von käfer
Diese Welt ist frei erfunden
Ich laufe wieder. Seit ungefähr drei Wochen marschiere ich durch diese Wüste, vorbei an übermannshohen Kakteen und vereinzelten dornigen Sträuchern. Die Berge, auf die ich zulaufe, kommen nicht näher. Ich frage mich manchmal, ob ich in einem riesigen Talkessel im Kreis wandere. Aber ich habe mir eine Kerbe in den Bergen gemerkt, die habe ich jeden Tag im Auge, sie bestimmt meine Richtung – aber ich komme ihr nicht näher.
Ohne den Zauberstab, meinen treuen Helfer, wäre ich längst tot. Mit einem Spruch kühle ich den sonnengeheizten Sand unter meinen bloßen Füßen, mit einem anderen halte ich Schlangen fern. Bin ich durstig, ziehe ich mit einem Zauber aus tief unter dem Sand befindlichen Adern Wasser, das ich aus einem Becher trinke, den ich aus einem Steinchen gemacht habe. Ein gleicher Stein dient mir nachts als Zelt, tagsüber als Sonnenhut. Auch mein Essen besorge ich mit dem Zauberstab. Es gibt hier kaninchenähnliche Tiere, die mir dank meiner magischen Fähigkeiten gehäutet, ausgenommen und gebraten zufliegen. Die Kakteen haben essbare Früchte, die ein paar Vitamine und ein bisschen Abwechslung liefern.
Es wäre ein Leichtes, hier das Leben zu beenden. Ich bräuchte nur die Schutzzauber zu lösen und ein paar der allgegenwärtigen Schlangen zu ärgern. Ich kenne mich mit Schlangen nicht aus, aber die Biester sehen sehr giftig aus. Die sengende Sonne würde ein übriges tun und nach kürzester Zeit versänken meine bleichen Knochen im Wüstensand.
Aber ich tue es nicht. Etwas hält mich davon ab. Es ist das Gefühl, etwas ganz wichtiges noch nicht erledigt zu haben. Ich habe keine Ahnung, was es ist, aber ich glaube, es hat etwas mit dem Einhorn mit den smaragdgrünen Augen zu tun. Ich sehe es oft im Traum, es steht einfach da und schaut mich an. Manchmal leuchtet der Smaragd an meinem Ring genauso wie seine Augen. Merkwürdig.
Schade, dass Patricks Großmutter gestorben ist, ehe sie ihm sagen konnte, welche Bewandtnis es mit dem Ring hat.
Patrick… Es scheint mir Ewigkeiten her, dass wir sorglos Hand in Hand durchs Leben schwebten. Es ist Ewigkeiten her. Es war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit.
Damals habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber heute glaube ich, dass Patrick irgendeiner Geheimgesellschaft angehört hat. Er kam und ging zuletzt ganz unregelmäßig, um sich mit diesem oder jenem zu treffen oder hatte zu komischen Zeiten „was dienstliches zu erledigen“. Da Patrick in der Sicherheitsabteilung des Ministeriums arbeitete, war das Thema tabu. Außerdem habe ich ihm vertraut und einige der Namen, die er von Zeit zu Zeit beiläufig erwähnte, waren mir bekannt.
Vielleicht hatten es die schwarzen Gestalten deshalb auf uns abgesehen.
Ich laufe, laufe, laufe. Laufe, laufe, laufe. Ich will nicht mehr.
Hundert Mal habe ich versucht, zu apparieren. Hundert Mal ist nichts passiert. Ich probiere es zum hundertundersten Mal. Zum hundertundersten Mal geschieht nichts. Es hätte mich auch sehr gewundert.
Erschöpft lasse ich mich zu Boden sinken. Dieses Land ist verflucht. Hier leben keine Menschen. Nur Schlangen gibt es und Schlangenfutter. Ich bin am falschen Ort, aber ich komme nicht weg. Die Berge sind heute genauso weit entfernt wie gestern, wie vorgestern, wie am ersten Tag. Wenn ich nun einfach meinen Zauberstab…
Ich habe die Schutzzauber um mich herum wieder errichtet, noch ehe mein Verstand das leise Rascheln im Sand der Schlange vor meinen Augen zugeordnet hat. Eine Macht von außerhalb trifft Entscheidungen für mich. Die ganze Zeit schon, seit ich im Blumenland aufgewacht bin. Wann war das eigentlich? Mir kommt es so vor, als wären es Jahre gewesen, als läge mein Leben mit Patrick schon Jahrzehnte zurück. Jahrhunderte.
Ich rappele mich hoch, ziehe einen Becher Wasser aus dem Boden und esse die Hälfte des Fleisches, das von gestern noch übrig ist. Dabei starre ich in die Ferne, auf den Einschnitt in der Bergkette. Dorthin zieht es mich, aber was hoffe ich zu finden? Ich weiß es selbst nicht. Mechanisch, ohne den Blick abzuwenden, stehe ich auf und setze wieder einen Fuß vor den anderen.
Die Sonne steht noch nicht hoch am tiefblauen Himmel, trotzdem ist es furchtbar heiß. Dank meiner Zauberkünste habe ich Schatten, ein sicheres Zelt mit einem bequemen Bett und immer ausreichend Wasser zum Waschen und Trinken und mein Kleid sieht sowieso jeden Morgen aus wie frisch vom Schneider. Aber allmählich beginne ich, mich nach einem kühlen Platz und einem Bad zu sehnen. Und wenn der Preis dafür wäre, mit einem wildfremden Mann zu schlafen – ich würde es tun.
Erschrocken bleibe ich stehen. Was hatte ich da gerade gedacht? Wie kann ich nur? „Patrick, bitte verzeih mir“, flüstere ich und setze mich wieder in Marsch.
Mit den Füßen setzt sich auch das Gedankenkarussell in meinem Kopf wieder in Bewegung. Während ich gehe, denke ich unablässig nach. Meine Gedanken springen unkonzentriert und unkoordiniert herum. Wenn ich anfange, über das Einhorn nachzudenken, mischen sich Erinnerungen an meine Schulzeit dazwischen und lenken mich ab. Mache ich mir Gedanken über die Aufgabe in meinem Leben, die unerledigt ist, schieben sich Bilder von Weihnachtsfeiern davor.
Wann immer ich aus diesen Träumen auftauche, habe ich das Gefühl, zwar bis zur Erschöpfung gelaufen, aber keinen Schritt vorangekommen zu sein.
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