von käfer
Die Gelegenheit war günstig. Snape hatte nach dem Abendessen alle Lehrer zusammengerufen und ein paar ministerielle Verordnungen verkündet. Jeder einzelne, selbst die Carrows, würde bestätigen können, dass Minerva McGonagall den ganzen Abend in der Schule gewesen war.
Geplant hatte sie ihr Vorhaben schon länger, seit jenem Tag, da Arthur von dem Aufruhr im Ministerium berichtet hatte und davon, dass Yaxley auf der Schwelle des alten Hauptquartiers gelandet war. Potter, Granger und Weasley tauchten dort nicht mehr auf, wenn sie schlau waren. Nur der alte Hauself lebte noch darin und das war nicht gut.
Mit grimmiger Entschlossenheit traf Minerva ihre Vorkehrungen. Sie wusste, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen konnte, aber es behagte ihr nicht, sich voll und ganz auf die Unterstützung zu verlassen, die sie hatte, auch wenn sie wusste, dass der Zauber zuverlässig wirkte. Mit angehaltenem Atem drehte sie den Ring mit dem Smaragden des Ewigen Pfades dreimal am Finger. Das Einhorn mit den smaragdgrün leuchtenden Augen erschien, nickte ihr zu und lief davon, rasch verblassend. Minerva vergewisserte sich, dass die Tür abgeschlossen war und der Bürozeiger auf „Keinesfalls Stören“ stand. Jetzt konnte nur der Schulleiter Kontakt zu ihr aufnehmen. Severus Snape… Wie weit durfte sie ihm noch trauen? Potters letzte Worte hallten zu deutlich in ihren Ohren wider… Aber hatte sich Albus nicht genau an jenem Tag von ihr verabschiedet? „Du musst Severus vertrauen“, hatte er gesagt, „was auch immer geschieht.“ Was auch immer geschieht – hatte Dumbledore DAS gemeint? Hatte er sein Ende vorausgesehen? Geahnt, dass Snape tun würde, was Draco Malfoy im Auftrag von Du-weißt-schon-wem hätte tun sollen?
Mit einem ärgerlichen Schnauben drängte Minerva all diese Gedanken beiseite und holte den Zeitumkehrer hervor, den sie für den Fall der Fälle schon seit einiger Zeit unter ihren Kleidern trug. Snape wusste davon, aber ahnte er auch, dass dieser Zeitumkehrer keiner der sieben ministeriell registrierten war? Nicht auszudenken, was passierte, wenn man sie damit erwischte…
Minerva sperrte die ablenkenden Gedanken im hintersten Winkel ihres Bewusstseins ein. Wenn sie ihre selbstauferlegte Mission zu einem guten Ende bringen wollte, musste sie hellwach und konzentriert sein. Noch einmal holte sie mit geschlossenen Augen tief Luft, dann drehte sie den Zeitumkehrer vier Mal.
Im Vorraum ihrer geräumigen Dienstwohnung stand ein unscheinbarer Schrank, in dem sogar einige Kleidungsstücke hingen. Doch dieser Schrank war ein Verschwindekabinett, dessen Gegenstück in der Nähe ihrer früheren Heimat versteckt war. Von dort aus apparierte Minerva nach London, mitten hinein ins Gewühl. Niemand nahm Notiz von ihr, niemand wunderte sich, als sie plötzlich unsichtbar wurde. Sie eilte durch die Straßen bis zum Grimmauldplatz und sondierte die Lage. Wie zu erwarten war, stand das Haus unter Beobachtung. Drei dunkle Schatten lungerten in dem kleinen Park herum – das waren vermutlich die Gefolgsleute von Du-weißt-schon-wem. Aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen konnte Minerva entnehmen, dass sie nicht sonderlich begeistert über ihren Auftrag waren. Frustrierte Wächter waren nachlässige Wächter, aber darauf mochte sich Minerva nicht verlassen. Sie erneuerte laufend ihren Desillusionierungszauber und hoffte, dass keiner ihrer Gegner die Gabe hatte, Präsenzen zu spüren.
Die beiden als Muggel getarnten Auroren waren aufmerksamer, sie liefen vor dem Eingang auf und ab. Wenn Minerva auf die Schwelle apparierte, würden sie es hören. Der Smaragd des Ewigen Pfades sollte helfen, aber Minerva wollte sich nicht einfach darauf verlassen. Sie beobachtete die Auroren, stellte fest, dass ihre Wege einem bestimmten Muster folgten und es tatsächlich regelmäßig ein paar Sekunden gab, in denen die Haustür unbeobachtet blieb. Ein sichtbarer Körper hatte keine Chance, aber im Schutze von Dunkelheit und Desillusionierungszauber musste es gelingen. Minerva zählte die Schritte, nahm den Takt auf und erreichte ungesehen die Schwelle. Als sich die Auroren abwandten, öffnete sie die Haustür einen Spalt und schlüpfte hindurch.
Der erste Teil des Plans war ohne Schwierigkeiten erledigt.
Mit einem raschen Stabschlenker löste sie die Schutzzauber, die sie gemeinsam mit Arthur, Kingsley und Remus angebracht hatte, als sie vor einem Vierteljahr eiligst das Hauptquartier räumen mussten.
Im Dämmerschein ihres gedämpften Zauberstablichtes sah sich Minerva in der Eingangshalle um. Wie früher lauerte der Trollbein-Schirmständer darauf, dass jemand darüber stolperte, hingen die nachgedunkelten Porträts längst verblichener Blacks an den Wänden. Doch etwas war anders: die Hauselfen-Schrumpfköpfe fehlten und geputzt war auch. Minerva stellten sich die Nackenhaare auf. Zwei Jahre lang mussten sie durch Spinnenweben tappen und auf einmal war alles sauber? Den Zauberstab einsatzbereit schlich sie weiter. Im Haus war kein Mensch und doch fühlte es sich bewohnt an, warm. „Hallo“, rief Minerva zaghafter als beabsichtigt.
Sie erhielt keine Antwort. Auf alles Mögliche gefasst, ging Minerva weiter und betrat die Küche. Ein leichter Geruch nach gebratenen Eiern lag in der Luft. Die Asche im Herd fühlte sich warm an, in der Speisekammer hing ein Schinken. Wer hatte sich hier eingenistet? Snape? Fletcher? Minerva hielt die Luft an. Snape befand sich im Moment in Hogwarts im Lehrerzimmer, dort würde er bis mindestens neun Uhr bleiben. Mundungus war zu einer der letzten Ordensvollversammlungen mit einer dicken Beule am Kopf erschienen, die „von diesem vermaledeiten Hauselfen“ stammte. Mehr konnte Dung nicht sagen, sein Gedächtnis wies ziemliche Lücken auf. Wer war dann hier zu Hause? Doch Potter?
Ohne ein Geräusch zu machen, ging Minerva nach oben. Alles sah sauber aus wie nie zuvor. Betten waren ordentlich gemacht, im Badezimmer hingen frisch gewaschene Handtücher. Minerva brach der Schweiß aus. Jemand hatte sich hier ausgebreitet, aber es sah nicht so aus, als würde dieser Jemand dauerhaft hier leben. Später würde sie Arthur darüber informieren, doch jetzt musste sie sich schleunigst um Teil zwei ihres Planes kümmern. Wo war Kreacher? Potter hatte ihn wohl kaum mitgenommen, oder? War der Hauself seinem Herrn untreu geworden wie schon einmal? Oder hatte Potter ihm Kleidung gegeben und die Freiheit? Sollte Harry wirklich so dumm gewesen sein? Ein Wesen wie Kreacher würde womöglich zu Du-weißt-schon-wem gehen…
Minerva suchte vom Dachboden bis zur Küche alles ab, aber das Haus war verlassen. Und nun? Sollte sie es versiegeln und gehen oder war es besser, zu warten? Sie entschied sich für letzteres, ein bisschen Zeit hatte sie noch.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes „Krack“ und Minerva wurde von den Füßen gerissen. Sie fand sich auf dem Rücken liegend wieder, über sich einen sichtbar wütenden Hauselfen, der seinen Fuß fest auf ihrer Stabhand stehen hatte. „Diebsgesindel!“, krächzte der Hauself. „Schnüffeln, stehlen, rauben, während der Herr unterwegs ist! Aber Kreacher passt auf, jawohl! Niemand vergreift sich an dem, was Harry Potter gehört, jawohl!“
So hatte sich Minerva die Begegnung mit Kreacher nicht vorgestellt. Mit dem alten Black’schen Hauselfen war eine unglaubliche Veränderung vorgegangen. Er hatte Harry Potter als seinen Herrn voll und ganz anerkannt, das merkte Minerva schnell und mit großer Erleichterung. Kein Hauself konnte sich so verstellen. Dennoch brauchte Minerva eine ganze Stunde, bis sie Kreacher davon überzeugt hatte, mit ihr nach Hogwarts zu gehen und dort auf Harry Potter zu warten.
Schließlich richtete sie die Schutzzauber wieder ein. Nun blieb nur noch die Versiegelung des Gebäudes. Dazu musste Minerva die Zauberstabspitze an das Schlüsselloch halten und einen Spruch deklamieren, wofür sie günstigstenfalls drei Minuten benötigte. Drei Minuten, in denen sie ihren Rücken mehr oder weniger ungeschützt dem Platz zuwenden musste. Drei Minuten, in denen sie sich auf den Schutz eines Hauselfen, ihres Desillusionierungszaubers und des Einhorns verlassen musste. Doch Minerva McGonagall hatte gelernt, sich nicht auf andere zu verlassen. Sie musste die Kontrolle behalten. Bis hierher war alles so leicht gewesen… zu leicht. Hoffentlich kam jetzt nicht das dicke Ende…
Minerva kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Je länger sie auf der Schwelle verharrte, umso gefährlicher wurde es. Sie atmete tief durch und setzte den Zauberstab an das Schlüsselloch.
Plötzlich wurde der ganze Grimmauldplatz in ein grelles smaragdgrünes Licht getaucht. Erschrocken hielt Minerva inne, doch niemand außer Kreacher schien das Licht zu bemerken. Die Muggel eilten wie zuvor über den Platz, ohne nach links und rechts zu sehen. Die Auroren patrouillierten ungerührt auf und ab. Die dunklen Gestalten im Park lehnten unbeweglich an den Bäumen. Kreacher stöhnte auf, hielt sich die Augen zu und kauerte sich vor Minerva zusammen. Noch einmal holte Minerva tief Luft, dann begann sie, den Zauber zu wirken. Unbehelligt deklamierte sie Vers um Vers. Die Auroren wanderten auf und ab, die Kapuzengestalten bewegten sich nicht.
Mit dem letzten Wort erglühte die Klinke des Hauses dunkelrot und erlosch dann. Nun konnte nur noch der rechtmäßige Besitzer das Haus betreten, jeder andere wurde zurückgeworfen, auch die Ordensmitglieder.
Jetzt kam der vierte und letzte Teil des Planes: die unbemerkte Rückkehr nach Hogwarts. „Gib mir deine Hand“, forderte sie Kreacher auf. Vertrauensvoll legte der Hauself seine Hand in die ihre.
Minuten später nahm in der Küche von Hogwarts ein neuer Hauself seinen Dienst auf. Kreachers erste Arbeit war es, einen Teller Sandwiches für die stellvertretende Schulleiterin zurechtzumachen.
Instinktiv folgte Minerva der smaragdgrünen Leuchtspur auf dem Boden und ging so Amycus und Alecto Carrow, Pomona Sprout und Filius Flitwick aus dem Weg, die sich alle ziemlich gewundert hätten, wenn Minerva McGonagall mit einem Teller voller Sandwiches durch die unteren Etagen ging, wo sie sie doch gerade oben im Lehrerzimmer gesehen hatten, in eine hitzige Diskussion mit dem Schulleiter verwickelt.
Auf den Smaragden des Ewigen Pfades war Verlass. Immer und ewig.
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