von Thorti
„Was ist denn los mit dir?“, fragte Eva, als sie Six wieder etwas zu Essen gebracht hat. „Du bist so still.“
„Heute ist einfach nicht mein Tag“, murrte Six.
„Warum? Erzähl es mir, bitte.“
„Heute sind meine Eltern gestorben. Alle beide. Sie wurden umgebracht. Ich bin eine Vollwaise und lebe seitdem auf den Straßen Londons.“
„Das tut mir leid“, sagte Eva und blickte zu Boden.
„Nein, du hast doch damit überhaupt nichts zu tun. Es brauch dir nicht leid zu tun. Auch nicht für deine Fragen. Du weißt gar nicht wie schön das ist mit jemanden zu reden.“
Eva nickte. Six blickte sie von der Seite an.
„Du kannst mir auch alles sagen. Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt.“
„Ja, du hast Recht. Ich bin auch eine Vollwaise. Mein Vater ist ein Säufer. Er hat meine Mutter in den Tod geprügelt. Sie ritzte sich fast jeden Tag in die Arme. Irgendwann hat sich ihre Pulsadern erwischt und... Mein Vater erschien nicht auf der Beerdigung. Er saß in der Kneipe und trank. Ununterbrochen. Er kam nach Hause und die Hölle ging weiter. Er stieß mich die Treppen herab und schlug mich immer wieder ins Gesicht. Es ging sogar soweit, dass er mir die Unschuld genommen hat. Ich war noch keine dreizehn Jahre alt und dieser Scheißkerl hat mich vergewaltigt. Ich konnte nicht mehr. Ich habe gelitten. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten.
Als er wieder so betrunken war, habe ich ihn in seinen Werkstattraum geschleppt. Dort stellte ich die Kreissäge ein. Dann nahm ich seine Hand und sägt sie ihm ab. Das Blut floss. Ich spürte kein Mitleid. Nein, kein Mitleid. Er ist an seinen Verblutungen gestorben. Die Polizei ging von einem Unfall aus, weil mein Vater so betrunken war. Die Untersuchungen wurden abgeschlossen und mein Vater war beerdigt. Ich war auf der Beerdigung und ich habe keine Träne vergossen. Im Gegenteil. Als die Trauerfeier vorüber war, bleib ich an seinem Grab zurück. Ich spukte darauf und habe gesagt, das komme davon. Das komme davon, wenn man sein eigen Fleisch und Blut schlägt und vergewaltigt. Dieses Arschloch, den Würmern zum Fraß vorgeworfen. Ich kam zu einer Pflegefamilie, die sich so lieb um mich kümmerten, dass ich meinen Vater fast vergessen hätte, doch er hatte seine Spuren in mir hinterlassen. Ich wurde schwanger. Dieser Sack hat mich geschwängert. Nein, ich wollte dieses Kind nicht austragen. Heimlich habe ich es abgetrieben. Die Ärztin hatte volles Verständnis für meine Situation gehabt, weil ich ihr erzählt habe, was passiert ist.“
„Verdammte Scheiße“, sagte Six leise.
„Ja, es war eine wirklich verdammte Scheiße. Ich habe seitdem keinen Jungen an mich herangelassen, ich ließ keine Beziehung zu. Ich hatte Angst vor ihrer Nähe. Vor ihren Zärtlichkeiten. Das ist bis heute so geblieben.“
Six schluckte. „Das ist doch krank. Dein Vater war doch krank.“
„Du bist der einzige, der das weiß, Six. Irgendwie vertraue ich dir. Du bist anders als die anderen.“
„Bin ich das wirklich? Ich habe dir nur zugehört, nichts weiter. Denkst du, dass ich wirklich anders als die anderen bin?“
„Ja, vor allem weil du mir zugehört hast. Die anderen versuchen es gar nicht mir zuzuhören. Ich habe ihnen immer wieder erzählt, dass mein Vater meine Mutter geschlagen hat, doch keine schenkte mir glauben, weil dieser Mistkerl eines dieser hohen Tiere in diesem Scheißkaff war. Natürlich steht sein Wort über das eines Kindes. Niemand hatte mir geglaubt, niemand hatte mir zugehört. Doch dann kamst du. Du bist wirklich anders, du kannst mir zuhören und du glaubst mir.“
„Ich kann aber nicht nachvollziehen, was du damals erlebt hast“, entgegnete Six.
„Das musst du auch nicht“, sagte Eva. „Das hast einfach nur zugehört.“
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