von Gipsy
"Ron, nicht so schnell! Ich will hier unten nicht verloren gehen, warte bitte!"
Außer Atem versuchte Hermine, mit den schnellen Schritten ihres besten Freundes mitzuhalten. Das Gewirr aus unterirdischen Gängen, die teilweise halb eingestürzt waren, behagte ihr nicht, und noch weniger die Vorstellung, Ron könnte sie in seiner Hektik aus Versehen abhängen. Im Gegensatz zu ihr war er schon einmal hier unten gewesen, vor vielen Jahren, als er zusammen mit Harry seine kleine Schwester Ginny aus der Kammer des Schreckens hatte retten wollen. Der Gedanke, dem toten Basilisken in eben jener Kammer einen Zahn zu rauben, um mit dessen Gift weitere Horcruxe zerstören zu können, war eine Eingebung des Himmels gewesen. Und Rons Fähigkeit, die Worte zum Öffnen der Kammer nachzuahmen, noch mehr.
Nachdem sich Harry von ihnen getrennt hatte, hatten es beide nicht ausgehalten, gar nichts zu tun. Um sie herum tobte eine Schlacht um Hogwarts, Todesser und Voldemort selbst trieben sich auf dem Gelände des Schlosses herum. Die Tatsache, dass es mit dem Finden der Horcruxe alleine nicht getan war, hatte schließlich in dem Einfall gemündet, der sie nun tief unter das Schloss geführt hatte.
Keuchend bemerkte Hermine, dass Ron vor ihr stehen geblieben war und stirnrunzelnd ein rundes Tor betrachtete, das mehrere Schlangen zeigte.
"Ich erinnere mich an das Tor, man muss es auch mit Parsel aufmachen", erklärte er schnell, "Ich weiß nur nicht mehr, ob Harry dasselbe zu dieser Tür gesagt hat ... hoffen wir‘s!"
Gebannt beobachtete Hermine, wie ihr Freund erneut die seltsamen Zischlaute ausstieß, die schon oben in der Toilette der Maulenden Myrte das Waschbecken dazu bewegt hatte, den Eingang zum Gewölbe frei zu geben. Zu ihrer Erleichterung bewegten sich die Schlangen, das Tor schwang auf. Dahinter kam eine riesige Halle zum Vorschein, düster, aber von einem unheimlichen, grünen Schimmer erfüllt, der ausreichte, um riesige Statuen zu enthüllen. Am anderen Ende der Halle lag in einer Wasserlache der tote Basilisk. Ohne zu zögern rannte Ron los, doch Hermine, die zum ersten Mal hier war, folgte langsamer.
Fasziniert wanderte ihr Blick über die steinernen Schlangenköpfe, suchte an der Decke und den Wänden nach dem Ursprung des unheimlichen Lichtes - und blieb schließlich an einem Gegenstand hängen, der in diesem feuchten, düsteren Kellergewölbe völlig deplatziert wirkte: ein Gemälde in einem angegriffenen Bilderrahmen aus Gold. Neugierig näherte Hermine sich dem Bild, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Ron keinen Unfug mit dem Zahn anstellen würde.
Als Hermine dem Gemälde, das etwa auf Kopfhöhe an einer der Statuen hing, näher kam, erkannte sie, dass es sich um ein Portrait handeln musste. Wenige Schritte vor dem Bild blieb sie stehen, erstarrt vor Entsetzen. Aus dem Bilderrahmen lächelte sie sich selbst entgegen. Ihre braunen Locken waren in einem eleganten Knoten gebändigt, wie sie ihn noch nie getragen hatte, und sie trug eine Slytherin-Uniform. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und verständnislos trat sie einen weiteren Schritt darauf zu, um mit den Fingern über ihr eigenes, gemaltes Gesicht zu fahren. In jenem Moment, da sie das Bild berührte, fing der Zeitumkehrer, den sie um ihren Hals trug, an, sich immer schneller und schneller zu drehen. Entsetzt starrte Hermine auf das kleine goldene Ding hinab, das sie im Büro der Schulleiterin auf dem Schreibtisch liegen sehen und aus einer Laune heraus mitgenommen hatte.
Eine gefühlte Ewigkeit drehte sich die Sanduhr, während Hermine mit offenem Mund stumm darauf hinab starrte. Ein leises Klicken verriet ihr, dass es schließlich stehen geblieben war, doch zu ihrem noch größeren Entsetzen begann plötzlich der Raum um sie herum zu verschwimmen. Ein letzter Blick wanderte zu dem Gemälde ihres Selbst, das ihr fröhlich zuwinkte und in einer ermutigenden Geste beide Daumen hochreckte. Dann verblasste auch dies, Hermine wurde in einen Wirbel der Zeit gesogen und musste kämpfen, nicht die Besinnung zu verlieren.
Ein scharfer Schmerz auf ihrer Brust - und ihr eigener Schrei, den sie ob der Schmerzen nicht unterdrücken konnte - riss sie aus ihrem heftigen Schwindel. Benommen bemerkte sie, dass sie auf einem kühlen Steinboden lag, der jedoch definitiv nicht der nasse, raue Stein der Kammer des Schreckens war. Stöhnend richtete sie sich auf, schaute sich um - und stellte fest, dass sie sich in der Toilette der Maulenden Myrte befand.
"Miss?", erscholl von der Tür her eine männliche Stimme, "Ist alles in Ordnung da drin?"
Die tiefe Stimme kam Hermine bekannt vor, und doch war sie sich sicher, dass sie sie noch nie gehört hatte. Und sowieso - was sollte diese ruhige Frage, während um sie herum eine Schlacht tobte. Egal, wo man sich aufhielt, nirgends war irgendetwas in Ordnung.
"Natürlich nicht!", schrie sie zurück, kümmerte sich jedoch nicht darum, dem unbekannten Mann weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Nervös betastete sie ihre Brust um herauszufinden, was den Schmerz verursacht hatte. Wieder stieß sie einen Schrei aus, diesmal jedoch weniger vor Schmerz als vor Schock: Der Zeitumkehrer war geschmolzen und hatte sich in das empfindliche Fleisch zwischen ihren Brüsten gebrannt.
"Miss, ich würde Ihnen gerne helfen, darf ich herein kommen?", erklang erneut die Stimme von der anderen Seite der Tür. Genervt rollte Hermine mit den Augen ob der überflüssigen Höflichkeit, doch ihre Angst und Verwirrung waren so groß, dass sie über jede Hilfe glücklich war: "Ja!"
Vorsichtig wurde die Tür geöffnet und Hermine, die noch immer auf dem Boden saß, sah zuerst einen Schuh, der unter einem langen Zaubererumhang hervorschaute. Ihr Blick wanderte hoch, registrierte einen langen braunen Bart - und sprang dann direkt in das Gesicht des Mannes.
Vor ihr stand Dumbledore. So, wie er vermutlich vor über fünfzig Jahren einmal ausgesehen hatte. Dumbledore, der vor einem Jahr von Snape ermordet worden war.
Als sei es das Natürlichste der Welt, eine junge Frau in Jeanshosen und roter Bluse statt der üblichen Uniform am Boden einer unbenutzten Mädchentoilette liegen zu sehen, schritt er auf sie zu und kniete sich nieder. Seine Augen hatten den Grund ihrer Schreie schnell erfasst, doch statt ihr direkt zu helfen, schnellte sein Blick empor und bohrte sich fragend in ihre Augen: "Ist das das, von dem ich annehme, dass es das mal war?"
Hilflos nickte Hermine. Das Metall auf ihrer Brust schickte rasenden Schmerz durch ihren Körper, sie war nicht an dem Ort, an dem sie sein sollte - und vor ihr stand ihr geliebter Professor, der eigentlich tot sein müsste.
"Welches Jahr haben wir Ihres Wissens nach?", fragte er mit leiser, einfühlsamer Stimme. Die Tatsache, dass er dasselbe vermutete wie sie, bestätigte sie in ihrer aufkeimenden Panik: "1997"
Sie sah, wie seine Augen überrascht aufleuchteten und dann sofort noch mehr Mitleid zeigten: "Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir tatsächlich gerade das Jahr 1944 haben."
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