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Die Wanderungen der Minerva - Insel der Jungfrauen - 4

von käfer

Ich bin draußen. Endlich betrete ich im Schutze der Dunkelheit auf allen vieren den Pfad, den ich vor fast einem Monat entdeckt habe. Schuld an der Verzögerung war meine vermaledeite Monatsblutung. Es war furchtbar, fühlte sich an wie damals, als ich das Kind verloren habe. Ich hatte schreckliche Leibkrämpfe, mir war hundeelend. Ida, diese dumme Pute, hatte nichts Besseres zu tun als zu Marga zu laufen, die – das hatte ich beizeiten herausgefunden – eine gewisse Befriedigung darin fand, Mädchen zu quälen. Stundenlang musste ich auf einer Stelle stehen, während Marga mit boshaft-lüsternen Blicken versuchte, mich zur Preisgabe meiner „sündigen Gedanken“ zu bewegen. Ich dachte gar nicht daran. Abgesehen davon, dass ich meine Erinnerungen an Patrick absolut nicht als sündig betrachte, mag ich diesen Schatz keinesfalls mit den verschrobenen Mitgliedern dieser grotesken Gemeinschaft teilen.
Irgendwann gab Marga auf. Schulterzuckend sagte sie: „Du willst nicht reden? Dann stirbst du eben.“ Für einen Moment war ich erleichtert, weil ich glaubte, Marga wolle mir Gift verabreichen. Doch das tat sie nicht, verhungern sollte ich.
Im Schutze der Dunkelheit führte sie mich fort. Wir gingen lange, stiegen über einen kleinen Hügel und durchquerten ein Wäldchen. Dahinter befand sich ein verfallenes großes Steinhaus. Das Dach fehlte, in den Wänden der Obergeschosse klafften Lücken. Das Erdgeschoss, in das Marga mich führte, war noch halbwegs intakt. Man hatte die Fenster mit Bohlen so vernagelt, dass noch Licht und Luft hereinkamen. Es zog fürchterlich.
Marga nahm mir das weiße Kleid weg und wies auf ein zerschlissenes Sackgewand von undefinierbarer Farbe, das auf einem stinkenden Strohsack lag. Ohne eine Sekunde länger zu warten, stapfte sie aus dem Haus. Ich hörte, wie sie draußen drei oder vier Riegel vorschob und vor sich hin murmelte: „Die wären wir los!“
Glücklicherweise hatte ich die Geistesgegenwart besessen, Zauberstab und Ringe unter den Strohsack zu hexen. Ich holte alles wieder hervor und rief mein Brautkleid herbei. Das wollte ich Marga nicht überlassen. Mit letzter Kraft machte ich aus dem gammligen Strohsack ein warmes Nest, in das ich sank und mich dem Schmerz überließ.
Als ich wieder aufwachte, war es stockdunkel, nur mein Smaragd verbreitete ein tröstendes grünes Licht. Ich war viel zu benebelt, um darüber nachzudenken, saß nur da, betrachtete den Stein und dachte an Patrick.
Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich in der rechten Hand meinen Zauberstab hielt und in der linken eine Schüssel mit Haferbrei. Die goldgelbe Flüssigkeit erwies sich als Butter. Das musste Margas Portion sein. Es gab immer eine kleine Menge zerlassene Butter, von der sich Marga reichlich nahm und dann ein bisschen an ihre Favoritinnen des Tages verteilte. Alle anderen bekamen nichts auf den grauen Brei. Unwillkürlich grinsend löffelte ich die Schüssel aus und spülte mit etwas Wasser nach, das ich aus einer Quelle herbeihexte, die ich im Wäldchen gesehen hatte. Patrick hatte schon recht gehabt, als er einmal sagte, dass man mit einem Zauberstab in der Hand auch dort immer noch einen Ausweg fand, wo sich Muggel hoffnungslos in der Falle befanden.
Eine neue Schmerzwelle zwang mich wieder in die Horizontale.
Wie lange ich auf diese Art dahinvegetierte, weiß ich nicht, aber irgendwann ließen die Krämpfe und Blutungen nach, mein Geist klarte auf und begann, Pläne zu schmieden.
Nun ja, PLÄNE konnte man es eigentlich nicht nennen, etwas in meinem Inneren trieb mich an. Ich apparierte aus dem Haus heraus und umrundete die Insel auf der Suche nach Klippen und Brandung. Aber ich fand nichts dergleichen, überall fiel das grasbewachsene Ufer sanft ins glatte Wasser ab. Vermutlich befindet sich die Insel in einem Binnensee, auch wenn ich kein anderes Ufer erkennen konnte. Nur einmal glaubte ich, in der Ferne ein Licht zu sehen, aber als ich ein zweites Mal hinschaute, war es verschwunden.
Was mich am meisten verwunderte, war das völlige Fehlen von Booten und Anlegestegen. Wie wurden Nahrungsmittel auf die Insel gebracht? Es gab keine Kühe und doch hatten wir Milch und Butter. Auch den Hafer bauten wir nicht selbst an. Außerhalb der Palisaden gab es eine kleine Siedlung, die von alten Frauen bewohnt wurde. Sie bauten das Gemüse an, dass die Jungfrauen innerhalb aßen. Aber auch diese Alten hielten keine Tiere – und doch waren in der Suppe manchmal Fasern von Hühner- oder Kaninchenfleisch.
Immer stärker wurde in meinem Inneren der Drang, den alten Pfad entlang zu gehen. Ich wusste, dort finde ich Erleuchtung und Erlösung.
Jetzt stehe ich hier, auf allen vieren, am Anfang des Pfades. Ich gebe mir einen Ruck und renne im Katzengalopp los. Als ich hinter ein paar Büschen außer Sichtweite bin, halte ich japsend inne. Ein Animagus vermag sich zwar äußerlich in ein Tier zu verwandeln, innerlich bleibt er aber ein Mensch und denkt und fühlt wie ein Mensch. Meine Lungen brennen, Arme und Schultern schmerzen vom ungewohnten Gang. Vermutlich ist die Geschichte von William dem Waldmann wahr, die ich in der Verbotenen Abteilung in der Hogwarts-Bibliothek gefunden habe: William der Waldmann war ein Einsiedler, der nichts mehr liebte als die Vögel des Waldes. Schließlich war es ihm gelungen, sich in eine Meise zu verwandeln. Als er jedoch losfliegen wollte, wusste er nicht, wie er sich bewegen sollte. Während er übte und probierte, vergaß er seine Umgebung völlig, achtete nicht auf die Gefahren des Waldes und wurde von einer Wildkatze gefressen. In all den Animagi-Verzeichnissen, die ich durchgesehen habe, habe ich Bären, Wölfe und Hirsche gefunden, aber kein einziges kleines Tier...

Über diesen Pfad huscht man nicht geduckt als Katze, man geht aufrecht, gleichmäßig, gemessenen Schrittes, reinigt dabei seinen Geist, nachdem man seinen Körper gereinigt hat.
Das Wasserbecken vor mir schimmert hell in der mondlosen Nacht. Es hat eine längliche Form wie eine Badewanne, es ist auch als Badewanne gedacht. Zwei Stufen führen ins Wasser, das über uralte steinerne Rinnen aus demselben unterirdischen See kommt, der auch die Quelle speist, von der die Jungfrauen ihr Wasser holen. Ich gleite ins Becken, das heiße Wasser ergießt sich über meinen Kopf, umspült meinen Körper, nimmt den Dreck des alten Steinhauses mit und den Mief des Palisadendorfes. Ich weiß genau, wann es Zeit ist, auszusteigen. Mein Brautkleid liegt am Rand, strahlend weiß und schön wie an jenem fernen Tag. Das viele Waschen in scharfer Seifenlauge hat ihm nicht geschadet.
Ich beginne zu gehen.
Die Nacht ist verzaubert. Obwohl es stockdunkel ist, sehe ich den Alten Pfad ganz deutlich vor mir, die Steinplatten leuchten unter dem Gras. Die Geräusche sind nicht die einer normalen Nacht. Von Ferne höre ich Gesang, der lauter wird, je länger ich gehe. Es ist ein Frauenchor, uralte Gesänge, harmonisch, kraftvoll, rein, nicht das gelangweilte Gesinge der Jungfrauen im Dorf.
Erst ganz leise, später immer lauter werdend, singe ich mit. Ich bin Teil des riesigen Chores. Vor mir, hinter mir wandeln schemenhafte Gestalten auf dem Pfad, singen und werden immer körperlicher. Ich habe Fragen, aber ich stelle sie nicht. Die Antworten werde ich bekommen, aber nicht jetzt.
Wir nähern uns dem Gipfel des Hügels. Der Gesang füllt mich ganz aus. Oben auf dem Hügel stehen die Säulen eines alten Tores. Dies ist Avalon. Einmal im Jahr erhebt es sich aus den Ruinen der Vergangenheit, kommen die Seelen der Priesterinnen hierher zurück. Ich bin mitten unter ihnen, gehe mit ihnen, singe mit ihnen, bete mit ihnen, als hätte ich es schon jahrelang so gemacht. Wir beten zur Göttin, bitten sie um Gnade, um Frieden für alle Seelen dieser Welt. Eine nach der anderen tritt durch das Tor und ist verschwunden, ohne dass der Gesang an Kraft verliert.
Ganz selbstverständlich tauche ich den Finger in die Schale mit Wasser und zeichne damit einen Halbmond auf meine Stirn. Dann trete ich durch das Tor.
Auf der anderen Seite erwartet mich eine Gestalt. Ihr holdes Antlitz ist wunderschön, so etwas habe ich noch nie gesehen. Das silbrige Kleid wogt um ihren Körper wie Nebelschwaden, um ihren Kopf lodern goldene Sonnenstrahlenflammen. Sie spricht mit einer Stimme wie tausend Himmelsharfen: „Sei gegrüßt, Sterbliche. Dir ist eine hohe Ehre zuteil geworden. Nur wenigen Sterblichen ist es vergönnt, durch das Tor von Avalon zu treten. Du hast die Reise begonnen, an deren Ende du nicht finden wirst, was du suchst. Aber etwas, das du nicht gesucht hast, wird zu dir kommen. Folge dem Licht des grünen Steins, folge deinem Herzen.“
Langsam verblasst die Göttin. Zu meinen Füßen tut sich ein Schacht auf, dessen Grund ich nicht erkennen kann. Ich springe hinein und weiß, dass ich das Richtige tue.


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