von käfer
Endhaltestelle. Ich steige aus dem Bus, endlich. Die Gegenwart anderer Menschen bereitet mir körperliche Schmerzen.
Die Touristen zerstreuen sich, gehen zu ihren Hotels. Die ältere Dame, die mir während der Fahrt eine Unterhaltung aufgedrängt hat, winkt mir noch einmal zu. Ich habe ihr erzählt, ich wolle durch den Wald nach North Syllamore wandern und unterwegs in Wanderherbergen übernachten.
Ich habe keine Übernachtungen gebucht, ich will gar nicht nach Syllamore. Und mein Rucksack enthält keinen Schlafsack und keine Wanderausrüstung, sondern mein Brautkleid. Dies werde ich auf meinem letzten Weg tragen, nichts anderes. Eines Tages wird man im Wald vielleicht den Rucksack mit meinen Kleidern und dem Abschiedsbrief finden. Vielleicht auch nicht, niemand wird nach mir suchen.
In den alten Geschichten, die meine Großmutter erzählt hat, war von einer tiefen Schlucht im Wald die Rede, einer Schlucht mit senkrechten Wänden und einem reißenden Fluss am Grund. Wer dort hineinfällt, wird nie gefunden. Dahinein werde ich springen, den Kopf voran. Ich werde aus der Welt verschwinden, mich vermisst keiner. Wer sollte mich auch suchen? Meine Schwester ist mit ihrem Muggelmann nach Australien ausgewandert, auf meine Briefe hat sie nie geantwortet. Warum auch, nach diesem heftigen Streit?
Meine Eltern sind tot, genauso meine Großeltern, meine Tanten und meine Cousinen. Patrick, der Mann, der Inhalt, Ziel und Mittelpunkt meines Lebens war, wurde umgebracht, getötet vor meinen Augen von einer gespenstischen, maskierten, schwarzen Gestalt. Nichts ist mir von Patrick geblieben, nicht einmal unser Kind. Es kam tot zur Welt, nach der Nacht, in der uns diese dunklen Gestalten durch London gehetzt hatten.
Wir kamen aus dem Muggeltheater, es war nichts dabei, dorthin zu gehen. Sie haben uns aufgelauert, verfolgt bis in die Seitengasse, von wo aus wir apparieren wollten. Eingekreist haben sie uns, einer hat gerufen: „Das wird euer Ende, ihr elenden Verräter!“ Ich wusste nicht, was er meinte; die Stimme kam mir auch nicht bekannt vor.
Patrick hat es geschafft, mit mir aus dem Kreis heraus zu apparieren, aber kaum hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen, waren sie wieder da. Diesmal haben sie einen Anti-Apparier-Zauber gelegt. Wir sind um unser Leben gerannt, aber immer waren die finsteren Figuren hinter uns. Gelacht haben sie, hässliches Gelächter, das mir noch mehr Angst machte.
Schließlich waren wir in eine Sackgasse geraten. Sie waren überall, hinter uns, vor uns, über uns. Einen schwarzglänzenden Zauberstab konnte ich erkennen; ein grüner Blitz schoss daraus hervor, traf Patrick. „Flieh, bring dich und das Kind in Sicherheit!“, das waren die letzten Worte, die mein Mann mir zurief, bevor er tot zusammenbrach. Ich rannte und rannte und rannte, bis ich merkte, dass die schwarzen Gestalten verschwunden waren. Sie hatten es nur auf Patrick abgesehen, nicht auf mich. Warum?
Als ich irgendwann zu Tode erschöpft in die Wohnung zurückkehrte, war alles zerwühlt und zerschlagen. Kleidung und Hausrat lagen in Fetzen und Scherben am Boden, einzig und allein mein Brautkleid befand sich noch an seinem Platz. Ich hatte Krämpfe und spürte Nässe zwischen den Beinen. Panische Angst schnürte mir die Kehle zu. Mein Kind! Mit letzter Kraft apparierte ich zu meiner Großmutter. Sie war heilkundig, sie würde mir helfen.
Doch das Haus war verlassen und leer.
An die folgenden Stunden erinnere ich mich nur verschwommen. Die Krämpfe wurden so heftig, dass ich wohl zeitweise das Bewusstsein verloren habe. Schemenhaft konnte ich eine Nachbarin erkennen, sie bewegte sich um mich herum, fasste mich an, flößte mir etwas Heißes ein. In dem Moment jedoch, als das kalte, tote Kind aus mir herausglitt, war ich ganz bei Bewusstsein. Es war furchtbar, es war so endgültig, so sinnlos.
Ich wünschte, ich wäre in der endlosen Schwärze versunken, aber irgendwann kehrten meine Lebensgeister zurück. Und mit ihnen die schlimmen Nachrichten. Meine Cousine, die letzte, die ich noch hatte, war von einem Werwolf angefallen und getötet worden. Keiner wusste, woher er kam, wohin er ging, wer er war. Meine Tante verlor darüber den Verstand und erhängte sich. Meine Großmutter blieb nicht lange verschwunden. Man fand sie in einem verborgenen Durchgang zwischen Krummen- und Nocturngasse. Mit verrenkten Gliedern und aufgerissenen Augen lag sie da wie Patrick. Tot, nicht weit entfernt von der Stelle, an der zwei Jahre zuvor meine Eltern umgekommen waren.
Meine ganze Familie war ausgelöscht.
Warum sollte ich noch leben?
Ich gehe durch das Dorf, schlage den Weg nach Syllamore ein. Ein Schild sagt mir, dass es bis zur ersten Waldherberge drei Stunden Fußmarsch sind. Ich wäre um sieben Uhr dort, genau rechtzeitig mit Einbruch der Dämmerung.
Wer diese Wanderung antritt, geht eher los. Niemand ist mit mir auf dem Weg, und das ist gut so. Man kann mir kein Wandergefährtengespräch aufdrängen, keiner wird sich wundern, wenn ich verschwinde und nicht wieder auftauche.
Eine Meile oder so folge ich der Forststraße zur Waldherberge. Dort, wo der Weg nach Norden abbiegt, gehe ich auf einem Jägerpfad nach Südwesten. Keine Minute zu früh, ich höre Motorengeräusch und stelle mich hinter den mächtigen Stamm einer alten Fichte. Es ist der Jeep, der die Waldherberge versorgt und manchmal verspätete Wanderer einsammelt. Mich findet er nicht.
Auch den Jägerpfad verlasse ich bald und laufe nun durch den alten, wie verwunschen dastehenden Urwald. Die riesigen, bestimmt schon vier-, fünfhundert Jahre alten Fichten haben ihre Äste ineinander verflochten, kein Sonnenstrahl kommt zum Waldboden durch.
Meine Uhr werfe ich in die Höhlung zwischen die Wurzeln eines alten Baumes, ich brauche sie nicht mehr, Zeit spielt keine Rolle mehr für mich.
Ich laufe, bis ich fast nichts mehr sehen kann. An einer Quelle mache ich halt, esse und trinke etwas. Ich habe Proviant für zwei Tage dabei, in den alten Geschichten von Leuten, die die Schlucht gefunden und sich dann doch nicht getraut haben, hineinzuspringen und umgekehrt sind, heißt es, dass man drei Tage unterwegs ist bis zum Endpunkt des Lebens.
Auf einem trockenen Platz ein paar Schritte von der Quelle entfernt lege ich mich hin, den Kopf auf meinem Rucksack. Das letzte, was ich sehe, ist der Ring, den Patrick mir einst geschenkt hat mit dem Versprechen, mich niemals alleine zu lassen. Der Smaragd scheint von innen heraus zu leuchten; ich bin zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.
Ich schlafe tief und traumlos. Mein Gehirn hat nichts mehr, mit dem es sich beschäftigen müsste, es ist leer und ausgebrannt. Ich esse ein Sandwich, dann laufe ich weiter, den ganzen Tag. Es ist fast schon dunkel, als ich wieder an einer Quelle ankomme. Sie sieht aus wie die von gestern. Bin ich im Kreis gelaufen? Nein, die kleine Birke gab es gestern nicht.
Als ich erwache, ist es noch tiefste Nacht. Der Smaragd am Ring strahlt so viel Licht aus, dass ich genügend sehen kann. Ich laufe weiter und denke an nichts als an die Schlucht, die mein Ziel ist. Es ist still im Wald, nicht einmal ein Vögelchen piept. Mein Smaragd leuchtet, doch warum sollte ich mir Gedanken darüber machen, weshalb er das tut? Ich werde den Ring am Finger haben, wenn ich springe, er wird mit mir versinken, egal ob er leuchtet oder nicht.
Plötzlich höre ich ein Geräusch, bleibe stehen. Es klingt wie ein tosender Wasserfall. Es ist tosendes Wasser, ein verheißungsvolles Rauschen. Ich habe die Schlucht gefunden. Ich bin dem Ende meines Lebens nahe. Endlich.
Ich steige über umgestürzte Bäume und umgehe trügerische Löcher. Ich will nicht hier kurz vor dem Ziel mit gebrochenen Knochen liegenbleiben und den wilden Tieren zum Fraß werden, ich will schnell Schluss machen. Ich werde springen.
Als ich den tiefen Abgrund sehe, ist es, als würde mir eine schwere Last von den Schultern genommen. Mir wird eine schwere Last abgenommen: mein Leben.
Ganz langsam, feierlich, nehme ich das Brautkleid aus dem Rucksack. Es ist ein wenig zerknittert, ich streiche es glatt. Ich ziehe mich ganz aus, will auf meinem letzten Gang wirklich nichts tragen als Brautkleid, Ring und Zauberstab.
Die Kleider, die ich trage, Schuhe und Unterwäsche stopfe ich in den Rucksack. Ich schleudere ihn in den Wald.
Die Felsen am Rande der Schlucht sind scharfkantig, wie abgeschnitten. Es geht senkrecht in die Tiefe. Das Wasser unten kann ich nicht sehen, nur hören.
Ich atme tief durch. Den Kopf voran wollte ich mich hinunterstürzen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Ich drehe mich um, gehe ein paar Schritte zurück, raffe die Röcke, nehme Anlauf und springe in einem Satz mitten hinein in den Abgrund. So ist es richtig, so soll es sein, nicht kopfunter.
Ich falle, falle, falle. Die Röcke schlagen sich um wie ein Regenschirm bei Sturm, ich spüre die kühle Seide auf meinem Gesicht, sehe nichts als Weiß.
Die Schlucht ist unendlich tief. Meine Zehen berühren kaltes Nass. Es wird schwarz um mich herum.
Ende.
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