von käfer
Für die Großstadt-Welt habe ich mich von einem Batman-Film inspirieren lassen, aber alles andere ist eigene Erfindung.
Es hat wieder nicht geklappt. Ich bin auf einer Parkbank am Ufer eines breiten, schmutzigen Flusses aufgewacht. Kleid, Zauberstab und Ringe sind unversehrt, Merlin sei Dank.
Obwohl mildes, sonniges Wetter herrscht, ist der gepflegte Uferstreifen menschenleer; die Abdrücke meiner bloßen Füße sind die einzigen Spuren im Sand des Spazierweges.
Dafür herrscht auf dem Fluss ein reges Treiben. Riesige, mit Stapeln großer Kisten beladene Schiffe fahren so schnell vorbei, dass ich mich frage, wie sie angetrieben werden. Ein paar kleinere Boote voller Menschen sind dazwischen. Es sind anscheinend Fähren, die Leute stehen dicht gedrängt an Deck.
Ein Stück flussabwärts führt eine Treppe vom Ufer weg. Ich steige hinauf und gelange auf einen ebenfalls menschenleeren Gehweg. Vor mir rasen auf einer achtstreifigen Straße Automobile vorbei und machen einen Höllenlärm. Ich appariere auf die andere Straßenseite und frage mich, wie die Muggel wohl die Seite wechseln.
Die Häuserfassaden sehen alle einheitlich aus und bestehen hauptsächlich aus dunklem Glas ohne Fenster, ohne Geschäfte, ohne Türen. Ich muss weit gehen, bestimmt zwei Meilen, ehe ich eine Querstraße entdecke. Die Kreuzung ist ein einziges Gewirr von Fahrspuren, die Autos rasen mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Kurven. Allmählich begreife ich, warum hier niemand zu Fuß geht: es ist zu weit und zu laut.
Notgedrungen folge ich den Häuserfassaden nach links. Nach ungefähr einer halben Meile tut sich eine breite Öffnung in der grauen Glaswand auf. An dieser Stelle verbreitert sich die Straße. Fahrzeuge halten an, Menschen steigen aus, andere ein und schon braust das Auto wieder davon. Er herrscht eine unglaubliche Geschäftigkeit, die Leute hetzen mit gesenkten Köpfen hin und her, aber es gibt keine Rempeleien, keine Zusammenstöße. Die meisten reden, während sie laufen, aber sie sprechen nicht miteinander, sondern plappern vor sich hin.
Die Kleidung besteht aus einem grauen oder braunen Overall, unter dem sie ein enganliegendes Dress in der gleichen Farbe tragen. Männer und Frauen sind kaum zu unterscheiden. Obwohl ich in meinem Brautkleid so anders aussehe, wirft mir kaum jemand einen Blick zu.
Ich reihe mich in den Strom der dahineilenden Leute ein und werde ins Innere des Gebäudes gesogen. Obwohl ich das Laufen durchaus gewöhnt bin, kann dich das Tempo kaum mithalten.
Im Inneren des Gebäudes ist alles grau, glatt und kalt. Der Gang ist hell, obwohl nirgends Lampen zu erkennen sind. Das Licht kommt von überallher; es gibt keine Schatten. Die Geräusche sind seltsam gedämpft.
Links gehen von Zeit zu Zeit düstere menschenleere Gänge ab. Ich verspüre keinerlei Lust, dort hinein zu gehen. Das Szenario auf der rechten Seite erinnert mich an das Atrium des Zaubereiministeriums. Einer am anderen befinden sich hier Aufzüge. Die Türen gehen auf, Personen springen heraus, andere hinein, Tür zu.
Ich bin schon weit in das Gebäude hineingelaufen, als mir auffällt, dass nur noch wenige Leute unterwegs sind. Dann und wann bleibt eine Fahrstuhlkabine leer. Hineingehen mag ich nicht.
Fast wäre ich wieder umgekehrt, da bemerke ich die Treppe. Sie ist menschenleer, aber hell. Hier, wo mich niemand sieht, zücke ich den Zauberstab und verwandle mein hübsches, auffälliges Brautkleid in so einen grauen Hosenanzug, wie ihn hier alle tragen. Ich habe kalte Füße, wage es aber nicht, Schuhe heraufzubeschwören. Wer weiß, was passieren würde. Daheim könnte ich es ohne Probleme tun. Wenn in einer italienischen Schuhfabrik ein Paar Sandalen auf Nimmerwiedersehen verschwindet, wird es keiner mit einer Hexe in Verbindung bringen, die sich in Großbritannien ein Paar Winterstiefel heraufbeschworen hat. Verboten ist es trotzdem, es gilt als Diebstahl – der allerdings nach dem siebten Folgespruch nicht mehr nachweisbar ist.
Wenigstens kenne ich einen Zauber für warme Sohlen. Ich steige die Treppe hinunter. Eine Etage weiter unten sehe ich Fahrzeuge, soweit das Auge reicht. Vielleicht kann ich durch die Tiefgarage ins Freie gelangen. Weit komme ich nicht, vor mir knallt eine Schranke herunter. In Augenhöhe bleibt ein Schild mit Symbolen, die ich nicht zu deuten weiß. „Nicht autorisierte Person!“, schreit eine blecherne Stimme. Erschrocken fahre ich zurück und flüchte die Treppe weiter hinunter. In der nächsten Etage das gleiche Bild: Automobile in Reih und Glied. Ich betrete das Parkdeck gar nicht erst; jetzt da ich weiß, wo die Schranke ist, sehe ich sie.
Immer tiefer gelange ich, bis ich schließlich vor einer geschlossenen Tür stehe, auf der ein Schild unmissverständlich verkündet, dass sofort ein Alarm losgeht, wenn man betritt, was auch immer hinter der Tür liegt. Ich steige wieder aufwärts und beschäftige mich mit meinem dringendsten Problem: ich muss mal. Aber so etwas wie eine Toilette habe ich bisher nirgends entdeckt. Gerade habe ich beschlossen, mich im Treppenhaus in einer Ecke zu erleichtern und das Pipi in den Fluss zu hexen, da rennen zwei Männer im Laufschritt an mir vorbei die Treppe hinunter. Uff!
Mit etwas Abstand folgen zwei weitere Männer und dann noch einmal vier. Sie tragen andere Kleidung als die Menschen, die ich bisher gesehen habe: lose geschnittene, hochgeschlossene Overalls von undefinierbarer grau-grüner Farbe mit Gummizügen in der Taille, dazu weiche schwarze Stiefel. Sie schweigen, doch sie werfen mir zweifelnde Blicke zu. Sie wissen, dass ich nicht an dieser Stelle sein dürfte.
Ich hetze die Treppe hinauf. Schweiß dringt mir aus allen Poren. Immer mehr solcher Männer kommen mir entgegen. Sie weichen mir aus, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.
Ich stürze am Erdgeschoss vorbei aufwärts und versuche, vom Treppenhaus an das Flussufer zu apparieren. Dort könnte ich, verborgen unter einem Desillusionierungszauber,…
Autsch! Verd…, ich bin gegen die Wand geknallt. Hier drin kann man also nicht apparieren. Das bedeutet, dass es in diesem Teil der Welt Magie gibt. Das bedeutet, dass ich doppelt aufpassen muss.
Verborgen unter einem Desillusionierungszauber lehne ich an der Wand und kneife die Beine zusammen. Wenn ich nicht bald ein Klo finde…
Der Korridor im ersten Stock sieht so ähnlich aus wie der unten drunter. Auf der einen Seite sind die Aufzüge, auf der anderen führen Gänge in das Gebäude hinein. Aus einem dieser Gänge kommt eine Frau gelaufen. Erst als sie einen berührt, sehe ich, dass zwischen den Gängen grüne Punkte an der Wand sind. So wie die Frau dasteht, hat sie das gleiche Bedürfnis wie ich. Der grüne Punkt wird rot, als eine Tür, die vorher nicht zu sehen war, zur Seite gleitet, einen blau beleuchteten Raum freigibt und die Frau darin verschwindet. Es dauert nicht lange, bis sie sichtlich erleichtert wieder herauskommt und dorthin zurückeilt, woher sie kam. Rasch löse ich den Desillusionierungszauber, sprinte über den Gang und lege meine Finger auf den grünen Punkt. Hoffentlich muss man dafür nicht auch „autorisiert“ sein. Nach einer Ewigkeit gleitet die Tür beiseite, ich springe hindurch und finde mich tatsächlich in einer Toilette wieder. Genau wie draußen ist hier alles glänzend grau. Das Klo selber ähnelt einer Rutsche, über die ständig Ströme von Wasser fließen, auf den hellen Balken muss man sich anscheinend setzen. Das kalte blaue Licht verursacht mir Kopfweh, es ist eiskalt, aber das ist mir egal.
So, mein drängendstes Problem ist gelöst. Obwohl die kalte, nach Desinfektionsmittel stinkende Toilette absolut nicht zu längeren Sitzungen einlädt, bleibe ich auf dem Donnerbalken hocken und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Was ich als nächstes brauche, ist Essen und einen Schlafplatz. Oder – noch besser – einen Fleck, von dem aus ich mich endlich aus dem Leben verabschieden kann. Ich schlage mir die flache Hand auf die Stirn. Vorhin habe ich die große Brücke gesehen. Von dort brauche ich nur vor eines der dahinrasenden Schiffe zu springen…
Und schon bin ich auf dem Weg nach draußen, hetze genauso wie die vielen grauen Gestalten. Draußen appariere ich bis zur Kreuzung. Das klappt wenigstens.
Missmutig starre ich auf das Gewirr der Fahrbahnen. Dass hier anders als daheim Rechtsverkehr herrscht, erleichtert mir die Orientierung nicht gerade.
Die zweite Spur führt hinauf auf die Brücke. Dorthin zu gelangen ist unmöglich. So wie die hier rasen, werde ich garantiert angefahren. Ich will aber nicht halbtot in die Hände von Medizinmännern fallen.
Ich appariere über die Uferstraße. Von dort führt eine Spur auf die Brücke hinauf. Während ich alles betrachte und einen günstigen Punkt zum Springen suche, kommt ein Mann den Fußweg entlang gerannt. Als er mich sieht, zögert er kurz, dann rennt er weiter. Der Fußweg führt unter allen Fahrbahnen hindurch, doch der Mann bleibt oben und joggt auf der Straße weiter. Fasziniert sehe ich ihm nach. Noch keine fünf Schritte hat er auf der Straße an der Seite der Automobile zurückgelegt, da ertönt ein Heulen, verglichen mit dem die Londoner Kriegssirenen Beruhigungsmusik waren. Die Fahrzeuge halten ruckartig an. Der Mann beschleunigt seine Schritte und läuft weiter in Richtung Brücke. Weit kommt er nicht. Das Heulen wird stärker, ein Dröhnen mischt sich dazwischen. Ein fliegendes Ding, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Helikopter hat, schwebt über dem Mann, ein metallener Greifer schießt hervor, packt den Läufer und zerrt ihn ins Innere. Das Flugding zischt davon. Auf der Straße herrscht noch eine halbe Sekunde Stillstand, dann rasen die Fahrzeuge wieder.
Upps! Das war eine deutliche Warnung. Wenn ich auf die Brücke gelangen will, muss ich hinaufapparieren und mich gleich hinunterstürzen. Ich suche mir die Stelle aus, konzentriere mich auf Ziel und Richtung und drehe mich um mich selbst.
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