von käfer
Fantasien und seine Bewohner stammen aus der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende und einigen Ergänzungsbüchern, an die ich mich nur noch bruchstückhaft erinnere
Urplötzlich finde ich mich in einer Stadt wieder. Von meinen Haaren tropft Wasser auf mein Kleid. Wieso bin ich angezogen?
Um mich herum herrscht unbeschreiblicher Lärm, Automobile rasen hupend vorüber, Menschen rennen vorbei, manche rempeln mich an. „Hört denn das nie auf?“, stöhne ich unwillkürlich.
Das Einhorn mit den grünen Augen ruft mich.
Ich werde langsam verrückt. Vielleicht bin ich es schon. Hinter mir hupt es dreimal.
Ein hübscher junger Mann in einem Cabrio ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Der Kerl erinnert mich an Tom Riddle und ich spüre Panik in mir aufsteigen. Hinter dem Cabrio hupt ein Bus, der Cabriofahrer gibt Gas und rast mit aufheulendem Motor davon.
Die Leute in dem Bus starren mich an, zeigen auf mich. Auch auf dem Fußweg bleiben Menschen stehen und gaffen. Ich stehe barfuß, im Brautkleid und tropfnass in einer fremden Stadt.
„Hilfe!“
Ich renne los, will mich irgendwo verstecken. Doch die Haustüren haben keine Klinken, nur Knäufe. An der Ecke ist eine Buchhandlung. ´Karl Konrad Koriander, Antiquariat´ verkündet ein Messingschild. Die Tür ist offen. Aufatmend trete ich ein. Rauschende Stille umfängt mich. Ich atme tief durch.
Das Rauschen ist in meinen Ohren, hier ist sonst gar nichts zu hören, kein Verkehrslärm von draußen, kein Rascheln und Flüstern und Blättern von drinnen. Hier ist niemand. Es riecht nach Staub und alten Büchern und etwas, das ich nicht zuordnen kann.
„Hallo?“, rufe ich zaghaft und bekomme keine Antwort.
Vorsichtig mache ich ein, zwei Schritte. Mein Kleid raschelt, das ist das einzige Geräusch. Links und rechts sehe ich Regale voller alter Bücher. Ich unterdrücke den Wunsch, hinzugehen und zu lesen. Ich muss jemanden finden, der mir sagen kann, wo ich mich befinde. Aber hier ist niemand.
Der Ladentisch ist leer, die Kasse offen und auch leer. Hat hier jemand eingebrochen? Was soll ich jetzt tun? Die Polizei rufen? Das wäre das vernünftigste, aber es ist falsch. Die Lösung des Rätsels ist im Hinterzimmer. Genau dorthin gehe ich, obwohl ich weiß, dass man nicht einfach in fremde Hinterzimmer geht. Wieder einmal treibt mich diese unsichtbare, unbekannte Kraft. Ich weiß einfach, dass es richtig ist, was ich tue. Angst habe ich trotzdem.
Das Hinterzimmer ist genauso gespenstisch still wie der Laden vorn und vollkommen leer. Ein Durchgang führt weiter. Ich finde mich auf einer Wendeltreppe wieder. Langsam steige ich nach oben. Vielleicht geht es hier hoch genug hinauf, dass ich einen Überblick bekomme und mir überlegen kann, welche Richtung ich einschlagen muss.
Die Treppe endet oben in einem stockdunklen Raum mit vermauerten Fenstern. Bleibt nur der Weg zurück.
Ich drehe mich um. Vor mir steht das Einhorn mit den grünen Augen, winkt mit den Ohren und verblasst.
Im Dämmerlicht meines Zauberstabes steige ich tief hinunter, tiefer als ich hinaufgestiegen bin, aber die einzige Tür, die ich finde, führt nicht in den Laden zurück, sondern ins Freie.
Statt in einem grauen Großstadthinterhof finde ich mich in einer blühenden Landschaft wieder. Das Einhorn mit den grünen Augen ist hier nicht, das spüre ich.
Als ich mich umdrehe, um in die Großstadt zurückzukehren, ist die Tür verschwunden. Hinter mir steht ein runder Turm ohne Tür, nur mit einem offenen Fenster ganz oben. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, rufe ich halbherzig. Es war der falsche Zauberspruch. Auch „Sesam öffne dich!“ bringt die Tür nicht zurück. Das Schicksal will mich über die Wiese jagen. Ich habe es satt. Ich will heim nach Schottland.
Vom Turm weg führt ein Pfad, der kaum noch als solcher zu erkennen ist. Mir bleibt wieder einmal nichts anders übrig, als auf der Suche nach einer lebenden Seele durch eine fremde Gegend zu marschieren.
Es ist still hier. Kein Vogel zwitschert, kein Insekt summt. Die Sonne steht groß und hoch am tiefblauen Himmel, aber sie wärmt nicht. Die Atmosphäre ist drückend, bedrohlich. Nicht wie vor einem Gewitter. Schlimmer, drohender, bedrückender. Das einzige Geräusch kommt vom Rascheln meines Kleides, wenn ich mich bewege. Sobald ich ruhig bin, herrscht Stille, tödliche Stille.
Ich folge dem Pfad, in der Hoffnung, dass er irgendwohin führt, wo vernunftbegabte Wesen leben. Die alte Verzweiflung greift nach mir, ich denke wieder an eine Stelle, an der ich den nächsten Versuch unternehmen könnte, mich zu Tode zu stürzen. Obwohl mir klar ist, dass ich auch diesen Versuch überleben werde und den nächsten und den übernächsten und den überübernächsten. Eigentlich will ich ja leben.
Je weiter ich durch unbekannte Gegenden wandere, umso mehr habe ich das Gefühl, dass daheim noch eine unerledigte Sache auf mich wartet, eine gewaltige, aber lohnende Aufgabe.
Ich laufe den ganzen Tag durch eine bedrohlich stille Welt, bis ich endlich einen früchtetragenden Birnbaum finde, der passenderweise ein paar Schritte von einer in Stein gefassten Quelle entfernt wächst. Sonst gibt es keine Spuren menschlichen Lebens hier, nur diese Steine.
Das Wasser schmeckt bitter und die Birnen sind unreif, aber immer noch besser als gar keine Nahrung.
Ich richte mir ein Nachtlager in einer Kuhle oberhalb der Quelle ein und falle in den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Im Traum sehe ich das Einhorn. Es sieht mich aus smaragdgrünen Augen hoffnungsvoll an, dreht sich um und läuft davon. Ich will hinterher, doch ich kann nicht aufstehen. Falle in eine bodenlose Schwärze.
Ich erwache vor Kälte. Über dem Horizont geht gerade die Sonne auf. Die Welt um mich herum hat sich verändert. Wo gestern noch der früchtetragende Baum stand, ist jetzt nur noch ein nacktes Gerippe. Von dem Gras unter meinen Füßen sind nur ein paar dürre Halme übrig. Wo sich gestern Abend in der Ferne Berge türmten, gähnt nun drohende, kalte Schwärze.
Voller Schrecken appariere ich zurück zu dem Felsentor, durch das ich irgendwann gestern gegangen bin. Weiter wage ich mich nicht. Nur gut, denn vor meinen Füßen zerbröseln die mächtigen Steine zu Sand. Und dahinter ist – nichts. Nichts.
Mein Herz klopft wild. Ich rase in magischen Sprüngen über das Land, bis ich entkräftet zu Boden plumpse und nicht mehr weiter kann. Mit letzter Kraft erklimme ich ein Felsplateau und sehe mich einem riesigen Tier gegenüber. Ich habe keine Kraft mehr zum Flüchten, nicht einmal zum Fürchten. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist blütenweiß, hat ein zotteliges Fell wie ein Eisbär, aber einen langen Schwanz wie ein übergroßer Hund, auch die Schnauze sieht eher aus wie bei einem Hund. Doch die Augen sind die großen, runden, braunen Kulleraugen eines Kuscheltiers. Am verblüffendsten ist der Ausdruck dieser Augen: gutmütig und intelligent. Das Wesen dreht langsam den Kopf zu mir herum und sagt mit einer angenehmen, freundlichen Stimme zu mir: „Hallo Minerva!“
Das Wesen kennt meinen Namen! „W-wer bist du?“, stottere ich. „W-wo sind wir hier?“
Das Wesen knurrt und es klingt wie ein belustigtes, halb unterdrücktes Lachen. Es IST ein belustigtes Lachen. „Du würdest nie darauf kommen, auch wenn ich dich hundert Mal raten ließe. Wir sind in Fantasien und es ist nicht deine Geschichte, in die du hineingeplumpst bist. Du hast dich verirrt, Minerva, jawohl, das hast du. Aber du hast das Glück, mich zu treffen. Ich bin Fuchur, der Glücksdrache.“
„Glücksdrache?“, frage ich und komme mir plötzlich sehr albern vor.
Das Wesen Fuchur antwortet mit einem gutmütigen Brummen.
„Wieso bröselt hier alles weg?“, frage ich unwillkürlich. „Dort, wo ich gestern gelaufen bin, ist heute nur noch ein riesiges schwarzes Loch.“
„Es ist das NICHTS“, erwidert Fuchur ruhig. „Fantasien zerfällt ins Nichts, weil niemand mehr an Geschichten glaubt und deshalb niemand mehr die Kindliche Kaiserin beim Namen nennt. Aber sei unbesorgt, Bastian Balthasar Bux ist auf dem Weg. – Du darfst mir eine Frage stellen, wirklich nur eine.“
Der Glücksdrache rollt sich brummend zusammen.
Ich darf ihm noch eine einzige Frage stellen. Dabei fallen mir auf der Stelle fünf ein. Ich zerbreche mir den Kopf, welches wohl die wichtigste Frage ist und überlege, wie ich mehrere Fragen in eine packen kann.
Es wird kälter. Das Felsplateau unter uns bebt.
Was fragt man einen Glücksdrachen, wenn man kurz davor ist, ins Nichts zu fallen? Jetzt, wo ich mich entschieden habe, am Leben zu bleiben und nach Hause zu gehen. Ich darf nicht ins Nichts fallen.
Plötzlich weiß ich es. „Ich suche ein Einhorn mit smaragdgrünen Augen, das mir den Weg in meine Heimat zeigt. Weißt du, wo ich es finden kann?“
„Du hast deine Frage gestellt und du bekommst eine Antwort.“ Der Drache richtet sich auf und sieht mich freundlich an. „Die Antwort lautet: Nein.“
Das Nichts bildet einen Klumpen in meinem Magen.
„Ich weiß nicht, wo dein Einhorn mit den smaragdgrünen Augen ist. Denn der Weg dorthin ist deine eigene Reise und diese Reise kannst nur du allein vollenden.“
Der Klumpen Nichts in meinem Magen wächst. Ein eisiger Finger greift nach meinem Herz.
Aus. Jetzt, wo ich endlich begriffen habe, was ich zu tun habe, kann ich es nicht tun, weil ich mich gleich in Nichts auflöse. Panik ergreift mich.
„Es ist deine eigene Reise, Trägerin des Smaragden des ewigen Pfades. Du allein musst sie vollenden, aber ein Stück weit kann ich dich tragen. Steig auf!“
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