von käfer
Nach dem Aufstehen laufe ich los, weil ich immer nach dem Aufstehen losgelaufen bin. Tief im Wald erst wird mir bewusst, dass ich weder weiß, wo ich mich befinde, noch wohin ich gehen muss. Hier zwischen den riesigen alten Bäumen ist es noch dunkel und still. Die Geräusche der Nacht sind verstummt, aber noch zwitschert kein Vogel. Um mich herum kann ich nur dicke, moosbewachsene Stämme erkennen, am Boden ragen vereinzelte helle Felsbrocken aus dem weichen, kalten, feuchten Moos. Ich setze mich auf einen und überlege, was ich tun sollte. Ich denke hin und her und komme zu keinem Ergebnis.
Irgendwie fühle ich mich beobachtet. Vorsichtig schaue ich mich um – und blicke in zwei smaragdgrün leuchtende Augen. Das Einhorn! Deutlich sehe ich vor mir das weiße Einhorn mit den smaragdgrünen Augen. Aber es ist längst nicht so körperlich wie in meinen Träumen, es wirkt durchsichtig wie ein Geist. Es lächelt.
Wie kann ein Einhorn lächeln?! Bin ich nun doch verrückt geworden?
Ein inneres Gefühl treibt mich hoch, vorwärts. Moment mal! Diese Macht in mir kenne ich, die habe ich schon oft gespürt. Und mehr als nur einmal hat sie mich zu Dingen getrieben, die ich nicht wirklich tun wollte. Ich beiße die Zähne aufeinander und setze mich wieder auf den Stein. Mein ganzer Körper schmerzt und bebt, doch ich setze mich. Der Smaragd an meinem Ring beginnt grün zu glühen, er taucht den Wald um mich her in ein Licht, das geisterhaft und tröstend zugleich ist. Damals, als ich in dieser Höhle aufgewacht bin, bin ich zum Fluss hinunter gegangen und wusste, dass ich den richtigen Weg gewählt hatte, obwohl ich noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen war. In der Wüste hatte mir ein grüner Lichtstrahl den Weg zu dem Teich gewiesen, durch den ich in eine andere, fremde, irrationale Welt geraten war, wo ich letztlich aber auf Fuchur traf, der mich hierher brachte. Hierher, das ist auf jeden Fall Großbritannien und das ist besser als alles andere. Wenn ich nur wüsste, was es mit diesem Smaragden des Ewigen Pfades wirklich auf sich hat! Wen könnte ich bloß fragen?
Mir fällt nur Albus Dumbledore ein. Der weiß so viel, er kennt Mysterien, von denen noch niemand sonst etwas gehört hat. Ich werde nach Hogwarts gehen, ihm den Ring zeigen und ihn fragen.
Das grüne Glühen verlischt, stattdessen führt ein smaragdener Strahl in den Wald hinein. Ein paar Schritte weg, so dass ich es gerade noch sehen kann, wartet das Einhorn auf mich. Ich weiß, dass ich dem Strahl folgen muss, er wird mich direkt nach Hogwarts bringen.
Hm, eigentlich wollte ich erst nach London, um in Gringott´s in dem Verließ nach meinem Geld zu sehen. Der Strahl ändert ein klein wenig die Richtung. So ist das also! Wenn ich ein Ziel habe, aber den Weg nicht weiß, führt mich der Strahl. Das Einhorn nickt.
Kein Wunder, dass ich so durch die verschiedenen Welten geirrt bin – ich hatte einfach kein Ziel für meine Wanderungen.
Für einen Moment kommt mir der Gedanke, nach London zu apparieren, aber ich verwerfe ihn wieder. Es ist besser, meine Reise zu Fuß zu vollenden.
Der Wald ist verzaubert. Die Kronen der riesigen uralten Bäume sind ineinander verflochten, darunter herrscht grüne Dämmerung. Ich kann kaum meinen grünen Leitstrahl erkennen. Es ist still; nur ganz selten ruft ein Vogel, dann und wann knackt ein Ast unter meinen Füßen.
Meiner Erschöpfung und meinem Hungergefühl nach zu urteilen, muss es längst Mittag sein, als ich einen Hügel hinauflaufe. Oben lichtet sich der Wald, ich kann nach dem Sonnenstand sehen – Mittag ist schon ein Weilchen vorbei. Auf der Kuppe des Hügels wachsen weniger Bäume, dafür liegen hier jede Menge große Brocken herum, einige stehen hochkant und bilden ein Oval. Eine Handvoll Eiskugeln rinnt mir den Rücken hinab – war hier einst eine Burg? Oder eine Opferstätte? Ich spüre Magie, die Luft knistert beinahe. In der Mitte des Ovals ist eine Feuerstelle zu erkennen, ringsum wurden mittelgroße Sitzsteine gelegt. Beides gibt es noch nicht so sehr lange, ich kann hier und da noch Spuren erkennen, wo die Steine entlang gerollt wurden.
Ächzend plumpse ich neben der Feuerstelle ins Gras und raste. Während ich an der kalten Kaninchenkeule herumknabbere, die von der letzten Mahlzeit übrig geblieben ist, lausche ich und sehe mich unentwegt um, denn ich habe das Gefühl, dass ich nicht allein bin an diesem Ort. Irgendwer beobachtet mich.
Schließlich verstaue ich den Knochen in meinem Beutel. Ich wage nicht, ihn einfach wegzuwerfen oder einzugraben. Irrational, dieses Gefühl, ich weiß, aber ich kann mich nicht dagegen wehren.
„Kraah!“
Ich zucke zusammen. Ein Kolkrabe sitzt auf einem der stehenden Steine und schaut mich an. Als ich aufstehe, fliegt er weg. Was hat das zu bedeuten? Sind Raben nicht Unglücksboten?
Im Laufschritt renne ich den Hügel hinunter, je mehr Strecke ich zwischen mich und diesen Platz bringe, umso besser ist es.
Ohne anzuhalten marschiere ich durch den Wald, bis ich an einer Schlucht stehe. Die Gegend kommt mir bekannt vor und wieder rutschen Eiskugeln auf meinem Rücken herum. Ich stehe genau gegenüber der Stelle, an der alles begann, an der Schlucht ohne Wiederkehr. Ich bin zurückgekehrt. Lebendig. Und ich verspüre überhaupt keine Lust mehr, hinunter zu springen. Wer weiß, wo ich diesmal aufwachen würde. Noch so eine Reise durch fremde Welten mag ich nicht machen. Ich werde mir eine Bleibe suchen, ein zu Hause schaffen.
Ich hole tief Luft, konzentriere mich und appariere. Die Landung ist weich, es fühlt sich an wie Moos unter den Füßen. Es ist Moos, ich habe es geschafft, bin auf der anderen Seite. Drei Schritte neben mir meine ich den Stein zu erkennen, von dem ich damals gesprungen bin. Kam mir damals die Tiefe der Schlucht, das Tosen des Wassers an ihrem Grund, verlockend vor, finde ich es heute beängstigend, furchteinflößend, toddrohend – und renne, renne, renne weg. Weit komme ich nicht, in dem feuchten Wald kriege ich nicht genug Luft. Keuchend bleibe ich stehen, beuge mich vor. Etwas piekt mich in die Seite. Mein Zauberstab, natürlich. Vielleicht…Einen Versuch ist es wert. „Accio Rucksack!“
Tatsächlich kommt der Rucksack mit meinen Sachen angeschwirrt. Alles ist unversehrt, sieht aus, als wären nur Minuten vergangen, seit ich ihn abgelegt habe und nicht Monate. Unterhemd, Bluse, Jacke, Hose, alles riecht ein sogar bisschen nach frischer Wäsche. Ich ziehe mich um, packe das Brautkleid ein. Nach kurzer Überlegung binde ich die schweren Wanderstiefel – sie sind frisch geputzt – außen an den Rucksack. Ich habe mich so ans Barfußlaufen gewöhnt, dass ich beschließe, auch den restlichen Weg ohne Schuhe zurückzulegen.
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