von käfer
Die Wegebeschreibung stimmte. Am Abend des zweiten Tages erreichen wir die Lindwurmfeste. In meinem Inneren streitet die Neugier, zu sehen, wie solche Wesen wie Hildegunst von Mythenmetz leben, mit dem Wunsch, schnell an ein Ziel zu gelangen. Angesichts der wahnsinnig steilen Straße, die diesen künstlichen Berg hinaufführt, verzichte ich auf den Umweg. Ich will nicht bis in alle Ewigkeiten durch die Gegend laufen.
Meinen Beinen macht das beinahe ununterbrochene Gehen längst nichts mehr aus. Meine Fußsohlen sind dick und hart wie Leder, ich spüre kaum Steine unter den Füßen, weder Hitze noch Kälte machen mir etwas aus. Nur das Herz sehnt sich nach einem Platz zum Bleiben und der Verstand will ein geordnetes Leben. Was für Gedanken ich auf einmal habe!
Innere Unruhe treibt mich weiter, fast fühlt es sich an, als würde sich etwas Spitzes in meinen Rücken bohren und mich vorwärts schieben. Ein Einhorn-Horn?
Die Lindwurmfeste scheint der letzte Außenposten der Zivilisation zu sein. Bis dorthin war die Straße ordentlich gepflastert, dahinter wird sie zum zerfurchten Feldweg; jenseits eines verlotterten Hundlingsdorfes ist sie von Unkraut überwuchert. Nur eine schmale Spur kündet davon, dass ab und zu jemand hier entlanggeht.
Ich laufe auch nach Einbruch der Nacht weiter. Die Gegend ist mir nicht geheuer. In diesem Wald soll es von furchtbaren Geschöpfen nur so wimmeln. An dem Häuschen, das mit einer brennenden Laterne über der Tür, dem Widerschein von Kaminfeuer und leisen Essensdüften Gastlichkeit verheißt, marschiere ich schnell vorüber, den Blick abgewandt.
Riepischiep, der auf meiner Schulter sitzend nach hinten sichert, protestiert.
„Ich habe vergessen, wie das Wesen genannt wird, aber das dort ist mit Sicherheit kein Haus, sondern ein fleischfressendes Wesen“, erkläre ich. „Alles kommt einem schön und einladend vor und auf dem Herd steht deine Lieblingsspeise. Aber wenn du, hungrig wie du bist, davon gekostet hast, verschwinden Tür und Fenster und das Hausinnere füllt sich mit einer Art Magensaft und du wirst ganz langsam verdaut.“
Riepischiep macht ein würgendes Geräusch. „Ver- verkohlst du mich auch nicht?“, fragt er leise.
Soweit ich es beurteilen kann, ist es weit nach Mitternacht, als ich ein Lager zusammenhexe und mit einem Triplefexring sichere. Ausgelaugt nach dem langen Marsch und der kräfteraubenden Zauberei sinke ich auf die Matte, schaue hoch zu den Sternen und frage mich, ob es dieselben sind wie daheim. Unpassenderweise fallen mir wieder Lehrsätze von Professor Cameron ein: „Es gibt keinen absoluten Schutzzauber“ und „Bekannte Abwehrzauber helfen nur gegen bekannte Gefahren.“ Äußerst hilfreich, wenn man sich in einer Welt befindet, in der alles unbekannt ist. Sowohl Julunius Regenschein als auch Laptantidel Lattuda als auch der Hafenmeister von Gralsund haben mir erzählt, dass es in den Wäldern hinter der Lindwurmfeste nur so wimmelt von gefräßigen Laubwölfen und anderen gefährlichen Biestern. Bislang habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Zwar wäre es mir lieb gewesen, ich könnte die Art meines Todes selbst bestimmen, aber wenn mir irgendein giftspritzendes, beißendes oder würgendes Wesen den Garaus gemacht hätte – nun, ich hätte es hingenommen. Seit ich allerdings mit Riepischiep unterwegs bin, ist es anders. Ich fühle mich verantwortlich für den tapferen kleinen Mäuserich und muss ihn mit meinen Hexenkräften beschützen. Deshalb habe ich mich heute auch für den Triplefexring entschieden, den wirkungsvollsten Schutzzauber, den ich kenne, aber auch den anstrengendsten. Es dauert 33 Minuten, den Zauber zu wirken, und mehrere Stunden, um die dabei verbrauchten Kräfte zu erneuern. Ich muss dringend etwas mit viel Zucker und Fett zu mir nehmen. Glücklicherweise haben wir uns in den unteren Etagen der Lindwurmfeste mit reichlich Proviant eingedeckt. Zu meinem Leidwesen gab es kein richtiges Brot, sondern nur weiches, süßes Weißgebäck, fettige Kakaohörnchen und solche Dinge. Doch genau das brauche ich jetzt.
Ich stemme mich hoch. Mir schmerzen alle Glieder und ich stöhne unwillkürlich laut auf. Riepischiep macht einen Satz und steht mit gezogenem Schwert kampfbereit da. „Keine Sorge“, beruhige ich ihn, „durch diesen Schutzzauber kommt nichts und niemand durch. Mir tun nur alle Knochen weh, weil es so anstrengend war, ihn zu wirken.“
„Oh. Aber das ist nicht gut, wenn du keine Kraft mehr hast. Bei der nächsten Rast halte ich Wache, damit du schlafen kannst.“
„Das ist nicht nötig“, murmele ich gerührt. „Ich muss nur etwas essen und dann schlafen wir und morgen früh ist alles vergessen.“
Der Mäuserich sieht mich so zweifelnd an, dass ich denke, er hat meinen aufgesetzten Mut durchschaut.
Ich suche mir die fettigsten Kringel aus, die wir dabeihaben und trinke einen Becher heißen Met dazu. Allmählich kriecht wieder Wärme durch meine Adern und die Schmerzen lassen nach.
Ich kann mich nicht erinnern, mich schon jemals in einer Nacht so gefürchtet zu haben, nicht einmal damals, als ich am Ende der ersten Klasse als Mutprobe eine Nacht im Verbotenen Wald verbracht habe. Dabei war damals Vollmond und die Werwölfe heulten. In Sichtweite links von mir schaukelten ein paar Riesenspinnen träge in ihren Netzen, rechts kauten drei Thestrale an einem Kadaver herum. Doch damals war ich nicht allein. Ich wusste, dass die Großen, die Anführer der Erforscher des Universums, in Reichweite waren. Ich hätte nur das Angstsignal zu geben brauchen. Dann hätte ich zwar die Aufnahmeprüfung für den Geheimbund nicht bestanden, aber ich wäre heil in den Schlafsaal gelangt. Hier nutzte das Angstsignal nichts, es gibt keine Großen und keinen Schlafsaal, auch keinen Patrick. Ich bin in einer Umgebung, mir der verglichen der Verbotene Wald ein Vergnügungspark ist, auf mich selbst angewiesen und muss auf Riepischiep aufpassen.
Die Erschöpfung lässt mich in einen unruhigen Schlaf fallen. Es raschelt und huschelt um uns herum. Pelzige Wesen laufen vorbei, es faucht und kratzt und glühende Augen starren mich an. Es dämmert schon, da nähert sich etwas, das aussieht wie ein Igel auf Stelzen. Mit einer langen Nase, die beweglich ist wie ein Elefantenrüssel, wühlt es im Boden, genau an der dünnen blauen Linie, die die Grenze des geschützten Bereiches markiert. Mich überläuft es eiskalt, als ich die nadelspitzen Hauer sehe, die aus seinem Maul ragen. Ich umkrampfe den Zauberstab und zwinge mich, ruhig zu halten. Wenn ich jetzt einen Fluch auf das Wesen abfeuere, bricht mein Triplefexring zusammen. Tue ich nichts, besteht immerhin noch die Chance, dass das Wesen da draußen nicht über Zauberkräfte verfügt und nichts von uns mitbekommt. Riepischiep regt sich. Er ist ebenfalls erwacht und hat das schnüffelnde Etwas entdeckt. Mit einem Fiepser springt er hoch. Im letzten Moment halte ich ihn zurück. „Nicht! Wenn du über die Linie trittst, bricht mein Zauber zusammen. Du musst ganz ruhig hier bei mir bleiben.“
Sicherheitshalber drücke ich den Mäuserich an mich. Er zittert wie Espenlaub, hat aber tapfer sein Schwert erhoben. „Der kriegt mich nicht!“
Nach einer Ewigkeit hebt der Schweinigel sein Hinterbein wie ein Hund und pinkelt. Ich zucke zurück und wäre um ein Haar über die Linie gefallen. Aber der Urin prallt an der Schutzglocke ab und versickert zischend. Ein paar alte Blätter lösen sich in Rauch auf. Das Zeug möchte ich nicht auf der Haut haben.
Nachdem sich der ungezogene Besucher verkrümelt hat, schlafen wir beide tief und fest, bis mich erneut ein unangenehmes Geräusch weckt: es regnet. Nein, es schüttet wie aus Eimern. Ich bin keine Sekunde zu früh aufgewacht, schon tropft es hier und da auf unser Lager. Aus den letzten trockenen Blättern zaubere ich wasserdichte Umhänge und Beutel, dann stapfe ich los, Riepischiep als Ausguck auf der Schulter. Viel wird er heute nicht sehen, aber wenn er läuft, wird er weggespült. Ich patsche durch den immer tiefer werdenden Schlamm und muss aufpassen, dass ich nicht hinfalle. Schließlich beginnt der Weg leicht zu steigen und das bedeutet, er verwandelt sich in einen schlammigen Bach.
Es ist wie verhext: die dicksten Schlammbäche fließen genau dorthin, wo ich gerade ausweichen will. „Es ist sinnlos“, schreie ich Riepischiep zu, „wir müssen einen Unterschlupf suchen.“
Ein paar Schritte weiter ragt eine riesige Fichte in den grauen Himmel. Ihre Äste sind so dicht, dass es darunter trocken ist und bequem erreichbar, aber weit genug von den tosenden Wassermassen am Boden entfernt lädt ein dicker Ast geradezu ein, sich darauf niederzulassen und am Stamm anzulehnen – der perfekte Unterschlupf. So perfekt, dass es in meinem Nacken kribbelt. Ich spüre eine Art Magie, es sind dieselben konfusen Ströme, die das einladende Haus gestern Abend ausgesandt hat. Den Baum nicht aus den Augen lassend weiche ich zur Seite aus, wo ich schemenhaft einen großen Felsbrocken erkenne, den ich umformen kann.
Da passiert es. Mit einem infernalischen Krachen sackt die Fichte in sich zusammen. An ihrer Stelle steht eine Gewitterhexe. Sie schreit und flucht so laut, dass ich kein Wort verstehe. Mit Armen wie Weidenruten peitscht sie in meine Richtung, Blitze schießen aus allen zwanzig Fingern. Jeder Schritt, den sie tut, ist ein kleines Erdbeben. Steine poltern.
Riepischiep ist schlau genug, sich auf einen Ast zu flüchten. Auf ihn kann ich jetzt nicht achten, beschützen muss ich ihn dennoch.
Die Hexe versucht, mich zu packen. Ich mache einen Sprung rückwärts und versuche gleichzeitig, ein Schutzschild aufzubauen. Vergebens. Ich muss zum Angriff übergehen, doch was ich auch versuche – Stupor, Petrificus Totalus, Tarantellegra – nichts zeigt auch nur ein Fünkchen Wirkung. Und die Gewitterhexe kommt näher, erbarmungslos alles zertrampelnd, was ihr im Wege steht. Ein Glück nur, dass sie so langsam vorwärtskommt. Das gibt mir Zeit, zurückzuweichen, doch ihre Gewitterfinger greifen mit immer neuen Blitzschlägen nach mir. Mir fallen keine Flüche mehr ein. Ich schleudere einen Feuerball in die Gegend, in der Menschen ein Herz haben. Immerhin treffe ich, die Kreatur jault auf, aber der Treffer ist nur oberflächlich und ihre Arme strecken sich gleich wieder nach mir aus. Ich weiß mir nicht anders zu helfen und schleudere einen Expulsio-Zauber, etwas, das eigentlich für leblose Gegenstände gedacht ist und an Wesen aus Fleisch und Blut normalerweise abprallt. Die Wirkung hier ist jedoch verheerend. Als hätte man Dynamit in einem hohlen Baumstamm gezündet, kracht eine Explosion und brennende Holzspäne fliegen durch die Gegend. Ich werde durch die Wucht der Detonation von den Füßen gerissen, schlage mit dem Kopf auf und sehe bunte Sterne.
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