von käfer
Die smaragdenen Augen des Einhorns leuchten so hell, dass ich aufwache. Natürlich steht kein Einhorn in meinem Zelt, aber über die ganze Wüste zieht sich ein schnurgerader grüner Lichtstrahl bis zu der Stelle in der Bergkette, wo ich die Kerbe mehr erahne als sehe. Der Strahl verschwindet, ehe ich seine Quelle ausmachen kann. Ich habe längst verlernt, mich zu wundern.
Es ist kühl in der Nacht. Ich schaue hinauf zum sternenübersäten Himmel, suche vertraute Sternbilder. Vergebens.
Jetzt, da ich einmal wach bin, kann ich auch loslaufen. Sehen kann ich genug und vor unliebsamen Überraschungen bin ich durch meine Zauber geschützt.
Stundenlang marschiere ich durch die Nacht und denke ausnahmsweise an gar nichts. Mein Gedankenkarussell hält wohl noch Nachtruhe.
Dann geht über den Bergen die Sonne auf. Es ist ein atemberaubendes Schauspiel, aber längst nicht so bezaubernd wie daheim in den schottischen Bergen. Wie ich mich danach sehne! Das Klima ist rau dort, wo ich herkomme. aber es ist besser als die ewige wolkenlose Eintönigkeit hier in der Wüste. Was gäbe ich dafür, wieder durch die Wälder, über Wiesen und Hügel meiner Heimat zu laufen!
Sofort meldet sich das schlechte Gewissen. Da war doch noch was…
Ich raste, kaue auf einem Stück Fleisch herum, sehne mich nach Haferschleim und lasse meine Blicke schweifen. Nanu?
Ich schließe die Augen, schüttele den Kopf und schaue nochmal hin. Tatsächlich, die Berge sind näher gerückt. Ganz deutlich kann ich in dem Einschnitt, der schon seit Wochen meine Orientierungshilfe ist, einen Wasserfall sehen.
Vor Aufregung kann ich kaum einschlafen, aber schließlich siegt die Erschöpfung. Es ist tiefe Nacht, als ich wieder erwache. Ich laufe los, nutze die kühlen Nachtstunden und komme viel schneller voran als vorher, wo ich mich den ganzen heißen Tag lang durch die Sonnenglut geschleppt habe. Die heißen Stunden verdöse ich im Zelt und so nähere ich mich Stück für Stück den Bergen.
Ich sinke auf mein eher provisorisches Bett. Heute habe ich auf allen Luxus verzichtet, ich war einfach zu erschöpft dafür. Aber ich liege im kühlen Schatten, bin vor Schlangen und lästigen Insekten geschützt und habe getrunken. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Blei. Ich bin viel zu lange in der Hitze gelaufen.
Patrick hätte sicher viel eher auf einer Rast bestanden. Hätte er? Er hätte. Er hätte mir genau gesagt, wo und in welcher Richtung ich das Zelt aufbauen sollte und mit welchen Schutzzaubern es zu umgeben war. So wie damals, als wir durch die Alpen wanderten und er darauf bestand, das Zelt auf einem flachen grasbewachsenen Landstück unmittelbar am Ufer eines Bergflusses aufzubauen. „Bist du dir ganz sicher?“, hatte ich gefragt. Der Muggelwetterbericht hatte für die Nacht einen Wetterumschwung mit Gewittern angekündigt. „Aber Liebling, ich bitte dich, schau doch mal den wolkenlosen Himmel an! Wo soll da ein Wetterumschwung herkommen?“ Ich hatte nichts mehr gesagt und das Zelt aufgebaut. Weil ich wie angewiesen den „Salvio Hex“ in beide Richtungen ausgeführt hatte, hörten die Muggel unser Lachen nicht, aber wir auch nicht das Donnergrollen und Brausen des steigenden Flusses. Erst als das Zelt aus der Verankerung gerissen wurde, merkten wir, was los war. Mehr instinktiv als mit Überlegung griff ich im letzten Moment nach meiner Kosmetiktasche, die wie immer in Reichweite über meinem Kopf hing, ehe Patrick mich am Handgelenk packte und mit mir auf das rettende Ufer apparierte.
„Liebling, konntest du nicht meinen Rucksack mit dem Proviant mitnehmen statt deiner albernen Kosmetiktasche?“
Ich antwortete nicht, denn ich hatte damit zu tun, meine Hände ruhig zu halten, während ich die Schnalle öffnete und meinen Zauberstab herausnahm. Gemeinsam riefen wir Patricks Rucksack zu uns, aber er bestand nur noch aus Fetzen; unser Essen war inzwischen sonstwo.
„Das macht nichts“, sagte ich und holte zwischen Tampons und Watte ein Döschen heraus, das mit „Intimcreme“ beschriftet war. „Unsere Reisekasse ist noch vollständig vorhanden.“
In Erinnerung an Patricks verdattert-schuldbewusstes Gesicht muss ich jetzt noch lachen.
Unwillkürlich entfährt mir aber auch ein Seufzer. Patrick war immer so stark und klug und wusste alles – ich glaubte oft, ohne ihn bekäme ich nichts auf die Reihe. Und doch bin ich ganz allein, nur mit Hilfe meines Zauberstabes, durch so viele fremde Welten gekommen, habe mich in verschiedenen Gesellschaften behauptet, Gefahren getrotzt, Freunde und Feinde unterscheiden gelernt...
Vor allem aber habe ich eines geschafft: selbständig zu denken und zu handeln. ICH KANN OHNE PATRICK MCGONAGALL LEBEN. Warum also sollte ich jetzt noch Selbstmord begehen? Eigentlich könnte ich nach Hause zurückkehren. Wenn ich es denn kann… Ich werde auf jeden Fall einen Weg suchen, aber jetzt muss ich ausruhen und schlafen. Schlafen…
Nach drei weiteren Marschtagen (oder waren es vier?) stehe ich zu Füßen des Wasserfalls. Er stürzt gut und gerne hundert Meter senkrecht herab in einen großen Teich mit felsigen Ufern. Ich mache mir keinerlei Gedanken, ob das Becken natürlichen Ursprungs ist oder nicht, sondern werfe mein Kleid ab, steige in das eiskalte Wasser und tauche unter.
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