von käfer
Seit drei Wochen bin ich nun auf dieser „Insel der Jungfrauen“, ohne dass ich mehr gesehen hätte als die Siedlung, in der wir leben, und ohne dass ich eine einzige Gelegenheit gefunden hätte, aus dem Leben zu verschwinden. Wir – das sind, mich mitgezählt, 25 mehr oder weniger alte Jungfern, die jeweils zu dritt in einem kleinen Haus wohnen. Nur Marga lebt allein. Sie ist unumstritten die Chefin hier, sie herrscht wie eine Königin. Was Marga befiehlt, wird getan. Was Marga sagt, ist richtig, auch wenn ich es manchmal für völligen Blödsinn halte.
Der Tagesablauf ist streng geregelt und langweilig. Morgens bei Sonnenaufgang ruft uns eine Trommel zum Frühritual, das im wesentlichen darin besteht, der Vorsehung dafür zu danken, dass eine weitere Nacht in ruhiger Keuschheit vergangen ist – das ganze 25 mal, für jede von uns einzeln. Dann stimmt Marga einen Singsang an, der in meinen Ohren weiter nichts ist als die Aneinanderreihung von altenglischen Wörtern und Silben und einen Schutzzauber für unsere Jungfräulichkeit darstellen soll.
Damit vergeht der halbe Vormittag, dann gibt es ein Frühstück aus mehr oder weniger dünnem Haferschleim. Der Rest des Vormittags gehört der Reinlichkeit, das heißt, wir müssen erst die Häuser – einschließlich der leerstehenden – von oben bis unten putzen und dann uns selbst säubern. Jede von uns besitzt zwei weiße Kleider, die immer im Wechsel getragen werden.
Nachmittags wird gearbeitet, was nichts anderes heißt, als dass alle unter Margas Aufsicht im Gemeinschaftsraum zusammensitzen und Handarbeiten anfertigen: Deckchen häkeln, Borten weben, Tücher besticken – alles Dinge, für die ich kein Talent besitze.
Es gibt unzählige Regeln für den Fall einer versehentlichen Begegnung mit einem Ungeheuer namens MANN. Im Falle der Missachtung dieser Ge- und Verbote drohen strengste Strafen, ohne dass mir jemand gesagt hätte, welcher Art diese wären.
Jeden Abend erinnert uns Marga daran, welche Scheußlichkeiten Männer mit Jungfrauen tun wollen und mahnt zu ständiger Wachsamkeit. Diese Wachsamkeit sieht so aus, dass keine von uns auch nur eine Sekunde lang allein sein darf. Nicht mal auf dem Abtritt hat man seine Ruhe, nur der Vorhang im Schlafraum bietet ein wenig Privatsphäre. Man wird zwar noch gehört, aber wenigstens beim An- und Ausziehen nicht beobachtet, was mir die Möglichkeit gibt, meine Ringe und den Zauberstab im Kleid zu verstecken. In jedem Schlafabteil befinden sich neben dem Bett eine winzige Kommode mit etwas Unterwäsche, ein Waschtischchen, ein Kleiderständer und ein Hocker. Man hat mir nicht gesagt, von wem das Zeug stammt, das ich hier vorgefunden habe und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Paradoxerweise haben sie mich einfach aufgenommen, ohne zu fragen, woher ich komme und ob ich überhaupt noch Jungfrau bin. Keine fragt, warum ich nachts weine, obwohl ich sicher bin, dass Ada und Ida das durchaus bemerken.
Von früh bis spät denke ich an Patrick, sehne mich nach seinen Küssen und Umarmungen. Der Gedanke, dass ich ihn nie wiedersehen werde, schmerzt von Tag zu Tag mehr. Ich will ihm in den Tod folgen und finde doch keinen Weg.
Unter der Decke taste ich nach dem Smaragdring. Marga hat am ersten Tag einen derart gierigen Blick darauf geworfen, dass ich es gewagt habe, den Zauberstab zu benutzen und sie vergessen ließ, dass ich Schmuck besitze. Auf gar keinen Fall will ich den Ring verlieren, er ist ein Geschenk von Patrick. Wir waren nie offiziell verlobt, aber die Worte, mit denen er ihn mir schenkte, waren nichts anderes als ein Eheversprechen.
Ich erinnere mich noch an jede Minute dieses Tages. Wir hatten einen Ausflug gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes. Stundenlang waren wir kreuz und quer über Großbritannien geflogen, später hatten wir über dem Meer getanzt. Gegen Abend ruhten wir uns auf einem Inselchen aus, eigentlich war es nicht mehr als ein Felsbuckel, der aus dem Meer ragte.
Schweigend sahen wir der Sonne beim Untergehen zu. Als sie halb versunken war, nestelte Patrick in seiner Umhanginnentasche herum und steckte mir den Ring an: „Minerva, ich möchte immer in deiner Nähe bleiben. Wenn du diesen Ring trägst, bist du mit mir verbunden, egal wie viele Meilen uns trennen.“
Der Smaragd funkelte im Licht der untergehenden Sonne. Ich war überwältigt und stammelte: „Aber Patrick! So ein wertvoller Ring! Deine Familie… das kann ich nicht annehmen…“
Er drückte meine Hand zu und sagte leise, aber bestimmt: „Das geht schon in Ordnung. Der Ring ist ein altes Familienerbstück, ich habe meiner Großmutter auf dem Sterbebett versprechen müssen, ihn dem Mädchen zu geben, mit dem ich zusammenleben möchte, egal ob sie ja sagt oder nicht.“
Ich sah Patrick mit aufgerissenen Augen an.
Er fuhr fort: „Großmutter wollte mir noch etwas dazu erzählen, aber mehr als ´Der Ring hat´ konnte sie nicht mehr sagen.“
Nach einer Weile küssten wir uns und hätten uns wohl auch auf dem Felsen geliebt, wenn nicht die Wellen plötzlich über den Buckel geschwappt wären.
Die Erinnerung an Patrick trieb mir die Tränen in die Augen. Eine davon tropfte auf den Smaragd. Er glühte kurz auf. „Patrick, wo bist du?“, flüsterte ich voll Verzweiflung. „Hol mich hier weg!“
Ich muss noch mal raus. Nach den Ungeschriebenen Regeln müsste ich Ada und Ida wecken, doch wozu? Erstens befindet sich die Pinkelkammer mit unseren Nachttöpfen innerhalb des mit drei Riegeln und ebensovielen Ketten gesicherten Hauses; zweitens sind Ada und Ida bei mir, sobald ich nur mein Abteil verlasse. Die beiden machen einen Wettbewerb, wer als erste neben mir ist. Ada genießt eine gewisse Vorrangstellung in der Gemeinschaft, sie ist beim Putzen eine Art Aufseherin und viel öfter mit Marga zusammen als alle anderen. Ida neidet ihr diesen Posten und ist in allem besonders eifrig.
Ich gebe mir keine Mühe, leise zu sein; die Dielen knarren überlaut – etwas, gegen das ich leider keinen Zauber kenne. Linker Fuß – knack. Rechter Fuß – kna-a-arr. Ada schlägt die Decke zurück; das Geräusch kenne ich. Ida wirft sich herum und murmelt etwas. Drei weitere Schritte, zwei Paar Füße fahren in die Holzpantoffeln.
Ida ist zu ihrer Verärgerung eine Sekunde nach Ada neben mir, dafür ist sie beim Fragen schneller: „Was ist los?“
„Ich muss bloß mal, ihr könnt eigentlich in den Betten bleiben.“
„Das ist verboten!“
Jetzt ist Ada ärgerlich, sie sollte diejenige sein, die mich an die Regeln erinnert.
„Ich habe Leibkrämpfe. Habt ihr eine Medizin dagegen?“
„Nein.“ Adas Stimme trieft vor Schadenfreude, ich möchte ihr einen Kübel Eiswasser über den Kopf gießen. „Das ist die Strafe für unkeusche Träume.“
„Wieder was dazugelernt“, sage ich rasch, um neugierigen Fragen vorzubeugen. Als ich am ersten Tag das eine oder andere wissen wollte, hat Ada mich energisch darauf hingewiesen, dass einzig und allein Marga das Recht hatte, persönliche Fragen zu stellen und auch das nur unter vier Augen. Ada, dieses hinterlistige Biest, versucht jedoch immer wieder, mir mit verfänglichen Fragen Regelverstöße nachzuweisen.
Ich hole tief Luft: „Dann lasst uns jetzt miteinander auf den Topf gehen, damit ihr wieder in die Betten könnt.“
Mit in die Kammer huscht Ida; ich bemerke den giftigen Blick, den Ada ihr zuwirft, als sie sich regelkonform vor der Tür postiert, was der untergeordnete Aufsichtsposten ist.
Ida beugt sich vor und raunt verschwörerisch: „Sag schon, was hast du geträumt? Oder hast du dich wo angefasst?“
„Halt den Mund und guck aus dem Fenster!“, knurre ich hoffentlich laut genug, dass Ada vor der Tür es hört.
Als ich endlich wieder im Bett liege, bin ich hellwach, weil wütend. Wütend auf mich selber. Viel zu lange ertrage ich diesen Schwachsinn und die demütigende Behandlung hier, ohne mich zur Wehr zu setzen.
Ich finde keinen Ausweg, weil ich nur in Gedanken versucht habe, wegzukommen, und immer gleich resigniert habe, wenn ich auf Hindernisse gestoßen bin. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich genauso kraft- und saft- und willenlos wie die anderen, lebe in den Tag hinein wie ein Tier. Dabei habe ich etwas, was mich von den anderen grundlegend unterscheidet: meine Magie und die Katze in mir.
Zwar bin ich an das Geheimhaltungsgesetz gebunden, aber wenn niemand merkt, dass ich zaubere… Wo kein Kläger, da kein Richter! Als Katze könnte ich mich nachts nach draußen schleichen und mir wenigstens die Umgebung anschauen. Ich muss nur aufpassen, dass ich keine Fußspuren hinterlasse – hier gibt es nämlich keine Katzen. Und ich muss einen Weg aus dem Haus hinaus finden. Vielleicht kann ich auch direkt aus dem Bett disapparieren…
Da türmt sich schon wieder ein neues Problem vor mir auf: Ein Lichtstrahl fällt mir ins Gesicht, Ada lugt durch den Vorhang. Ich öffne ein Auge und fauche sie an: „Hau ab!“
Angestrengt versuche ich, mich an ein paar nützliche Sprüche zu erinnern. Darüber schlafe ich endlich ein.
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