war. Aber er konnte jeden Knut gebrauchen und würde die „kleine Entschädigung“ nicht ablehnen.

Pünktlich zum vereinbarten Termin marschierte Snape durch das „Schaufenster“ des scheinbar verlassenen Kaufhauses, kein Muggel merkte, dass ein Passant plötzlich einen Schritt zur Seite gemacht hatte und verschwunden war. Christoph Christophersen, der Leiter des Hospitals, empfing ihn persönlich, heftete ihm ein Schild mit der Aufschrift „Severus Snape. Freier Mitarbeiter – Tränkeabteilung“ an die Brust und führte ihn durch endlose Gänge in die Giftküche.
An meterlangen Tischen waren Gestalten in weißer Schutzkleidung an brodelnden Kesseln beschäftigt. In einer Ecke war eine Tafel mit Kochplatz frei, darauf befanden sich Berge von Zutaten in Flaschen, Gläsern, Körben. Christophersen zeigte darauf. „Hier ist alles, was Sie aufgeschrieben haben. Das müsste für drei große Kessel reichen, wie verabredet an drei Tagen hintereinander.“ „In Ordnung, ein Kessel heute, einer morgen, einer übermorgen..“ Der Hospitalchef verschwand, Snape trat an den Tisch und sichtete die Zutaten. Sicherheitshalber verglich er noch einmal mit dem Rezept; es war alles da. Konzentriert arbeitete er mehrere Stunden lang, dann kam das 77minütige Rühren. Der Kessel war noch größer als das letzte Mal, aber Snape hatte genau aufgepasst, was Potter machte, damit der Löffel alleine arbeitete. Jetzt kam der entscheidende Moment. Snapes Herz schlug bis zum Halse, er hatte feuchte Hände. Die anderen Tränkemacher sahen verstohlen zu ihm herüber. Er durfte sich jetzt nicht blamieren. Snape schloss die Augen und konzentrierte sich. Einatmen, ausatmen, ein, aus, ein, aus… Schließlich hob er den Zauberstab, tippte den Rührlöffel an und sagte den Spruch auf. Brav fing der gewaltige Silberlöffel an, in dem Brei herumzufahren, siebenmal im Uhrzeigersinn, siebenmal dagegen. Erleichtert atmete Snape auf, gönnte sich einen Becher Kaffe aus der Thermoskanne und ein Sandwich, dann räumte er den Tisch auf und legte die Zutaten für den nächsten Tag bereit.
Das Verteilen des Trankes überließ Snape den Heilern des St. Mungo´s, er musste zur Arbeit in den Buchladen. In dem Gang vor der Giftküche hatte sich eine lange Schlange von bleichen, mitgenommen wirkenden Leuten gebildet. Kleine Kinder sahen mit riesigen, von tiefen Schatten umrandeten Augen zu ihm auf. Eine Frau mit schlohweißen Haaren trat Snape in den Weg. Sie hielt ein Kind auf dem Arm, das garantiert noch kein Jahr alt war. Snape sah, dass sie noch sehr jung sein musste. „Professor Snape“, flüsterte sie, „bitte machen sie mein Kind wieder gesund.“ Sie streifte dem Kind den Ärmel hoch; leuchtend rote Narben von einem Biss wurden sichtbar. „Machen Sie, dass er sich nicht mehr verwandelt, bitte!“ Snape sah die Frau an. Jetzt fielen ihm die Spuren von Kratzern in ihrem Gesicht und an den Händen auf. Das Sprechen fiel ihm schwer, er wusste nicht, was er der Frau hätte tröstendes sagen können, also entschied er sich für die harte, traurige Wahrheit. „Ich kann das nicht heilen“, flüsterte er. „Es gibt kein Mittel, das eeinen Werwolf wirklich heilt. Und niemand weiß, ob es jemals etwas anderes als den Wolfsbann-Trank geben wird.“ Mit leeren Augen trat die Frau wieder in die Schlange zurück. Snape ging weiter, es war wie Spießrutenlaufen. Schläge wären ihm lieber gewesen als all die fragenden Blicke.
Das Bild der verzweifelten Mutter mit dem Baby auf dem Arm brannte sich fest in Snapes Gedächtnis ein. Vor dem Schlafengehen legte er die Hand auf Dumbledores Aufzeichnungen und schwor, nach einem Heilmittel für Werwölfe zu suchen, falls er am 5. Mai freigesprochen werden sollte.

Am nächsten Tag ergab es sich, dass die Tränkemacher gerade zur Pause gingen, als Snape mit seinem Trank so weit war, dass der Rührlöffel alleine arbeiten konnte. Gegen seine Gewohnheit ließ er die Abfälle und Reste, wie sie waren, und inspizierte die Giftküche. Fasziniert las er die Etiketten der Tränkezutaten in dem scheinbar endlosen Regal an der Wand. Viele der in Ballons, Gläsern oder dicken Glasflaschen gelagerten Ingredienzien waren ihm bekannt, sie hatten zu seinem gut gefüllten Vorratslager in Hogwarts gehört. Manches hätte er damals gern besessen, aber nie bekommen können; einiges war ihm völlig unbekannt. Mechanisch nahm er Notizbuch und Stift (den Kugelschreiber, den ihm Arthur Weasley geschenkt hatte) und schrieb die fremden Namen auf. Dann fiel ihm ein, dass er wohl kaum noch Gelegenheit haben würde, zu erkunden, worum es sich bei diesen Zutaten handelte und wofür sie gebraucht wurden. Seufzend steckte er das Schreibzeug in seinen Umhang, zog aber den Kugelschreiber wieder heraus und betrachtete ihn. Ob man so einem Ding wohl genauso diktieren konnte wie einer entsprechend verzauberten Feder? Einen Versuch wäre es wert. Snape drehte sich um und wollte zu seinem Tisch zurückgehen, da bemerkte er die schmale Tür am Ende des Raumes. Offen! Snape spähte in einen langen, dunklen Gang, der nur ganz am Ende von einer müden Lampe erhellt wurde. Er hastete auf das Licht zu und fand eine weitere Tür, die in ein Treppenhaus führte. Aufatmend kehrte Snape an den Arbeitstisch zurück. Wenn er fertig war, würde er einfach durch diese Tür gehen und von da einen Weg nach draußen suchen.
Gerade wollte Snape ausprobieren, ob sein Kuli auch von alleine schrieb, da kamen die anderen vom Essen zurück. Schnell ließ er Notizbuch und Stift wieder verschwinden und räumte seinen Tisch auf. Später verschwand er wie geplant durch den zweiten Ausgang aus der Giftküche. Nach einigem Suchen fand er sich im Foyer wieder und verließ unbehelligt das Hospital.
Zu Snapes großer Freude kam am Tag darauf Christoph Christophersen an seinen Arbeitstisch und übergab ihm das ausgemachte Honorar. Snape brauchte das Geld ja nur bis zum 5. Mai, also beschloss er, während der 77mnütigen Rührzeit in die Cafeteria zu gehen und richtig zuzuschlagen. Zu seiner Enttäuschung gab es dort aber nur Kaffee, Tee, Kürbissaft, ein paar Sandwiches und trocken aussehenden Kuchen. Da er nicht weiter weg konnte, entschloss er sich zu einer Tasse Kaffee und einem Käsesandwich. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte bitter, das Sandwich war pappig. So ein Reinfall.
Beim Essen wanderten Snapes Gedanken wieder einmal zu der bevorstehenden Gerichtsverhandlung. Bei einer solchen Anklage hatte er kaum eine Chance, ungeschoren davonzukommen. Er wollte auch nicht unbedingt davonkommen, aber ganz abzutreten war allemal besser als ohne Aussicht auf ein Ende der Gefangenschaft in Askaban zu schmoren. Wieder und wieder rief er sich ins Gedächtnis zurück, wie seine „Karriere“ als Schwarzer Magier begonnen hatte. Eines stand für Snape fest: egal, was gefragt wurde, er würde wahrheitsgemäß antworten.
In Gedanken versunken ging er durch die Flure, die jetzt, zur Zeit der Mittagsruhe, menschenleer waren. Verflixt, jetzt hatte er sich verlaufen! Langsam ging Snape weiter und versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den er genommen hatte. Die Treppe ´runter und dann zweimal rechts – war er so gegangen oder doch an der zweiten Kreuzung geradeaus? Hinter sich hörte Snape Schritte. Sollte er fragen? Er sah auf die Uhr. Noch hatte er Zeit; erst mal wollte er selber versuchen, den Weg in die Giftküche zu finden. Das konnte doch so schwer nicht sein! Die Schritte wurden schneller, eine Frau rief erstaunt: „Niclas, Nick! Du kannst je wieder laufen! Ooooch!“ Und schon sprintete die Frau los. Snape trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, konnte aber keinen „Nick“ entdecken. Unmittelbar neben ihm blieb die Fremde abrupt stehen. „Nick?“ fragte sie zaghaft. Snape schüttelte den Kopf. Die Frau flüsterte: „Sie sind nicht mein Mann, nein, Entschuldigung.“ Urplötzlich warf sie sich zu Boden, fing an zu schreien und mit den Fäusten auf den Boden zu trommeln. Snape stand daneben und wusste nicht, was er tun sollte. Das Schreien wurde immer lauter und hysterischer, die Frau fing an, mit dem Kopf auf den Fußboden zu schlagen, dann wälzte sie sich wild herum. Snape bekam einen Tritt gegen sein linkes Schienbein, das brachte ihn zur Besinnung. Er bückte sich, packte die Rasende an den Schultern, aber es gelang ihm nicht, sie zu halten. Snape rief um Hilfe. Aus der Tür gegenüber schaute ein verschlafener Mann mit einem verbundenen Auge, sagte „Au weiha“ und verschwand wieder. In den Krankenzimmern hatten sie wohl die Möglichkeit, die Heiler zu rufen, jedenfalls kam beinahe auf der Stelle einer angerannt. Mit einem gut gezielten Lähmfluch stoppte er das Toben. Snape schämte sich. Auf die Idee hätte er eigentlich selber kommen können. Unschlüssig, ob er weggehen durfte oder nicht, blieb er stehen. Eine Trage schwebte heran, die Frau wurde daraufgelegt und festgeschnallt. Voller Panik schaute die Frau abwechselnd den Heiler und Snape an. Der Heiler strich der Frau die Haare aus der Stirn und besah sich eine kleine Platzwunde. „Mrs. Snape“, fragte er, „was ist denn mit Ihnen los? Sie sind doch sonst so tapfer, warum werden Sie nur auf einmal so hysterisch?“ Die Frau auf der Trage begann am ganzen Körper zu zittern; Snape erstarrte. „D-d-d-der da, d-d-der sieht aus w-w-wie mein Mann!“ stotterte die Frau und starrte Snape mit aufgerissenen Augen an. Der Heiler drehte sich um und betrachtete Snape. Dem wurde allmählich heiß. Wer war diese Frau? Hatte er richtig gehört, hatte der Heiler sie wirklich mit „Mrs. Snape“ angesprochen? „Sie haben recht, er sieht aus wie Ihr Mann“, sagte der Heiler. „Severus Snape. Freier Mitarbeiter Tränkeabteilung“, las er Snapes Schild vor. „Severus SNAPE?“ Irritiert wanderten die Augen des Heilers zwischen der Frau und Snape in und her.
Zwei weitere Heiler erschienen; der erste wies sie an, sich um Mrs. Snape zu kümmern. Diesmal hatte Severus es deutlich verstanden. Der Heiler wandte sich an ihn: „Sir, würden Sie mir bitte in mein Büro folgen? Ich möchte Sie etwas fragen.“ Wie im Trance folgte Snape dem Mann. Stumm setzten die beiden Männer sich gegenüber an einen Schreibtisch und musterten einander. Der Heiler war ein älterer, ruhig und vertrauenerweckend aussehender Mann mit braunen Augen und gewellten grauen Haaren. Nach einer Weile sagte er: „Ich sollte mich vielleicht erst einmal vorstellen. Ich bin Thomas Astley und hier als Leitender Heiler für die Station zuständig. Sie ähneln unglaublich einem Patienten, den wir seit Wochen versuchen, wieder auf die Beine zu bringen. Und Sie tragen auch den gleichen Familiennamen, der ja nicht gerade häufig vorkommt. Sind Sie verwandt mit Niclas Snape?“
Severus sah sich auf dem Fußboden inmitten von Bauklötzen sitzen, die Eltern kamen zur Tür herein. Die Mutter trug ein Bündel auf dem Arm, der Vater forderte ihn auf, aufzustehen und das Bündel anzusehen. Etwas wie eine Puppe mit beweglichem Gesicht und zappelnden Fingern lag darin. „Das ist Niclas, dein kleiner Bruder. Sei immer lieb zu ihm, hörst du?“ Severus nickte. In dem Moment öffnete das Baby den Mund und spuckte etwas weißes, eklig säuerlich riechendes aus. Hektisch drehte die Mutter sich um…
„Mein Bruder hieß so“, sagte Snape leise zu dem Heiler.
„Ihr Bruder – hieß – so? Ist er gestorben?“ – „Ich weiß es nicht. Wir sind mit dem Auto verunglückt, da war ich so etwa vier Jahre alt, mein Bruder war noch ein Baby. Man hat mir gesagt, dass meine Eltern tot sind, aber von meinem Bruder habe ich nie wieder etwas gehört.“
„Bei wem sind Sie denn aufgewachsen?“ – „St. Anne´s Kinderheim, Manchester.“ – „Oh“, machte Mr. Astley. „Hatten Sie keine Verwandten, die sich um Sie kümmern konnten?“ „Anscheinend nicht, mich hat nie jemand besucht.“
„Das könnte passen. Niclas hat mir erzählt, dass er der einzige war, der den Unfall unverletzt überstanden hat. Eine Polizistin hat sich um ihn gekümmert und die Großeltern Snape ausfindig gemacht. Die haben ihm später erzählt, dass er noch einen Bruder gehabt hätte, der aber einen Hirnschaden hätte und in einer Anstalt leben würde. Sie waren Muggel und hatten für Zauberei nichts übrig. Niclas Snape durfte keine Zaubererschule besuchen, obwohl er nach Hogwarts gekonnt hätte.“ Thomas Astley schüttelte den Kopf.
„Kein Wunder, dass Mrs. Snape Sie für Ihren Mann gehalten hat. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Ihnen fehlt nur der Leberfleck unter dem rechten Auge.“
Snape sprang auf. „Ein Leberfleck unter dem rechten Auge? Oval und ganz dunkel?“ Astley nickte. „Den hatte meine Großmutter auch, die andere, ich meine, die Mutter meiner Mutter!“
Astley erhob sich. „Wahrscheinlich sind Sie tatsächlich der verlorene Bruder von Niclas Snape. Das, was Ihre Großmutter als ´Hirnschaden´ bezeichnet hat, war wohl nichts anderes als die Fähigkeit zu zaubern.“ – „Und die Anstalt hieß Hogwarts.“ - „Sicher“, sagte Astley. „Wissen Sie was – können Sie morgen Nachmittag wieder herkommen? Ihrem Bruder geht es nicht besonders gut. Ich werde erst mal mit ihm reden; ich glaube, das ist besser, als wenn Sie jetzt zu ihm hereinplatzen. Severus nickte. „Gut.“ Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Er erschrak. Nur noch fünf Minuten, dann musste er die letzten Zutaten in den Wolfsbann-Trank tun. „Sir, bitte verzeihen Sie, aber ich muss jetzt ganz schnell in die Giftküche zu meinem Trank. Wenn ich zu spät komme, verliert er viel von seiner Wirkung.
Nur – ich kenne den Weg nicht, ich muss zugeben, dass ich mich ein bisschen verirrt habe.“
Thomas Astley grinste. „Kein Problem, ich führe Sie runter. Sie sind nicht der erste, der hier im St. Mungo´s den falschen Gang erwischt hat. Kommen Sie, folgen Sie mir.“
Aufatmend schloss Snape sich dem Heiler an. Der fĂĽhrte ihn den Gang entlang, bog einmal links, einmal rechts ab und dann fanden sie sich auf der schmalen Treppe zum Hintereingang der GiftkĂĽche wieder.
Innerlich aufgewühlt verließ Snape eine halbe Stunde später das St. Mungo´s. Am Abend, allein in seinem Zimmer im Grimmauld Place 12 holte er die Erinnerungsstücke an seine Eltern heraus: die dünne silberne Kette mit dem Herzchen daran, die er in Spinners End im Nachtschränkchen gefunden hatte, den Teddy, der halb unter dem Gitterbett verborgen gewesen war; Tassen mit den Namen seiner Eltern – der einzige Inhalt einer Vitrine im Wohnzimmer. Als er, vierzehnjährig, zum ersten Mal nach dem Tod seiner Eltern in das Haus zurückgekehrt war, hatte er die Wohnung ziemlich ausgeräumt vorgefunden. Die Schränke waren leer gewesen, in der Küche befand sich nur ein bisschen angeschlagenes Geschirr, keine Kleidung, kein Schmuck, keine Nippes, nichts. Nur das Regal mit den magischen Büchern war voll. Wer mochte die Sachen genommen haben? Die Eltern seines Vaters? Möglich war es, ja sogar wahrscheinlich, sie waren Muggel, die wertvollen Zauberbücher hatten sie stehen gelassen.
Noch einmal sah er die Fotos durch. Ein zweites Bild von der Hochzeit seiner Eltern fiel ihm auf, das musste er beim ersten Mal übersehen haben. Snapes Herz klopfte schneller. Hinter den Brautleuten standen ihre Eltern. Da war die Mutter seines Vaters. Sie wirkte auf dem Bild so streng, wie er sie in Erinnerung hatte. Ständig hatte sie an Mummy herumgenörgelt und sie hatte darauf bestanden, dass er sie mit „Mrs. Snape“ und „Madam“ anredete. An die beiden Großväter hatte er überhaupt keine Erinnerungen, wohl aber an ´Granny Prince´. Sie hatte ihm immer Schokofrösche zugesteckt und von ihr hatte er seine ersten kleinen Zaubereien gelernt…
Das Muttermal war auf dem Foto deutlich zu sehen – war das der Beweis dafür, dass Niclas Snape sein Bruder war?
Snape griff nach dem Stammbaum und breitete ihn auf dem Tisch aus. Die Schrift war wirklich winzig, aber sehr deutlich. Er ließ die Augen über das Pergament wandern, bis er einen bekannten Namen entdeckte: „Dumbledore“. Neben „Daisy“ hatte jemand – der Handschrift nach musste es Albus gewesen sein – zwei Kringel für das Zeichen der Eheschließung gemacht und daneben „Harold Prince“ geschrieben. Eileen war das einzige Kind der beiden; auch hier waren wieder die Kringel, daneben stand „Tobias Snape“. Zwei Striche waren für die Kinder der Snapes gezogen, an dem einen fand er seinen eigenen Namen, der zweite war mit einer kurzen Notiz versehen: „?Zweites Kind nicht mehr auffindbar.“ Snape rückte das Pergament zurecht, da fiel ihm unter dieser Notiz ein Datum auf. Er rechnete nach; Niclas musste damals so 15, 16 gewesen sein. Hatte Dumbledore tatsächlich nach seinem Bruder gesucht – und ihn nicht gefunden? Warum war Niclas „nicht mehr auffindbar“? Warum stand kein Name dort? War der Mann in St. Mungo´s sein Bruder – oder war das alles nur ein dummer Zufall? Snape musste sich Gewissheit verschaffen – aber wie?

Die halbe Nacht lag Severus wach, grübelte und versuchte, sich an Einzelheiten von seinen Eltern und Großeltern und an seinen Bruder zu erinnern. Hatte das Baby ein Muttermal gehabt oder nicht? Warum hatte Dumbledore den Namen seines Bruders nicht gewusst? So sehr er sich auch bemühte, sich an Mrs. Snape zu erinnern – er sah sie immer wieder nur groß und drohend in der Küche stehen und auf seine Mummy einschimpfen. War diese Person damals der Anlass für die Streitereien zwischen seinen Eltern gewesen? Waren sich die beiden Großmütter nach der Hochzeit je wieder begegnet? – Fragen über Fragen, keine einzige Antwort.

Im Morgengrauen erst fiel Snape in den tiefen Schlaf der Erschöpfung, um kurz darauf vom Wecker gestört zu werden. Heute war Meldetag, also sputete er sich und war der Erste in der Besucherreihe beim Sicherheitsmann. Das Melden selber dauerte nur eine Minute. Die Minerva-McGonagall-Doppelgängerin grüßte, nickte und machte in einer Liste hinter seinem Namen einen Haken. Snape hatte schon überlegt, ob es wohl auffallen würde, wenn er jemanden dazu brachte, sich mit Vielsafttrank zu verwandeln und als Severus Snape ins Ministerium zu gehen, aber er wollte nichts riskieren.
Heute jedoch beschäftigte ihn die Frage, wie er auf die Schnelle herausbekommen konnte, was aus seinem Bruder geworden war. In Gedanken versunken wie er war, wäre er beinahe mit Arthur Weasley zusammengestoßen. „Ah, Arthur, dich schickt der Himmel. Ich brauche deine Hilfe, können wir irgendwo ungestört reden?“ Arthur Weasley schaute etwas verwundert drein, lud Snape aber dann in sein Büro ein.
„Was gibt´s denn, wobei ich dir helfen könnte?“ – „Im Ministerium werden doch alle Zauberer und Hexen registriert, oder nicht?“ Weasley wunderte sich noch mehr. „Ja, alle, die magische Kräfte haben, werden registriert. Dafür gibt es eine extra Abteilung oben unterm Dach. Suchst du jemanden?“ – „Ja, meinen Bruder.“ – „Deinen – du hast einen Bruder?“
Snape nickte. „Zumindest hatte ich einen. Er war, ich glaube vier Jahre jünger als ich. Als meine Eltern bei einem Autounfall gestorben sind, war Niclas noch ein Säugling.
Er war auch mit in dem Auto, aber ich war ewig im Krankenhaus und habe nie wieder was von ihm gehört. Bis gestern. Im St. Mungo´s liegt einer, der Niclas Snape heißt und mir auch noch ähnlich sieht und behauptet, dass er mal einen Bruder hatte. Ich muss Gewissheit haben, verstehst du, und zwar schnell. Der Heiler will unbedingt, dass ich heute Nachmittag hinkomme und meinen verlorenen Bruder wiederfinde.“
Arthur Weasley kratzte sich am Kinn. „Hm, das wird nicht leicht. Ich weiß nicht, was die alles registrieren, und ob es überhaupt möglich ist, zu sagen, ob dieser Mann dein Bruder ist oder nicht. Am besten, wir gehen mal zusammen hoch, vielleicht kann ich Melinda Browse dazu bringen, sofort nachzusehen.“
Snape bedankte sich und folgte Weasley zu den Aufzügen. In der obersten Etage stiegen sie aus. „Registraturabteilung: 2. Treppe rechts“ stand auf einem Schild.
Sie stiegen eine steile, staubige Treppe nach oben, der anschließende Gang war schmaler als die anderen Korridore im Ministerium. „Registraturabteilung: Melinda Browse“ verkündete ein leicht verblichenes Pappschild. Weasley klopfte an und legte das linke Ohr an die Tür. Nach einer Weile war ein krächzendes „Herein“ zu hören; Snape erwartete, in dem Zimmer einen Papagei vorzufinden.
Der Raum, in den sie traten, war riesig. Schränke mit Karteikarten-Kästen reihten sich aneinander, soweit das Auge reichte. Staub flimmerte in der Luft, es roch nach alten Akten. Eine niedrige Barriere teilte eine kleine Fläche für Besucher ab; an einem rieseigen, uralten Schreibtisch saß eine riesige, uralte, spindeldürre Hexe. Sie setzte einen altmodischen Kneifer auf die Nase und lächelte erfreut, als sie Arthur Weasley erkannte. „Ach, Arthur, ist das schön, dass du wieder mal hier hoch in mein einsames Reich kommst. Wie geht´s denn deinen Kindern, gut hoffe ich.“ Arthur Weasley hatte kaum Zeit, zu nicken, geschweige denn ein Wort zu sagen, da redete die Alte schon weiter. „Ja, weißt du, mit den Kindern, das ist so eine Sache – Kleine Kinder, kleine Sorgen; große Kinder, große Sorgen. Also, was meine jüngste Enkelin ist, die Lucy, ja, die hat jetzt mit ihrem Freund Schluss gemacht, nein, er mit ihr, und jetzt hat sie Liebeskummer und denkt, die Welt geht unter und alle Kerle sind doof und…“ Melinda Browse redete noch eine halbe Stunde ohne Punkt und Komma weiter, ab und zu richtete sie eine Frage an Arthur Weasley, die sie immer gleich selbst beantwortete. Snape wurde von ihr ignoriert. Als Mrs. Browse jedoch von den Kümmernissen ihrer Enkelin zu den Problemen von deren Mutter wechseln wollte, hatte Snape genug und wollte laut werden. Der viele Staub jedoch kitzelte ihn in der Nase; er musste mehrmals hintereinander heftig niesen. Die Wirkung war die gleiche, als hätte er mit der Faust auf den Tisch gehauen. Die Beamtin fuhr zusammen und starrte ihn mit offenem Mund und geweiteten Augen an. Weasley nutzte die Gelegenheit und stellte ihr Severus Snape vor. „Mr. Snape sucht nach einem verschollenen Bruder. Melinda, könntest du vielleicht gleich einmal nachsehen, es ist ziemlich dringend.“ Melinda Browse betrachtete Snape über den Rand ihres Kneifers hinweg. „Ihren Bruder, sagen Sie?“ Sie griff diensteifrig nach einem Formular. „Aus welchem Grund brauchen Sie Auskünfte über Ihren Bruder? Nicht-Ministeriums-Mitarbeiter müssen berechtigtes Interesse an der gesuchten Person nachweisen können.“ Snape hoffte, dass sein Anliegen als „berechtigtes Interesse“ durchging: „Wir wurden als ganz kleine Kinder getrennt, nachdem unsere Eltern gestorben waren. Jetzt ist jemand aufgetaucht, der mein Bruder sein könnte. Ich brauche Gewissheit, ob er es ist oder nicht.“
„Ach ja, verstehe.“ Mrs. Browse schrieb etwas in das Formular und reichte es Snape dann über den Tisch zum Ausfüllen. „Schreiben Sie bitte alles auf, was Sie über Ihren Bruder und Ihre Eltern, Großeltern und sonstige Verwandte wissen. Je mehr Angaben Sie machen, desto besser.“
„Nachfrage zum Verwandtschaftsverhältnis wg. Erbschaftsangelegenheit“ hatte Mrs. Browse als Grund für die Nachfrage angegeben. Besser so als abgelehnt, dachte Snape und machte sich ans Ausfüllen. Viel wusste er nicht über seine Verwandten, bei Niclas Geburtsdatum konnte er nur ein Fragezeichen machen und das ungefähre Jahr angeben, Wohnorte kannte er auch keine. „Ist das alles, was Sie wissen?“, fragte Melinda Browse verärgert. - „Ja, tut mir leid. Bis vor kurzem habe ich geglaubt, überhaupt keine Familie mehr zu haben.“
„Hm, hm, hm“, machte Mrs. Browse, „das wird eine harte Nuss. Aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann. Immerhin haben wir die Namen und das Todesdatum Ihrer Eltern.“
Ein Memo flatterte herein. Melinda Browse las die Nachricht, murmelte: „Wenn´s weiter nichts ist“, erhob sich, nahm den Kneifer ab und marschierte zwischen die vierte und fünfte Schrankreihe. Dort blieb sie stehen, schloss die Augen, hob beide Hände und bewegte sie beschwörend in einem komplizierten Muster auf und ab. Nach zwei, drei Minuten hielt sie inne, ging wie im Trance zu einem Schubfach, zog es auf, griff mitten hinein und zog eine Karteikarte heraus. Sie setzte den Kneifer wieder auf, las, was auf der Karte geschrieben stand, schob sie an ihren Platz zurück, ging zum Schreibtisch, notierte etwas auf dem Memo und ließ es starten. Dann starrte sie Arthur Weasley an. „Was wolltest du eigentlich von mir, Arthur?“ – „Nichts, ich habe nur Mr. Snape hergebracht, er sucht seinen Bruder.“ – „Ach ja, stimmt.“ Sie nahm das Formular in die Hand. „Wenn sie in einer Stunde wiederkommen, kann ich Ihnen sagen, was ich herausgefunden habe.“
„Danke, Mrs. Browse“, sagte Snape und folgte Arthur Weasley, der den Raum ziemlich eilig verlassen hatte. Draußen sagte Weasley: „Melinda Browse ist ein Unikum. Sie hält sich für eine Detektivin und Ahnenforscherin. Einfache Aufträge sind unter ihrer Würde, aber je länger eine Sache zurückliegt oder je geheimnisvoller und verbrecherischer sie klingt, um so eifriger sucht sie. Allerdings hat Scrimgeour sie verpflichtet, Anfragen von Ministeriumsmitarbeiter sofort zu bearbeiten, nachdem Peter Brown mal vier Wochen auf eine simple Adresse gewartet hatte. - Eins ist Fakt: Melinda Browse arbeitet gründlich. Wen sie nicht findet, der ist kein Zauberer.
Aber wehe, wenn die Gute ins Schwatzen kommt. Das hast du ja gerade miterlebt. Dein Niesanfall kam genau im richtigen Moment, sie hätte sonst den ganzen Vormittag geschwafelt. Deshalb geht auch keiner persönlich hin, alle schicken nur noch Memos.“
Snape grunzte zustimmend. Weasley sah auf die Uhr. „Ach du Schreck, ich muss sofort zu einer wichtigen Besprechung. Mach´s gut, bis bald.“ Arthur eilte davon und ließ Snape stehen wo er war. Auch gut; Snape ging in die Besucherkantine, ließ sich einen Kaffee und die Tageszeitung geben und verbrachte die Stunde ungestört. Als er wieder in der Registraturabteilung erschien, strahle Melinda Browse ihn an und reichte ihm mehrere beschriebene Blätter. „Hier, ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, was ich über Ihren Bruder zusammentragen konnte. Wenn Sie ihn sehen, fragen Sie nach den Fakten hier; wenn er wirklich Ihr Bruder ist, müsste er das alles wissen.
Und dann habe ich in Ihrer Akte etwas gefunden, was Sie interessieren dürfte. Er sind die zusammengehefteten Blätter hinten dran. Sie können das gern behalten, ich habe für Sie Kopien gemacht. Die Originale müssen hier bleiben, das verstehen Sie sicher.
Werden Sie heute noch Ihren Bruder aufsuchen, bzw. den Mann, der behauptet, Ihr Bruder zu sein?“ – „Ja, werde ich.“ – „Dann passen Sie genau auf; nicht, dass Sie am Ende noch um Ihr Erbe betrogen werden.“ Snape dachte an das abgerissene Haus und antwortete belustigt: „Da gab es gar nichts zu erben, also brauchen wir uns auch nicht zu streiten.“ – „Hoffentlich glaubt Ihnen Ihr Bruder das. Ich kenne da einen Fall, da hat eine Schwester die andere erst in ein Heim, dann zum Selbstmord getrieben. Die ältere hatte jahrelang die Mutter gepflegt und dann…“ Snape stellte sich auf eine stundenlange Erzählung ein und überlegte, wie er dem entkommen könnte. Ihm wurde Hilfe zuteil in Gestalt eines Memos, das hereingerauscht kam und um den Kopf von Melinda Browse kreiste. Sie entschuldigte sich, las, machte „oh“, und sagte dann: „Bitte verzeihen Sie, Mr. Snape, ich würde Ihnen gern den Fall zu Ende schildern, nur damit Sie gewarnt sind. Aber das hier ist ganz eilig und wird wohl ein Weilchen dauern.“
„Ist schon gut. Vielen Dank für Ihre Bemühungen. Ich werden genau aufpassen, was mein Bruder so sagt. Auf Wiedersehen und vielen Dank noch mal.“ Snape beeilte sich, zur Tür hinaus zu kommen. Eilig verließ er das Zaubereiministerium und apparierte nach Hause. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, holte die Papiere heraus und las zuerst das, was Mrs. Browse über Niclas herausgefunden hatte. Sein Bruder war ein Zauberer, hatte aber nie eine Zaubererschule besucht und keinerlei Prüfungen abgelegt. Seine Frau hieß Sylvia und stammte aus einer alten Zaubererfamilie. Niclas hatte erst mit 35 geheiratet und – alle Achtung – sie hatten vier Kinder. Bessy war 11, Lissy 8, Joe 6 und Florian 4 Jahre alt; alle waren magisch begabt. Wenigstens sein Bruder hatte dafür gesorgt, dass die Familie Snape nicht ausstarb. Wenn stimmte, was in den Unterlagen des Zaubereiministeriums stand, waren sie die letzten Snapes in ganz Großbritannien.
Niclas würde ihm einiges erzählen müssen, ehe er wirklich „Mein Bruder“ zu ihm sagen könnte…
Anschließend nahm Severus sich die zusammengehefteten Blätter vor. Es waren Kopien eines Briefwechsels zwischen der Abteilung Bildungswesen des Zaubereiministeriums und Valery und Morton Snape, also seinen Großeltern väterlicherseits. In den Briefen war es um seine Unterbringung im St.-Anne´s Kinderheim in Manchester gegangen. Die Großeltern hatten sich „Außer Stande gesehen, ein derartig traumatisiertes und verhaltensgestörtes Kind aufzunehmen“ und dem Kinderheim eine stattliche Summe dafür angeboten, dass Severus dort blieb. Das Ministerium hatte darauf hingewiesen, dass Severus Snape ein völlig normales Kind wäre und in keiner Weise verhaltensgestört. (Tröstlich.) Snape presste die Zähne aufeinander. Seine Großeltern hätten ihn aus dem furchtbaren Heim herausholen können und haben es nicht getan, nur weil er ein Zauberer war…
Über seinen Grübeleien hätte Snape fast vergessen, dass er in die Buchhandlung zum Arbeiten musste. Mr. Blott sah ihn an; fragte: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen krank aus.“ – „Ich komm´ schon klar, danke“, antwortete Snape knapp und Blott runzelte die Brauen. Dann zeigte er auf einige Packen Bücher: „Die müssen eingeräumt werden und wenn heute Nachmittag die französische Zaubereiministerin vorbeikommt, muss der Laden tipp-topp in Ordnung sein, bitte bemühen Sie sich, Mr. Snape!“
„Natürlich“, antwortete Snape, drehte sich um und machte sich an den Bücherpaketen zu schaffen, damit Blott nicht sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Ladengehilfe war alles andere als ein Traumberuf, Snape hatte es schon immer gehasst, wenn ihm jemand befohlen hatte „Tu dies, mach das!“ Im Moment jedoch hatte er keine andere Wahl, als für Blott den Laufburschen zu spielen; was nach dem 5. Mai kommen würde, stand in den Sternen und Snape machte sich keine Gedanken darüber. Er sichtete den Inhalt der Kartons und schluckte, als er einige Bände der überarbeiteten Ausgabe von Lockharts „Mein zauberisches Ich“ sah. Für einen Moment wollte er Blott fragen, ob er diesen Schwachsinn allen Ernstes verkaufen wollte. Aber dem Laufburschen kam es nicht zu, den Chef zu kritisieren. Es schien ihm, als ob Lockhart ihn von den Einbänden her hochnäsig-überheblich angrinste.
Als die beiden Ladeninhaber zum Essen gegangen waren, ging Snape zu dem Regal mit den Lockhart-Büchern, nahm einen Band „Mein zauberisches Ich“ heraus und blätterte darin. Auf dem Klappentext standen ein paar „Fakten“ aus Lockharts Biografie und die Bemerkung, dass Lockhart das Buch Anfang diesen Jahres, nach seiner völligen Genesung und Entlassung aus dem St. Mungo´s, ergänzt hatte und ausführlich über seine Zeit als Professor an der Zaubererschule Hogwarts und den dort erlittenen schweren Arbeitsunfall berichten würde. Nicht dass Snape besonders neugierig gewesen wäre – aber er wollte schon wissen, was Lockhart so zu berichten hatte.
Snape begann, das von einem gewissen ´Pete Hardlock´ geschriebene Vorwort zu lesen. Es war für seinen Geschmack viel zu schwülstig geschrieben, nach fünf Zeilen voller Lobes über den „genialen Autoren“ Gilderoy Lockhart hatte er genug und suchte den Anfang. Nach 16 Seiten war das Vorwort endlich zu Ende und Snape begann nun von den kindlichen Heldentaten des kleinen Gilderoy zu lesen. Er fragte sich, ob Lockhart das vielleicht alles nur erfunden hatte. Snape selber konnte sich kaum an das erinnern, was vor der Geburt seines Bruders passiert war – Molly Weasley hatte ihm gesagt, dass das normal sei, weil die Erinnerungen an die Kindheit erst mit dem vierten, fünften Lebensjahr einsetzten. Lockhart jedoch wollte sich ganz genau erinnern, dass er mit anderthalb Jahren schon den Zauberstab seines Vaters ergriffen und ein außer Kontrolle geratenes Monster besiegt hatte. In diesem Stile ging es weiter, Snape mochte das nicht lesen. Er suchte die Stelle, an der Lockhart von seiner Berufung nach Hogwarts erfuhr und staunte ganz schön. Angeblich hatte Lockhart sich für die Stelle gar nicht beworben, sondern Dumbledore hatte ihn „wochenlang bedrängt, dass er den Posten annahm und ihm versichert, dass es keine geeignetere Person für ´Verteidigung gegen die dunklen Künste´ geben würde als eben ihn, Lockhart“. Snape wusste, dass Lockhart nur eingestellt worden war, weil er der einzige Bewerber auf die ausgeschriebene Stelle war. Minerva McGonagall hatte Dumbledore gefragt, ob er sich das gut überlegt hätte, diesen „aufgeblasenen Heini“ einzustellen und Dumbledore hatte geantwortet, dass er lieber Lockhart einstellen würde als sich jemandem vom Ministerium vor die Nase setzen zu lassen. Fudge hatte wohl damals schon mit Dolores Umbridge gedroht.
Snape las noch die seitenlange Schilderung von Lockharts Begegnung mit Harry Potter hier im Laden und das Wiedersehen in Hogwarts und wunderte sich erneut. Sooo aufgeblasen und arrogant, wie es Lockhart hier schilderte, war Potter wirklich nicht gewesen. Autogramme jedenfalls hatte er nie verteilt – Snape hatte nachgeforscht – und doch stand das hier schwarz auf weiß. Snape hatte genug und stellte die Schwarte wieder zurück. Dann sah er sich im Laden um, fand, dass alles in Ordnung war und ging wieder nach hinten, um die eingegangenen Bestellungen zu sichten.

Kurz vor halb vier klopfte Snape an die Tür von Thomas Astley. Der Heiler begrüßte ihn freundlich: „Ich habe mit Niclas gesprochen, er ist neugierig, seinen Bruder zu sehen.“ – „Wenn er wirklich mein Bruder ist. Ich habe nachgeforscht, möglich wäre es, aber ich möchte sicher gehen.“
„Das verstehe ich durchaus“, antwortete Astley, „folgen Sie mir.“ Er führte Severus den Gang entlang und klopfte an eine Tür auf der rechten Seite. In dem Krankenzimmer standen drei Betten, die ersten beiden waren zerwühlt, aber leer. Im dritten lag jemand, die Decke bis ans Kinn hochgezogen. Eine Hakennase stach in die Luft. Snape fasste an sein eigenes Riechorgan. Sein Herz klopfte bis zum Hals; je näher er dem Bett kam, umso schneller wurde es. Astley ging auf den Mann zu, sagte: „Hallo, Mr. Snape, Ihr Besuch ist da!“ und half dem Kranken, sich in halb sitzende Position zu bringen. „Das ist Severus Snape. Ich lasse Euch beide jetzt allein, o.k.?“ Niclas nickte und Severus sah beklommen auf den anderen Snape herunter und wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Ihre Blicke begegneten sich. Severus war es, als schaute er in einen Spiegel - in den letzten Tagen war er genauso bleich gewesen wie der Mann vor ihm. Da war es, das Muttermal! Genau so ein dunkelbraunes Ding hatte seine Granny auch unter dem rechten Auge gehabt. Eine warme Welle durchflutete Severus.
„Hallo, ich bin Niclas“, sagte der Mann im Bett und löste damit den Bann. „Und ich bin Severus“, antwortete Severus, „scheint so, als ob wir Brüder wären.“ Niclas streckte ihm beide Hände entgegen. Severus griff zu, eine zweite warme Welle floss durch seinen Körper. „Ich kann´s kaum glauben!“, sagten sie beide gleichzeitig und grinsten sich an. Dann begann Severus, die vorbereiteten Fragen zu stellen und Niclas beantwortete jede richtig. Kein Zweifel, dieser Mann war Snapes kleiner Bruder.
Eine Pause entstand. In die Stille hinein sagte Niclas: „ Erst hast du mich ausgequetscht, jetzt bin ich dran! Was ist eigentlich nach dem Unfall mit dir passiert? Wo bist du groß geworden? Meine Großmutter hat immer behauptet, du hättest einen Hirnschaden und wärst in einer Nervenklinik, aber das stimmte wohl nicht, wie so vieles, was sie mir erzählt hat.“ Severus´ Miene verdüsterte sich, als er an den Briefwechsel dachte. „Ich lag wochenlang in einem Muggel-Krankenhaus, dann haben sie mir erzählt, ich hätte keine Verwandten mehr und haben mich in das St. Anne-Kinderheim von Manchester gesteckt. Mit elf hat Albus Dumbledore mich nach Hogwarts geholt. Dort bin ich geblieben, bis, …, bis … zur Schließung der Schule. Er brachte es einfach nicht fertig, die Wahrheit zu sagen.
„Hat dir keiner was von mir erzählt? Hast du nie nach mir gefragt?“ – „Nein“, antwortete Severus. „Sie hatten mir ja gesagt, dass ich keine Verwandten mehr habe. Du warst damals in meinen Augen nur ein nervendes Baby und vor allem – du warst Schuld daran, dass meine Eltern mich nicht mehr lieb hatten. Sie haben sich nur noch um dich gekümmert; ich glaube, du warst als Baby ständig krank. Warum sollte ich als Fünfjähriger nach so einer Nervensäge fragen?“
Niclas schwieg lange, dann sagte er langsam: „Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas über unsere Mutter erzählen; Großmutter hatte kein gutes Wort für sie übrig.“
„Tut mir Leid, da ist nichts, an was ich mich erinnern kann. Ich weiß nur, dass sie eine Hexe war und die Nichte von Albus Dumbledore.“ Severus holte die Bilder hervor und zeigte Niclas die wenigen Habseligkeiten seiner Eltern. Lange betrachtete Niclas die Fotos, dann zeigte er auf das mit den beiden Kindern. “Das gleiche Bild ist mir durch Zufall in die Hände gekommen, als ich zehn war. Da erst habe ich erfahren, dass ich noch einen älteren Bruder habe, aber, wie gesagt…“
Nach einer Pause, in der sie sich verlegen ansahen, sagte Niclas: „Dass ich ein Zauberer bin, habe ich erst erfahren, als der Brief für Hogwarts kam. Ich habe ihn aufgemacht und gelesen. Großmutter hat getobt, ich wusste gar nicht, warum; schließlich war der Brief ja an mich adressiert. Später ist einer vom Zaubereiministerium aufgetaucht und hat lange mit ihr diskutiert. Ich weiß gar nicht, wie oft sie gesagt hat ´Kommt nicht in Frage!´ - den mitleidigen Blick, den der Fremde mir zugeworfen hat, kann ich bis heute nicht vergessen. Jedenfalls bin ich ganz normal in die Schule gegangen, habe einen ganz normalen Beruf gelernt und bis jetzt ganz normal als Dreher gearbeitet.
Meine, ähm, unsere Großmutter muss etwas gegen Zauberei gehabt haben. Sie hat immer behauptet, dass ich nicht zaubern könnte, und heute weiß ich, dass sie alles, was mit Magie zu tun hatte, von mir fern gehalten hat. Sie war sehr … bestimmend in ihrem Wesen, dominant, könnte man sagen. Ich hab´s bis zu ihrem Tod nicht geschafft, mir eine Freundin zuzulegen. Immer, wenn ich mal ein Mädchen hatte, hat Großmutter ihr so lange zugesetzt, bis sie wieder gegangen ist. Nenn´ mich ein Weichei, aber es war so. Dann ist Großmutter krank geworden und ich habe sie gepflegt, bis sie gestorben ist. Erst danach hat mein Leben richtig angefangen.
Nachdem wieder mal mein blöder Chef nach einer Auseinandersetzung grüne Haare bekommen hatte, ist einer vom Zaubereiministerium aufgetaucht und hat mich quasi aufgeklärt. Ich habe mir einen Zauberstab gekauft, aber viel zaubern kann ich bis heute nicht. Der Zufall wollte, dass die nächste Frau, in die ich mich verguckt habe, eine Hexe war. Sylvia akzeptiert mich so, wie ich bin – fast ein Squib.
Aber unsere Kinder sind alle magisch begabt. Wir haben vier – bis jetzt.“ Niclas grinste vielsagend, dann schlich sich ein Ausdruck von Unsicherheit in sein Gesicht.
„Und du, Severus? Wie ist es mit dir? Hast du Frau und Kinder? Erzähl´ doch ein bisschen von dir, ja?!“
Severus überlegte, was er Niclas erzählen sollte. Um einen gleichgültigen Ton bemüht begann er: „Ich bin Single, mit den Frauen hat es bei mir nie richtig geklappt. Meine Jugendliebe hat mir ein anderer ausgespannt, später bin ich mal an eine geraten, die war verheiratet und hat mir das erst gestanden, als ein Kind unterwegs war. Keine Ahnung, ob das von mir war oder nicht. Und seitdem – Funkstille.“
„Schade“, meinte Niclas. „Was machst du eigentlich beruflich? Du bist in Hogwarts, hast du vorhin gesagt? Bist du dort Lehrer, so richtig als Professor?“
Severus spĂĽrte ein Ziehen in seinem Brustkorb. Er war ganz gern Lehrer gewesen, auch wenn die meisten SchĂĽler nervende Ignoranten waren. Das war wohl endgĂĽltig vorbei.
„He, was ist los?“, drängte Niclas. Severus sah seinen Bruder an. „Ja, ich WAR Professor für Zaubertränke in Hogwarts. Aber das ist vorbei.“ – „Die Schule soll am ersten September wieder aufgemacht werden, hat dir das noch keiner gesagt? Bessy kommt dorthin, das wäre doch…“ Niclas hielt inne, als Severus energisch den Kopf schüttelte. „Ist… ist dir was passiert? Es gab so komische Gerüchte…“
Severus nahm all seinen Mut zusammen. „Ich war es, der Professor Dumbledore getötet hat.“
„Was, du, das kann ich nicht glauben!“ Niclas sank auf sein Kissen zurück und starrte Severus in blankem Entsetzen an. Severus ergriff Niclas´ Hände. „Hör zu. Nachdem ich mit der Schule fertig war, habe ich mich Voldemort angeschlossen und bin ein Todesser geworden, das ist wahr. Aber ich habe das bald bereut. Albus Dumbledore hat mir geholfen, dort herauszukommen.
Nach der Sache mit Harry Potter hatte ich ein paar Jahre Ruhe, bis der Dunkle Lord wieder auferstanden ist. Da ging das Drama von vorn los. Dumbledore hat mich losgeschickt, ich sollte zum Schein zu Voldemort zurückkehren, als eine Art Spion. Aber ich bin nicht nahe genug an den Meister herangekommen. Die waren alle misstrauisch. Und dann… habe ich Idiot einer Mutter ein Unbrechbares Versprechen gegeben, ihren Sohn zu schützen und seinen Auftrag zu übernehmen, falls der Junge versagte. Dieser Auftrag lautete… Dumbledore zu töten.“
Severus machte eine Pause und sah Niclas fest in die Augen. Der hatte mit starrem Gesicht und geöffneten Mund zugehört. „Und du bist, du hast…. Wie? Mit Gift?“ – „Nein, mit dem Todesfluch. Avada Kedavra“, Severus flüsterte die letzten Worte nur.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Niclas auf, sank jedoch mit einem Schmerzensschrei sofort wieder zurück. „Severus, nein, das… das… ich will das nicht glauben, niemals. Mein Bruder… Nein!“
„Doch, Niclas, ich hab´s getan. Kannst du mir noch einen Moment zuhören? Ich versuche, dir alles zu erklären.“ Niclas nickte matt.
„Es gab da eine Prophezeiung. Harry Potter war der einzige, der Voldemort besiegen konnte, aber er war noch viel zu jung und nicht stark genug; er brauchte Hilfe. Albus Dumbledore hat ihn immer unterstützt, aber er war an einem Punkt angekommen, wo er glaubte, Potter nicht mehr helfen zu können.
Genau in dem Moment habe ich ihm von dem unseligen Auftrag berichtet, ihn zu töten. Dumbledore hat sich geopfert. Er wollte, dass ich ihn quasi vor aller Augen umbringe, damit Voldemort mir vertraut und ich im Geheimen Potter helfen kann…Und ich, ich habe es getan...“ Severus´ Stimme brach, er konnte nicht mehr weiterreden. Niclas hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Severus überlegte schon, ob er an der Klingelschnur ziehen und Hilfe holen sollte. Da schlug Niclas die Augen wieder auf und flüsterte: „Wenn man ein Unbrechbares Versprechen nicht erfüllt, dann stirbt man selber, nicht wahr?“ Severus nickte.
„Konntest du diesem Harry Potter wirklich helfen?“ – „Ja.“ – Wieder schloss Niclas die Augen; Severus saß unbeweglich auf der Bettkante. Nach einigen Minuten tastete Niclas nach seinen Händen. „Severus, du konntest doch gar nicht anders, du hattest keine Wahl, du musstest tun, was Dumbledore von dir verlangt hat.“ - „Nein!“
Severus schrie fast. „Ich hatte die Wahl, ich hätte es nicht tun müssen, nicht tun dürfen!“ – „Aber dann wärest du gestorben und niemand hätte Potter helfen können. Vielleicht hätte Voldemort dann ganz die Herrschaft übernommen, vielleicht hätte jemand anderes Dumbledore…“
„Hör auf! Die Sätze mit ´hätte´, ´wenn´ und ´wäre´ bringen doch nichts! Niemand weiß, was passiert wäre, es ist Unsinn, sich Gedanken darüber zu machen. Ich HABE Dumbledore getötet und dafür muss ich jetzt gerade stehen. Am 5. Mai ist die Verhandlung. Wahrscheinlich sehen wir uns danach nie wieder. Es ist besser, du streichst mich aus deinem Gedächtnis!“ Severus wollte aufstehen und gehen, doch Niclas hielt ihn zurück. „Bleib hier. Ich finde es gut, dass du nicht versuchst, dich mit dem Unbrechbaren Versprechen rauszureden. Da gehört Mut dazu, mindestens genausoviel Mut, wie man brauchte, um sich Voldemort entgegenzustellen. Für mich bist du ein Held.“
„Quatsch!“, fauchte Severus. Niclas griff nach Severus´ Händen und hielt sie fest.
„Du musst mir mehr von dir erzählen, aber später. Jetzt bin ich nicht mehr so richtig aufnahmefähig. Kannst du mir bitte ein Glas Wasser bringen?“
Severus reichte das Gewünschte und fragte: „Willst du wirklich, dass ich wiederkomme?“ – „Selbstverständlich. Wir müssen so viel reden und bis zum 5. Mai ist nur noch wenig Zeit.
Ich verspreche dir, auch wenn sie dich verurteilen und einsperren, ich komme dich besuchen – falls sie mich hier je wieder rauslassen.“
Severus wagte nicht, seinem Bruder von dem Gift und seinen Selbstmordabsichten zu erzählen. Statt dessen fragte er: „Was ist dir eigentlich passiert, dass du hier flach liegst?“
Niclas seufzte. „Wenn ich das so genau wüsste. Vor ein paar Wochen war ich ganz normal zu Fuß auf dem Heimweg von der Mittagsschicht, da sind plötzlich von mir ein paar dunkle Gestalten aufgetaucht, in Zaubererklamotten mit Kapuzen über dem Kopf und gezückten Zauberstäben. Einer hat gerufen: ´Snape, du Verräter! Du hast wohl geglaubt, unter den Muggeln finden wir dich nicht? Jetzt bist du dran!´ Der Zweite sagte: ´Quatsch nicht soviel, sonst haut er noch ab. Lestrange, du hast das Vorrecht, der Kerl hat deine Frau auf dem Gewissen!´ Ich hatte keine Ahnung, wovon die geredet haben, und ich habe kein Wort herausgebracht. Das einzige, was ich noch mitbekommen habe, war ein gelber Lichtblitz aus einem der Zauberstäbe, dann ist alles um mich rum schwarz geworden. Aufgewacht bin ich hier; mit wahnsinnigen Schmerzen überall. Aber die Doc´s sind zuversichtlich, dass sie mich wieder hinkriegen.“
Jetzt war es an Severus, nach Luft zu schnappen. „Bist du sicher, dass der eine den Namen ´Lestrange´ genannt hat?“ – „Daran kann ich mich ganz genau erinnern.“ – „Ach du meine Güte! Rodolphus Lestrange und seine Frau Bellatrix – das waren Anhänger von Voldemort!
Weißt du noch, wann genau das passiert ist?“ – „Ich glaube, am 4. März, bin mir aber nicht ganz sicher.“
„Oh Gott!“ Severus schlug die Hände vors Gesicht. Am 4. März hatte er die zweite Nacht im Keller seines Elternhauses zugebracht und auf jedes Geräusch geachtet. Der befürchtete Racheakt war ausgeblieben, weil sie statt auf ihn auf seinen ahnungslosen Bruder getroffen waren!
„Niclas – die müssen uns verwechselt haben! Dieser Überfall, dieses ´Snape, du Verräter!´, das galt mir. Die hatten bestimmt was gemerkt und wollten sich an mir rächen. Aber weil wir uns so ähnlich sehen, haben sie dich erwischt!“
Dann tat Severus das, was er heute eigentlich noch nicht hatte tun wollen – er umarmte Niclas.

Wie lange diese Umarmung gedauert hatte, konnte später keiner von beiden mehr sagen. Sie kehrten erst in die Gegenwart zurück, als eine krächzende Stimme rief: „He, seid ihr beiden falsch ´rum gestrickt oder was?“ Beide Snapes fuhren herum und sahen den Sprecher an. Es war ein verhutzeltes, altes Männlein mit wässrigen Augen und Strubbelhaaren, das in einem viel zu großen gestreiften Pyjama steckte. Der Alte murmelte: „Au weiha, jetzt seh´ ich schon doppelt, dabei hab ich doch nur ein Glas getrunken“, legte sich ins Bett und ließ die Vorhänge zurasseln. Niclas grinste und flüsterte Severus ins Ohr: „Der soll eigentlich eine Entziehungskur machen. Aber irgendwie schafft er es immer wieder, an einen Schnaps oder zwei heranzukommen.“ Jetzt grinste auch Severus ein bisschen.
Niclas wurde langsam müde. Bevor er einschlief, sagte er: „Komm morgen wieder, bitte! Dann stelle ich dir Sylvia vor und zeige dir die Bilder von unseren Kindern. Und mach die auf einen Berg Fragen gefasst!“ – „Gut, ich komme. Mach´s gut, bis morgen!“ Aber Niclas war schon eingeschlafen. Severus steckte ihm den Teddy ins Bett und ging.

Severus Snapes Tagesablauf hatte nun einen weiteren „Programmpunkt“ – die täglichen Besuche bei seinem Bruder. Sylvia Snape entpuppte sich als nette Frau. Sie hatte durchschnittliche Gesichtszüge, schulterlange blonde Locken, klare, grau-blaue Augen und sprach mit einer warmen, angenehm dunklen Stimme. In ihrer Gegenwart sprachen die Brüder nie von Severus´ dunkler Vergangenheit, aber er war hundertprozentig sicher, dass Sylvia Bescheid wusste.
Einmal traf Severus auf dem Flur den Heiler Astley. Der berichtete ihm, dass Niclas´ Genesung schneller vorangehe, seit Severus regelmäßig kam. Dies hörte der mit einiger Erleichterung.

Der Termin für die Lehrstunde in Wolfsbann-Trank-Zubereitung rückte in greifbare Nähe; Snape musste sich vorbereiten. Noch nie hatte er Erwachsene unterrichtet, erschwerend kam hinzu, dass er über die „ausgewählten Mitarbeiter“ absolut nichts wusste. Christophersen hatte ihm nur gesagt, dass alle tränketechnisch vorgebildet seien; das war ein Begriff wie Gummi.
Endlich hatte sich Snape seinen „Lehrplan“ zurechtgelegt: er würde als erstes die Zutaten, ihre Herkunft und Beschaffung vorstellen, dann das Rezept erklären und am nächsten Tag die praktische Übung durchführen.
In der letzten Stunde vor Unterrichtsbeginn war Severus ziemlich aufgeregt, genau wie damals, als er Probeunterricht hatte geben müssen. (Warum hatte Dumbledore das später nur abgeschafft? Typen wie Lockhart hätten seinerzeit nie Lehrer werden können.)
Eine halbe Stunde vor Seminarbeginn gab Christoph Christophersen ihm die Liste der acht Teilnehmer. Snape überflog die Namen, keiner kam ihm bekannt vor, bis auf den letzten: „Miss Sally Wexford, Lower Hatchington, Laborassistentin“. Snape blieb die Luft weg, sein Magen fuhr Achterbahn, das Herz raste, Schweiß brach ihm aus allen Poren. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % würde er in wenigen Minuten seiner Tochter gegenüberstehen. Es gab keinen Zweifel, Name, Geburtsdatum und Wohnort stimmten.
Mit Konzentrationsübungen schaffte Snape es in den nächsten 20 Minuten, wieder Herr über seine Sinne zu werden. Er würde so tun, als wenn nichts wäre. Vielleicht ergab sich morgen nach Seminarende die Möglichkeit zu einem Gespräch unter vier Augen.
Er konnte den „Augenblick der Wahrheit“ nicht länger hinauszögern und betrat den kleinen Schulungsraum unter dem Dach des St. Mungo´s, begrüßte die Teilnehmer/innen, stellte sich vor und nannte das Ziel des Seminars. Dann bat er die Teilnehmer, sich selbst vorzustellen. Drei Frauen waren darunter: Eine Dürre mit strohfarbenen Haaren, die schon älteren Semesters sein musste, eine kleine braune Spitzmaus und eine pummelige Schwarzhaarige mit fettglänzendem Pickelgesicht. Letztere war Sally Wexford. Ihre Blicke begegneten sich, Sally lächelte schüchtern und sah dann weg.
Gegen seinen Willen wanderte Snapes Blick immer wieder zu Miss Wexford, er suchte bekannte Züge in ihrem Gesicht, aber nichts erinnerte ihn an Alice Wexford, die er einst geliebt und die ihn so tief enttäuscht hatte.
Nach dem theoretischen Unterricht verschwand Snape sofort und ging zu seinem Bruder. Das Reden über seine dunkle Zeit in Voldemorts Gefolgschaft lenkte ihn von dem Gedanken an Sally Wexford ab. Er wusste, dass er Niclas einfach alles anvertrauen konnte. Wie gut das tat! Aber Niclas hörte nicht nur zu, er hatte selbst auch allerhand zu erzählen; sein Hauptproblem war die überaus dominante Großmutter gewesen. Bevor Severus an diesem Tag nach Hause ging, sagte Niclas: „Weißt du, wenn man jemanden seine Probleme erzählen kann, sieht man mitunter eine Lösung, wo vorher unüberwindbare Wälle waren“, und Severus wünschte sich, Niclas schon früher begegnet zu sein. Wer weiß… Aber das wären wieder lauter Sätze mit „hätte“ geworden.

Nach einer äußerst unruhigen Nacht machte Severus sich wieder auf den Weg ins St. Mungo´s. Der praktische Unterricht fand in einer kleinen Giftküche im Keller statt. Acht Kessel standen bereit, auf den zugehörigen Tischen lagen säuberlich aufgereiht die Zutaten. Snape ließ von einem Stück Kreide das Rezept an die Tafel schreiben. Nacheinander kamen die Teilnehmer herein; Snape war dankbar, dass Sally die letzte war. Während die acht arbeiteten, wanderte er von Tisch zu Tisch, gab Hinweise, half hier, korrigierte dort. Und beobachtete immer wieder Sally Wexford. Die war nicht halb so geschickt, wie Severus sich das erhofft hatte. Am Ende wurde der trübe Brei in allen acht Kesseln klar und flüssig, sein erstes (und wohl auch letztes) Seminar für Erwachsene hatte sich als Erfolg erwiesen. Von nun an waren diese acht Leute dafür verantwortlich, die Werwölfe mit dem Wolfsbann-Trank zu versorgen.
Beim Aufräumen bummelten sowohl Sally als auch Severus absichtlich. Als der letzte den Raum verlassen hatte, räusperte sich Sally und fragte: „Professor, kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“ Snape war froh, dass sie den ersten Schritt getan hatte. „Reden Sie!“
Miss Wexford zögerte und setzte mehrmals an zu sprechen. „Meine Mutter hat mir gesagt, dass Sie vor vielen Jahren mit ihr… liiert waren.“ Sally verstummte, Severus wartete, dass sie weitersprach, doch sie schwieg. So sagte er schließlich: „Ich wusste nicht, dass Alice Wexford verheiratet war. Sie hat mich lange belogen; die Wahrheit habe ich erst erfahren, als sie schwanger war – mit Ihnen.“
Sally nickte. „Mum wusste bis zuletzt nicht, wer mein Vater war – Sie oder Jack Wexford. Ich habe heimlich einen DNA-Test machen lassen – Jack Wexford ist eindeutig mein Vater, nicht Sie.“ Snape spürte einen Kloß in der Kehle und wandte sich ab. Für einen winzigen Moment hatte er sich als Großvater im Schaukelstuhl gesehen, mit einem Enkel auf jedem Knie. Dieser Traum war geplatzt wie eine Seifenblase. Snape fühlte, dass Sally noch etwas sagen wollte, aber er drehte sich nicht wieder um, bis zögernde Schritte und das Klappen der Tür verkündeten, dass sie gegangen war. Schnell brachte Snape die Giftküche in Ordnung, ehe er hoch zu Niclas ging. Der hatte versprochen, ein paar Dinge aus seiner Schul- und Lehrzeit zu erzählen; Severus hoffte, dass ihn das ablenken würde.
Niclas war feinfühlig genug, um zu merken, dass Severus überhaupt nicht bei der Sache war. So nahm er Severus´ Hand in seine, schwieg eine Weile und fragte dann nur: „Kummer?“ Severus presste die Lippen aufeinander, er wollte das alles für sich behalten, aber es brach doch aus ihm heraus: „Ich hab´s im Leben wirklich zu nichts gebracht, nichts Gutes, nichts Dauerhaftes von mir bleibt, wenn ich als Mörder verurteilt werde, nicht mal das Kind ist von mir, gar nichts habe ich zustande gebracht,…“
„He, he, he, beruhige dich, Severus. Natürlich hast du Positives getan, denk doch nur mal an die vielen Schüler, denen du die Grundlagen der Tränkeherstellung beigebracht hast. Du hast Potter geholfen, dem Dunklen Lord zu widerstehen – das ist doch eine großartige Tat, die im Gedächtnis der Menschen bleiben wird.“ – „So ein Quatsch! Ich werde immer und für alle derjenige sein, der Albus Dumbledore getötet hat.“
Nach einer langen Pause sagte Niclas bedächtig: „Mag sein, dass viele Dumbledore-Verehrer das so sehen. Dennoch – deine guten Taten überwiegen, auch wenn alles im Verborgenen geschah. Doch es wird alles bekannt werden, verlass´ dich darauf.“ Severus winkte ab.
„Jetzt erzählst du mir bitteschön erst mal von dem Kind, das nicht von dir ist.“
Snape berichtete davon, wie er Alice Wexford kennengelernt hatte, wie sie bereitwillig auf seine Annäherungsversuche eingegangen war. Nie war ihm die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte; Alice trug keinen Ring, auch kein verräterischer weißer Streifen war auf ihrer leicht gebräunten Haut zu sehen. Und – sie hatte Zeit, wann immer Severus mit ihr ausgehen wollte. Nichts in ihrer Wohnung hatte darauf hingewiesen, dass da ein Mann gelebt hatte und von Severus´ Zärtlichkeiten konnte sie nie genug bekommen.
Bei einem nächtlichen Spaziergang im Park hatte sie ihm verraten, dass sie ein Kind bekommen würde und Severus hatte vorgeschlagen, so schnell wie möglich zu heiraten. Ihr „Das geht nicht, ich bin schon verheiratet“ klang ihm immer noch und heute ganz besonders im Ohr. Voller Enttäuschung war er weggelaufen und hatte es seither vermieden, eine feste Bindung einzugehen.
Der Gedanke daran, vielleicht das eigene Kind zu töten, hatte ihn jedoch davon abgehalten, Voldemorts Befehl auszuführen…
„Das war der Moment, in dem du begonnen hast, zu bereuen und dich von Voldemort abzuwenden, nicht wahr?“, fragte Niclas. „Ja“, antwortete Severus nur und beide hingen ihren Gedanken nach.
„Weißt du, Severus“, sagte Niclas nach einer ganzen Weile, „wenn diese junge Frau wirklich deine Tochter wäre, wäre es doch auch irgendwie schade. Du hast sie ja nicht heranwachsen sehen und konntest keinen Einfluss auf sie nehmen. ´Daddy´ würde sie wohl immer zu dem sagen, der als Vater für sie da war.“
„Da hast du wohl recht. Selbst wenn ich ihr leiblicher Vater wäre, würde ich doch ein Fremder für sie bleiben.
Traurig bin ich trotzdem. Ich habe immer davon geträumt, mit einer lieben Frau und ein paar Kindern in einem Häuschen im Grünen zu wohnen.“
Niclas lachte. „Stell´ dir das nur nicht zu romantisch vor – ein Haus mit Garten und ein paar Kinder darin halten einen rund um die Uhr auf Trab. Ich spreche da aus eigener Erfahrung.“

In dieser Nacht wälzte Severus sich wieder einmal schlaflos von einer Seite auf die andere. So sehr er sich auch bemühte, seinen Geist zu leeren und zu verschließen – es wollte ihm nicht gelingen. Die Gedanken an das, was er im Leben versäumt hatte, wurden gejagt von den Befürchtungen über das, was noch kommen würde und vermischten sich mit alltäglichen Dingen. Noch eine Woche bis zum Prozess!
Bei seinem Besuch im Krankenhaus am nächsten Tag fand er Bruder und Schwägerin in richtig guter Stimmung vor – morgen durfte Niclas nach Hause!
Sylvia wollte unbedingt, dass Severus sie noch vor dem 5. Mai besuchen sollte, aber der lehnte lieber ab. Er fürchtete sich ganz einfach vor den neugierigen Blicken und Fragen der Kinder. – `Ist das der Mörderonkel?` Nein, es war besser, wenn Niclas und Sylvia ihren größeren Kindern später alles erzählten. So nahmen die Brüder Abschied voneinander.
„Ich drücke dir die Daumen. Die Chancen stehen 50 zu 50, das du freigesprochen wirst. Ich glaube, das Urteil hängt ganz davon ab, welchen Eindruck du auf jeden Einzelnen im Zauberergamot machst.“

Die letzten Tage vor der Verhandlung verbrachte Snape in hektischer Betriebsamkeit. Er meldete sich nach wie vor regelmäßig im Zaubereiministerium und arbeitete bei Flourish und Blotts. Den Rest des Tages verbrachte er damit, seine Aufzeichnungen aus Hogwarts zu ordnen und in den Büchern seiner Großmutter nach vergessenen Notizen zu suchen. Ein eiskalter Schreck durchfuhr ihn: die Bücher gehörten zur Hälfte Niclas! Oder doch alle ihm, dem Erstgeborenen? Er kannte sich mit dem Erbrecht nicht aus. Eine geschlagene Stunde lang marterte Severus sein Hirn, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ob er Niclas gegenüber die Bücher erwähnt hatte oder nicht. Er wusste nur eines ganz sicher – Niclas hatte überhaupt nicht gefragt, ob Severus von den Eltern etwas geerbt hatte. Als letztes am 4. Mai schrieb Severus einen Brief an Niclas. Dann ging er ins Bett und schlief tief und traumlos bis zum Morgen.


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Manchmal ist es auch sehr schade, dass eine Figur verschwindet und im nächsten Band nicht mehr vorkommt. Dazu zählt beispielsweise Gilderoy Lockhart, den ich sehr mochte, weil er so furchtbar eitel war und ich mir einen Spaß daraus machte Leute aus dem Showbusiness mit seiner Charakterisierung zu veralbern.
Rufus Beck