von käfer
Ich bin müde und aufgeregt in gleichem Maße. In den vergangenen zwei Wochen habe ich von früh bis spät daran gearbeitet, meine Vorbereitungen für die erste Unterrichtswoche fertig zu stellen, habe Lehrpläne und Bücher gewälzt.
Professor Dumbledore hat mich genommen.
Die Antwort auf mein Schreiben war eulenwendend gekommen. „Ihre Bewerbung habe ich dankend zur Kenntnis genommen. Bitte finden Sie sich am Mittwoch 11 Uhr zu einem Gespräch in meinem Büro ein. A.D.“
Mehr nicht.
Dann stand ich vor ihm, in das grüne Samtkleid gezwängt, das ich bei Madam Malkins gekauft hatte, Hut und Umhang passend dazu. Meine Füße schmerzten in den engen Schnürschuhen aus Salamanderleder.
Dumbledore musterte mich lange über seine Brille hinweg. Es war genau jener undeutbare Blick aus diesen unglaublich blauen Augen, der einen zu durchdringen schien, der Blick, der mir schon als Schülerin Unbehagen bereitet hatte. Mir wurde abwechselnd kalt und heiß.
Dann fragte Dumbledore: „Sie möchten Bibliothekarin werden. Warum?“
Dieses ‚warum‘ kam wie ein Peitschenknall, wie ein Schuss in der Stille des Büros.
„Ich liebe Bücher“, erwiderte ich zaghaft.
Dumbledore schmunzelte: „Besonders die in der Verbotenen Abteilung, hm?“
Ich sagte nichts. Mir war das Blut in den Kopf geschossen.
„Die Stelle in der Bibliothek ist bereits besetzt.“
Aus.
Ich wollte schon gehen, suchte noch nach Abschiedsworten, da sprach Dumbledore weiter: „Aber ich brauche jemanden, der Verwandlung übernimmt, da ich nicht mehr selbst unterrichten werde. Wie wäre das?“
Langsam, ganz langsam erwachte ich aus meiner Betäubung. Verwandlung – nun, was die Praxis angeht, hatte ich in den letzten Monaten ausreichend Erfahrung gesammelt. Die Theorie ließ sich schnell auffrischen, aber das praktische Unterrichten? Mein Pädagogik-Studium lag Jahre zurück und wirklich unterrichtet hatte ich nie, immer nur Privatstunden gegeben. Patrick hatte nicht gewollt, dass ich an einer Schule arbeite, er hatte mir eingeredet, das sei zu viel für mich.
„Brauchen Sie Bedenkzeit?“
Woher soll ich wissen, ob etwas zu viel für mich ist, wenn ich es noch nie ausprobiert habe? Mit einem Schlag wird mir klar, was Patrick McGonagall wirklich wollte: ein Frauchen, das daheim auf ihn wartet, das Essen fertig und die Pantoffeln bereit hat, wenn er kommt, das zu ihm aufschaut und ihn bewundert, wenn er von seinen beruflichen und sonstigen Heldentaten berichtet, das keine eigene Meinung hat, ein Hausputtelchen wollte er, das ohne ihn nicht fähig ist, zu überleben. Und ich in meiner grenzenlosen verliebten Blindheit, ich war drauf und dran gewesen, genau so zu werden.
„Nein. Ich mache es.“
Dumbledore streckte mir die rechte Hand entgegen. „Willkommen in Hogwarts, Professor McGonagall.“
Ich schlug ein.
Professor Minerva McGonagall. Das klingt gut, respektheischend.
Aber Respekt verdient sich ein Lehrer nicht dadurch, dass er mit ‚Professor‘ angeredet wird. Vor Professor Owen hatten wir damals überhaupt keinen Respekt, sie hatte ihn gleich in der ersten Stunde verspielt, als sie uns Sechstklässler mit Geschichten von ihrer kleinen Tochter langweilte. Da konnte Sandy Owen zehn Mal am Tage darauf pochen, dass sie Professorin war – wir nahmen sie einfach nicht für voll.
Andrew Starfinder hingegen… Er war immer gut gelaunt, erzählte Anekdötchen, wenn es zum Unterricht passte, meckerte nicht ´rum, wenn einer das ‚Sir‘ vergaß, aber er verstand es, uns den Umgang mit magischen Kreaturen so beizubringen, das wir schließlich sogar mit einem Drachen klarkamen.
Schade dass Starfinder nicht mehr da ist. Von ihm hätte ich mir einiges abschauen können. Von den Lehrern, die ich selbst hatte, sind außer Dumbledore nur noch Professor Perkins und Professor Slughorn im Dienst. Wer weiß, wozu das gut ist.
Heute war also mein erster Tag als Hogwarts-Professorin.
Der Hogwarts-Express war wie immer am späten Nachmittag angekommen und zu Beginn des Begrüßungsfestes sind die Schüler noch lange nicht damit fertig, sich gegenseitig ihre Ferienerlebnisse zu erzählen. Diese Atmosphäre kenne ich gut, es ist ein Gefühl der freudig-bangen Erwartung.
Es wurde schlagartig still, als Jason Perkins, der stellvertretende Schulleiter, die Erstklässler hereinführte. Jeder einzelne musste nach vorn gehen und sich den Sprechenden Hut aufsetzen. Diese Tradition ist so alt wie Gryffindors Hut.
Es hieß, dass die Mitglieder einer Familie über Generationen hinweg immer ins selbe Haus kommen. Deshalb hatte ich auch an einen Irrtum geglaubt, als der Hut „Gryffindor“ gerufen hatte, kaum dass er auf meinem Kopf gelandet war. Alle Vorfahren meiner Eltern waren Slytherins gewesen, soweit die Aufzeichnungen reichten. Ich war die erste Mulciber seit Menschengedenken, die nach Gryffindor geschickt wurde.
Mit Interesse verfolgte ich die Aufteilung der Erstklässler. Mit Andromeda Black bin ich um einige Ecken verwandt, unsere Ururgroßmütter – oder war es noch ein „Ur“ mehr? – waren Schwestern. Nun ja, die reinblütigen Zaubererfamilien sind alle mehr oder weniger miteinander verflochten, aber niemand von meiner unmittelbaren Verwandtschaft ist unter den Schülern.
Interessanterweise gelangte Andromeda entgegen der Blackschen Familientradition nach Gryffindor und es war deutlich zu sehen, dass sie sich darüber freute.
Ich hatte seinerzeit lange geheult und meinen Eltern noch in der Nacht eine Eule geschickt. Die Antwort meines Vaters sehe ich noch vor mir: „Die Entscheidungen dieses alten Hutes sind nicht immer nachvollziehbar, aber immer richtig. Du bist eine Gryffindor geworden, also mach das Beste daraus.“
Ich denke, das habe ich getan.
Morgen werde ich das erste Mal vor eine Klasse treten. Ein neues Leben beginnt. MEIN neues Leben.
Eine schöne Wohnung haben sie mir gegeben, gemütlich, geräumig, mit viel Platz für Bücher. Inzwischen ist der Sekretär geliefert worden, den ich in dem Antiquariat in Edinburgh aufgestöbert habe. Ein richtiges Schmuckstück ist das mit Intarsien, allerlei Kästchen und Fächern und sogar einem geheimen Geheimfach. „Das gehört dazu“, hat der Händler gesagt, als ich ihn nach dem versiegelten Päckchen in dem einen Fach gefragt habe. Natürlich gehörte das Päckchen dazu, es ist die Anleitung zum Öffnen des Geheimfaches. Nur Sekunden später habe ich es offen vor mir.
Ich ziehe den Ring mit dem Smaragd des Ewigen Pfades vom Finger. Den brauche ich nicht mehr. Ich habe meinen Weg gefunden. Ich will über mein Leben selbst entscheiden, aber nicht über die Art und die Stunde meines Todes.
Kurz entschlossen lege ich den Ring in das unscheinbare Pappschächtelchen, das den Schlüssel zum Sekretär enthielt, stecke es in das Geheimfach und schließe es.
Schnapp. Der Riegel ist zu. Dieses Fach werde ich nie öffnen.
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