von Gipsy
"Sie scheinen sich ja inzwischen besser mit Tom zu verstehen, wenn meine Beobachtung aus dem Verwandlungsunterricht irgendein Indikator ist?"
Hermine zog eine Grimasse. Sicher, insbesondere die letzte Woche über hatte sich zwischen ihr und Riddle so etwas wie eine professionelle Koexistenz entwickelt und Dumbledore war nicht der erste Lehrer, dem aufgefallen war, wie viel Zeit sie beide während des Unterrichts miteinander verbrachten. Gestern noch hätte sie diese Feststellung vermutlich selbst auch noch enthusiastisch bestätigt, doch nach dem, was am Abend vorgefallen war, war sich Hermine da nicht mehr so sicher. Entsprechend lange brauchte sie, ehe sie antwortete: "So scheint es. Ich fürchte jedoch, dass es seinerseits nur Maskerade ist. So wie ich selbst ja auch nur vorspiele, ihm näher kommen zu wollen."
Dumbledore schaute sie besorgt von der Seite an, während sie schweigend den Weg hinunter nach Hogsmeade fortsetzten. Hermine war sich seines Blickes sehr bewusst und verstand nur zu genau, dass er sie damit zum Weitersprechen auffordern wollte, doch sie konnte nicht. Was zwischen ihr und Tom Riddle war, ließ sich einfach nicht in Worte fassen. Schon gar nicht gegenüber Dumbledore. Alleine der Gedanke, ihm zu erzählen, dass Riddle sich auf eine krankhafte Weise sexuell zu ihr hingezogen fühlte, war schon absurd. Seufzend wechselte sie das Thema: "Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie zu meiner Saloneröffnung erscheinen wollen. Professor Slughorn hatte mir versichert, dass Sie sich dazu bereit erklären würden, doch nachdem ich die Einladungen geschrieben hatte, kam es mir mit einem Mal sehr unhöflich vor, Sie als Gast anzukündigen, ohne dass ich Sie vorher gefragt hätte."
"Aber meine liebe Miss Granger", unterbrach Dumbledore sie lächelnd, "da müssen Sie sich doch gar keine Gedanken machen. Nicht nur bin ich offiziell Ihr Onkel und damit sowieso immer für Sie zur Stelle. Darüber hinaus weiß ich doch nur zu gut, dass all Ihre Handlungen unserer Sache dienen. Wann immer Sie Hilfe brauchen, ich bin für Sie da."
Warm lächelte Hermine ihn an. Es war trotz all der Dinge, die sie ihm nicht erzählen konnte, ein unheimlich beruhigendes Gefühl, einen mächtigen Magier wie Dumbledore uneingeschränkt hinter sich zu wissen. Schweigend gingen sie nebeneinander her, während Hermine sich langsam zu fragen begann, wo genau Dumbledore eigentlich mit ihr hin wollte. Er hatte sie an diesem Sonntagnachmittag in sein Büro rufen lassen und zu einem Spaziergang nach Hogsmeade eingeladen, doch sie war sich sicher, dass er nicht einfach nur mit ihr spazieren gehen wollte, sondern ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen hatte. Als sie sich schließlich der anderen Seite des Dorfes näherten, kam Hermine ein Verdacht.
"Gehen wir in den Eberkopf?", fragte sie vorsichtig. Sie hatte keine Ahnung, ob Dumbledores Bruder bereits zu dieser Zeit Wirt jener zwielichtigen Lokalität war, doch wenn es so sein sollte, war der Zweck dieses Ausflugs plötzlich sehr offensichtlich.
Dumbledore neben ihr zog überrascht die Augenbrauen hoch: "Sehr richtig. Was hat Sie zu dieser Vermutung veranlasst?"
"Ich ...", setzte Hermine an, unterbrach sich jedoch sofort. Würde sie zu viel verraten, wenn sie zugab, dass Aberforth auch in fünfzig Jahren noch hier arbeiten würde? Vermutlich nicht, welche Schlussfolgerung sollte Dumbledore daraus schon ziehen? Sie schüttelte den Kopf und erklärte: "Ihr Bruder arbeitet dort, nicht wahr? Aberforth Dumbledore, der angeblich mein Vater ist."
Sie sah, wie erneut jene feurige Neugier in seinen Augen aufblitzte, doch Dumbledore hielt sich mit Nachfragen zurück. Stattdessen bestätigte er: "Sehr richtig, meine Liebe. Ich dachte mir, es wäre nur angemessen, wenn Sie Ihren Vater tatsächlich einmal kennen lernen würden. Er weiß von unserer kleinen Lüge, ich habe ihm einen Brief geschrieben, entsprechend ist er auf Ihre Person vorbereitet."
Angespannt biss Hermine sich auf die Zunge. Beinahe hätte sie Dumbledore gefragt, wie es kam, dass er wie selbstverständlich Briefe mit seinem Bruder austauschte, immerhin war da ja die Sache mit Ariana. Doch wenn sie zugab, auch davon zu wissen, wäre das vermutlich zu viel. Sie bezweifelte, dass Dumbledore es schätzen würde, wenn er wüsste, wie viel sie tatsächlich über ihn wusste.
Nervös folgte sie ihm in die kleine, nur schlecht beleuchtete Kneipe, die an diesem Sonntagnachmittag bis auf einige wenige Stammgäste sehr leer erschien. Der Wirt bemerkte ihr Eintreten sofort und, ohne ein Wort an sie zu wenden, deutete auf eine Tür neben der Theke, durch die er anschließend selbst verschwand. Entschuldigend wandte Dumbledore sich an Hermine: "Mein Bruder ist kein Mann vieler Worte. Denken Sie bitte nicht, dass er unhöflich ist. Er ist nur ..."
"Das ist schon in Ordnung, Sir", fiel Hermine ihm mit einem schrägen Grinsen ins Wort. Sie erinnerte sich nur zu genau daran, wie viel es gebraucht hatte, Aberforth damals zur Kooperation zu bewegen. Er hatte erst den Eindruck eines bösen alten Mannes gemacht, aber am Ende war Hermine sich sicher, dass er einfach nur resigniert und zynisch war und darunter ein eigentlich sehr gutes Herz verbarg. Diese jüngere Version von Aberforth schien bereits ähnlich veranlagt zu sein.
"Miss Granger", begrüßte er sie mit einem Kopfnicken, nachdem sie ihm in den kleinen Nebenraum gefolgt waren. Es schien sich dabei um einen selten genutzten zweiten Schankraum zu handeln, denn auch hier standen mehrere Tische für Gäste bereit, ob deren staubigen Zustands aber waren sie alle lange nicht gebraucht worden. Durch ein einzelnes Fenster fiel trübe das Licht der Nachmittagssonne, deutlich gedämpft durch Schmutz, der sich über Jahre angesammelt haben musste. Außer den Tischen und Stühlen gab es nichts in diesem Raum, keine Bilder, Kerzen, Lampen oder gar einen Kamin. Skeptisch betrachtete Hermine den Stuhl, den Aberforth Dumbledore ihr zurecht rückte. Sie konnte keinen Staub darauf finden, entsprechend musste er ihn kurz zuvor abgewischt haben. Sehr viel sauberer wirkte er dadurch jedoch nicht. Mit einem schwachen Lächeln setzte sie sich.
"Sie sind also meine Tochter aus Amerika", eröffnete Aberforth ohne Umschweife das Gespräch. Hermine entging nicht, dass er seinen Bruder weder begrüßt hatte noch sonst wie den Anschein erweckte, ihn wahrzunehmen. Seine direkte Art, ohne höfliche Floskeln sofort auf den Punkt des Gespräches zu kommen, machte sie nervös. Unsicher schielte sie zu ihrem Professor, doch auch dieser hatte plötzlich eine deutlich ablehnende Haltung eingenommen. Genervt zuckte Hermine mit den Schultern. Wenn diese beiden Männer meinten, sie müssten sich wie kleine Jungs benehmen, so war das gewiss nicht ihr Problem. Sie wollte ihren angeblichen Vater kennenlernen.
"So kann man es sagen", erwiderte sie mit einem höflichen Lächeln: "Es war die beste Ausrede, die uns auf die Schnelle eingefallen ist."
"Und wer ist die Dame, mit der ich angeblich ein uneheliches Kind gezeugt habe?"
Überrascht lehnte Hermine sich zurück. Plötzlich ging ihr auf, dass ihre Mutter bisher gar keinen Namen gehabt hatte. Wieder schaute sie hilfesuchend zu Dumbledore, doch noch immer machte er nicht den Eindruck, an diesem Gespräch teilnehmen zu wollen. Kopfschüttelnd schaute sie zu Aberforth zurück: "Sie heißt ... Joan. Joan Brown. Sie ist Muggel. Sie haben sich zufällig im Muggellondon kennengelernt."
"Aha", brummte der Mann ihr gegenüber: "Und weil ich so ein verantwortungsloser Kerl bin, habe ich dann die schwangere Frau von mir gestoßen?"
Hermine lief rot an: "Nein, nein, natürlich nicht. Sie ... meine Mutter ... hatte damals schon geplant, nach Amerika zu gehen. Und Sie ... konnten nicht mitkommen, weswegen sie sich trennen mussten. Dass sie schwanger ist, hat sie dann erst in Amerika gemerkt."
"Und anstatt mich meiner Verantwortung zu stellen, bin ich lieber in England geblieben."
Plötzlich fragte Hermine sich, ob unter diesen grummeligen, beleidigt klingenden Aussagen nicht in Wirklichkeit Belustigung steckte. Sie legte den Kopf schräg und kommentierte provozierend: "Sie waren in der Tat ein sehr schlechter Vater für mich!"
Aus den Augenwinkeln konnte Hermine sehen, wie Dumbledore neben ihr tatsächlich eine Regung zeigte, doch sie blickte weiter konzentriert auf den anderen Bruder vor ihr. Aberforth starrte sie einen Moment lang nur ausdruckslos an, dann verzog sich sein Mund zu einem verschlagenen Grinsen: „Schlagfertig ist meine Tochter, das gefällt mir.“
Erleichtert erlaubte Hermine sich, eine weniger formale Position auf ihrem Stuhl einzunehmen und es sich tatsächlich ein wenig gemütlich zu machen. Ohne sich weiter an der abweisenden Ausstrahlung von Dumbledore zu stören, widmete sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Gespräch mit ihrem angenommenen Vater. Obwohl sie auch ihm gegenüber nicht über die Zukunft sprechen konnte und er im Gegensatz zu ihrem Professor äußerst kurz angebunden war, genoss sie es doch, mit einer zweiten Person sprechen zu können, vor der sie zumindest ihr normales Verhalten nicht verbergen musste.
Während draußen die Sonne langsam sank, ließ Hermine sich im Eberkopf ein Butterbier vom Wirt spendieren und feilte mit ihm an ihrer Hintergrundgeschichte. Dumbledore selbst hatte sich zwischendrin verabschiedet mit dem Hinweis, dass er für den Augenblick nicht gebraucht würde. Es war Hermine unheimlich unangenehm gewesen, wie sich ihr Professor verhalten hatte, doch Aberforth, der ihr Unwohlsein bemerkt hatte, hatte nur abgewunken, als sie schließlich alleine waren: „Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Granger. Albus und ich haben unsere ganz eigenen Probleme, sein Verhalten ist weder unerwartet noch verletzt es mich. Denken Sie einfach nicht darüber nach.“
Traurig erwiderte sie: „Ich… ich weiß tatsächlich, was zwischen Ihnen vorgefallen ist. Professor Dumbledore weiß nicht, dass ich es weiß, ich wollte ihm nicht zeigen, wie viel ich tatsächlich über ihn weiß, das könnte ihm unangenehm sein. Es tut mir wirklich sehr leid und ich wünschte… ich weiß auch nicht. Sie haben beide Ihre ganze Familie verloren, das ist einfach so traurig.“
Der Ausdruck auf Aberforths Gesicht wurde hart: „Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, aber das ist ein Thema, über das ich weder sprechen möchte, noch denke ich, dass Sie sich da einmischen sollten.“
Errötend blickte Hermine auf ihre Hände. Er hatte Recht, es stand ihr nicht zu über diese Dinge zu reden, als habe sie Ahnung von dem, was wirklich geschehen war. Es war nie geklärt worden, wer den tödlichen Fluch auf Ariana gesprochen hatte, doch sowohl ihr Professor als auch sein Bruder hatten ihm sein ganzes Leben lang die Schuld daran gegeben. Darum bemüht, den Nachmittag trotzdem positiv ausklingen zu lassen, wechselte Hermine das Thema und begann, Aberforth nach Hogsmeade zu fragen, insbesondere auch um zu erfahren, was in dieser Zeit anders war als in der Zukunft.
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