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Fanfiction

Die Wanderungen der Minerva - Großstadt - 3

von käfer

Ich starre ihn an. Er starrt mich an.
Während wir uns anstarren, überdenke ich meine Möglichkeiten. Ich könnte ihn töten und sein Armband nehmen. Und dann?
Ich könnte ihn Kraft meines Zauberstabes zwingen, mich aus der Stadt zu bringen. Und dann?
Ich könnte ihm aber auch einfach die Wahrheit erzählen und um Hilfe bitten. Und dann?
Ehe ich mich für letzteres entscheiden kann, handelt er. Am ganzen Körper zitternd, kniet er vor mir nieder und sagt mit bebender Stimme: „Wieh 784, zu ihren Diensten, Magierin. Was ist ihr Wunsch? Womit kann ich zu Diensten sein?“
„Schlafen“, antworte ich, noch immer benommen und verwirrt, „Kann ich diese Nacht hier schlafen?“
„J-ja, Magierin. Sie kann hier schlafen. Ich hole rasch eine Decke, damit sie es bequemer hat.“
Ich frage mich, woher er weiß, dass ich eine Hexe bin. Da bemerke ich, dass ich den Zauberstab auf ihn gerichtet habe – ein Reflex, den man uns in Hogwarts vom ersten Tag an beigebracht hat. Ich versuche ein entschuldigendes Lächeln und stecke den Stab weg. Er gibt mir eine Decke, verneigt sich noch einmal vor mir und verschwindet in seinem Schlafzimmer.
Meine Glieder sind von den Strapazen des Tages zu Tode erschöpft, aber mein Geist ist hellwach nach dem Schrecken. So darf ich mich nicht noch einmal erwischen lassen, das kann tödlich enden. Warum bei Merlins Bartspitze hat mich der Mann nicht nach draußen befördert oder wenigstens die Polizei geholt? Wieso hat er solche Angst vor mir? Magie war in der Stadt allgegenwärtig, ohne dass ich einen einzigen Zauberer bemerkt hätte…
Die Gedanken entgleiten mir. Da ich praktisch im Wohnzimmer meines unfreiwilligen Gastgebers schlafe, wäre es günstig, wenn ich wach bin, ehe er aufsteht. Aber wann ist das?
Die Antwort erhalte ich, als draußen lautes Hupen ertönt und alles ringsum in gleißendes Licht getaucht wird. Das Hupen wird lauter. Der Mann muss mit oder vor den ersten Tönen aufgestanden sein, er kommt vollständig angekleidet aus dem Badezimmer, als das Hupen in eine Art Marschmusik übergeht. Im Vorbeigehen wirft er mir einen furchtsamen Blick zu, dann geht er zur Tür hinaus. Seine Schritte mischen sich mit dem eiligen Trappeln vieler Füße im Treppenhaus.
Ich nutze die Gelegenheit und verschwinde meinerseits im Badezimmer. Auch hier ist die Musik laut und deutlich zu hören. Während ich lauwarm dusche – heiß geht nicht -, wird die Musik von einer blechernen Männerstimme abgelöst, die verkündet: „Wieder beginnt ein neuer Tag. Stärkt euch dafür mit Leibesübungen. Marschieren auf der Stelle! Links und Rechts und Links-zwo-drei-vier! Links-zwo-drei-vier! Arme schwingen! Links-zwo-drei…“
Verborgen unter dem Desillusionierungszauber trete ich ans Fenster. Auf der Straße sehe ich in gleichmäßigen Abständen die Leute stehen, alle in braunen Anzügen. Mit zackigen Bewegungen führen sie die Befehle der blechernen Stimme aus – vollkommen synchron. Die Männer sehen alle ziemlich gleich aus, ich kann meinen Gastgeber nicht ausmachen. Nach ein paar Dehnungsübungen verkündet die Stimme: „Nun seid ihr gerüstet für den Tag. Stärkt euch und dann widmet euch ohne zu trödeln eurem wichtigen Tagewerk.“
Das Trampeln auf der Treppe setzt wieder ein. Ich setze mich an den Tisch, das Gesicht zur Tür. Wieh 784 huscht herein, bemüht, niemandem draußen einen Blick nach innen zu gewähren, und sinkt vor mir auf die Knie. Bis zu diesem Moment war ich unentschlossen, doch nun, da ich sein sorgengefurchtes Gesicht sehe, in dem dunkle Augenringe davon erzählen, dass er in dieser Nacht kein Auge zugetan hat, erfasst mich jähes Mitleid. Die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes stammen bestimmt nicht nur vom Sport.
„War ihre Nacht gut, Magierin?“ Das ist eine rein rhetorische Frage, er erwartet keine Antwort und setzt fort: „Was wünscht sie jetzt zu tun?“
„Frühstücken“, erwidere ich bestimmter, als mir zu Mute ist. „Ich möchte frühstücken und dann sollst du mir ein paar Fragen beantworten.“
Das Erschrecken ist ihm deutlich anzusehen, auch wenn er sich um Haltung und Fassung bemüht.
„Gib mir das gleiche Frühstück, das du isst.“
„Wie sie wünscht, Magierin.“ Er geht zu einem der Schränke und holt einige Pakete heraus. Seine Hände zittern, als er alles vor mich auf den Tisch legt. Bebend bleibt er neben dem Tisch stehen.
„Setz dich und iss mit mir.“
„Das…“, er schluckt zweimal, verbeugt sich. „Wie sie wünscht, Magierin.“
Wir essen schweigend. Ich sehe, dass er einerseits nervös ist und Angst hat, andererseits wirft er mir abschätzend-fragende Blicke zu. Immer wieder schaut er auf mein Handgelenk, wo wahrscheinlich ein Armband sitzen sollte. Dann sieht er mein Kleid an, irritiert, wie mir scheint. Da dämmert mir etwas. Gestern, als ich durch die Gebäude in der Stadt gelaufen bin, habe ich nicht darauf geachtet, aber im Prinzip ist es so, dass die Leute, die sich in den höchsten Etagen bewegten, am dunkelsten gekleidet waren. Die Menschen in den vergleichsweise hellen grünen Overalls verschwanden immer schnell hinter verschiedenen Türen; ihre Trupps wurden stets von einer dunkelgrün gewandeten Person angeführt. Ganz oben habe ich nur Leute in dunkelgrauen Anzügen gesehen und die warfen mir durchaus den einen oder anderen fragenden Blick zu. Ist hier die Farbe der Kleidung ein Statussymbol? Je dunkler, desto höher gestellt?
Das Benehmen von Wieh 784 mir gegenüber lässt allerdings den Schluss zu, dass Magier generell sehr hoch gestellt sind.
„Antworte bitte ehrlich“, beginne ich, „für wen hältst du mich?“
Er wird rot, beginnt zu schwitzen, entfärbt sich.
„Sie ist Kontrolle, Magierin.“
Über diese Antwort muss ich nachdenken. Ich verstehe nicht, was er meint. „Sie ist Kontrolle.“ – Moment, er hat stets in der dritten Person gesprochen. „Sie ist Kontrolle“ – er meint mich, glaubt, ich bin da, um ihn zu kontrollieren – worauf eigentlich?
„Bist du schon einmal kontrolliert worden?“
„Nein, Magierin.“
„Hast du etwas zu verbergen?“
„Nein, Magierin.“
Er lügt.
„Du fragst dich, warum ich ein weißes Kleid trage und kein Armband besitze, nicht wahr?“
„Ja, Magierin.“
„Als Magier müsste ich wie gekleidet sein – schwarz?“
Er ist inzwischen aschfahl, hat Schweißperlen auf der Stirn und tut mir Leid. Dennoch frage ich weiter, ich muss doch wissen, wie ich hier zu Tode kommen kann.
„Sie sollte dunkelblau gewandet sein, Magierin. Nur der Allerhöchste trägt Schwarz.“
„Ist der Allerhöchste ein Magier?“
Er nickt nur schwach.
„Welche Leute tragen weiß?“
„Ausgestoßene bekommen weiße Röcke, Magierin.“
Aha. Jetzt wird mir einiges klar. Kein Wunder, dass er so verwirrt ist – einerseits sind Magier hochgestellt und angesehen und ich bin eine Magierin, andererseits trage ich das Weiß der Außenseiter.
„Ich bin keine Ausgestoßene. Ich komme von Außerhalb. Ich habe mich verirrt.“
„Verirrt?“
Er reißt Augen und Mund auf in ungläubigem Staunen. Entweder kennt er das Wort nicht oder aber Magier verirren sich einfach nicht. Ich tippe auf Letzteres und habe plötzlich das irrationale Bedürfnis, mich zu erklären. „Ein Ortswechselzauber ist daneben gegangen. Statt dort zu landen, wohin ich wollte, bin ich am Flussufer in eurer Stadt herausgekommen, die mir völlig fremd ist.“
Er schüttelt den Kopf. Seine ganze Gestalt bebt in Panik. Er murmelt etwas, von dem ich nur das Wort „Weissagung“ verstehe. Eine Weissagung? Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, denn ich erinnere mich an etwas. Einmal hatte Sybil Trelawney versucht, mich mit Tom Riddle zu verkuppeln. Die Gute war ziemlich sauer, weil es nicht klappte und hat mich mit den wüstesten Prophezeiungen überhäuft. Natürlich ist nie etwas eingetreten, es handelte sich nicht um echte Visionen. Sybil war leicht zu durchschauen: sie wollte Patrick für sich. Meine letzte Begegnung mit Sybil am Abend nach der Hogwarts-Abschlussfeier war jedoch ganz anders. Sybil flirtete mit Dany, doch plötzlich ruckte sie auf ihrem Stuhl herum und erstarrte. Den Blick in die Innere Ferne gerichtet, sagte sie mit seltsam kratziger, ungewohnt klingender Stimme: „Die Schicksale der ältesten Tochter der Mulcibers und des letzen Nachkommen der Gaunts sind untrennbar miteinander verbunden. Ihre Weg werden sich wieder und wieder kreuzen und die Tochter der Mulcibers wird zugegen sein, wenn der Erbe der Gaunts stirbt.“ Noch sechsmal wiederholte Sybil diese Worte – sieben, eine magische Zahl, zusammen mit Stimme und Blick ein untrügliches Zeichen, dass Sybil nicht bewusst gesprochen hatte. Dass die Prophezeiung echt war.
Eiskalter Schweiß strömt mir in Bächen den Rücken hinab. Ich hatte nichts gehört, dass Riddle gestorben wäre und wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihn kurz vor meinem Abgang noch in der Winkelgasse gesehen. Vor meinem VERSUCHTEN Abgang. Muss ich deshalb am Leben bleiben? Weil Riddle auch noch lebt? Ich bin die älteste Mulciber-Tochter, dass Vorlost Gaunt Riddles Großvater war, wusste jeder. „Die Tochter der Mulcibers wird zugegen sein, wenn der Erbe der Gaunts stirbt.“ Muss ich erst zusehen, wie Riddle ins Gras beißt, damit ich selbst endlich Ruhe finde?
Das Einhorn…
Wieh 784 reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat sich die Decke um sein Armband gewickelt und raunt: „Hier kann sie nicht bleiben, Magierin von Außerhalb. Die Fänger werden sie finden und dann…“ Er verstummt, holt tief Luft, spricht leise weiter: „Die weiße Magierin kommt nicht in die Tretmühle.“ Ich verstehe. Die Fänger würden mich umbringen, wenn sie mich fänden. Es sollte mir nur recht sein, wenn sie es kurz und schmerzlos machten. Ehe ich etwas sagen kann, fordert Wieh mich auf: „Sie muss mitkommen, Magierin. Ich bringe sie weg, nach draußen.“
Ich wage einen letzten Vorstoß: „Musst du nicht zur Arbeit?“
Er schüttelt den Kopf, wendet sich zur Tür, hält inne. „Kann sie sich unsichtbar machen? Wie gestern?“
Ich tue ihm den Gefallen, gehe aber dazu ins Badezimmer.


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