von Dr. S
Hellwach lag James in seinem Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen, als könnte er sich darunter verstecken. Sein Blick lag auf dem Bett gegenüber. Sirius schlief noch. Seine Decke hing etwa auf Hüfthöhe und entblößte seinen Rücken, die Schulterblätter, die sich unter jedem Atemzug an- und wieder entspannten.
James hatte zugesehen, wie die ersten Sonnenstrahlen über seinen Rücken gekrochen waren und sich in seinen Haaren verfangen hatten. Das goldene Licht verlieh den schwarzen Strähnen einen seidigen Schimmer, der bei jeder Bewegung wanderte. James verfolgte ihn bis in Sirius‘ Nacken. Die kurzen Haare dort standen aufrecht, ohne dass der Schlaf sie übermäßig zerzaust hatte.
James hatte zu ihm rübergesehen, bis er eingeschlafen war. Ein verwirrender Traum hatte den nächsten gejagt und ihn mehrmals aus dem Schlaf gerissen. Dann hatte er in der Dunkelheit wieder nach Sirius gesucht, wach gelegen und sich gefragt, wieso er ihn so anstarrte. Ob er das überhaupt durfte.
Jetzt, viele Stunden später, war er sich immer noch nicht sicherer. Er wollte sich nicht weiter damit beschäftigen. Andere Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Er fragte sich, ob er etwas dagegen gehabt hätte, wenn Sirius irgendwann in der Nacht zu ihm unter seine Decke gekommen wäre.
Die Antwort darauf wollte er nicht einmal in Gedanken ausformulieren. Allein der Anflug ließ ihn wieder an Sirius‘ Lippen denken. Auf seinen.
James rieb sich unter der Brille, die er schon lange aufgesetzt hatte, über die müden Augen, aber er fühlte sich immer noch, als würde er träumen. Er stand so schnell auf, dass ihm kurz schwindelig wurde, und verließ ohne einen weiteren Blick auf Sirius das Zimmer.
Eine lange, kalte Dusche später traute er sich in die Küche. Seine Mutter saß am Tisch und las Zeitung, während die Teller hinter ihrem Rücken versuchten sich selbst zu spülen. Sirius musste noch oben sein.
James murmelte ein „Morgen“ und schenkte sich an der Arbeitstheke Kürbissaft ein. Er war sich dem Blick seiner Mutter überdurchschnittlich bewusst und ignorierte ihn umso bemühter.
„Gut geschlafen, James?“, fragte Dorea.
„Mhm…“ Die paar Stunden.
„Kommt Sirius auch gleich runter?“
„Denk schon.“
„Möchtet ihr was Besonderes essen?“
James trank einen Schluck. Der Kürbissaft vermischte sich mit dem scharfen Geschmack von Pfefferminzzahnpasta. Er verzog das Gesicht, was seine Mutter zum Glück nicht sah, und zuckte die Achseln.
Vier Stuhlbeine rückten über den Kachelboden, als seine Mutter aufstand. Sie griff ihm von hinten in die Haare und zog alle zehn Finger durch die wirren Strähnen, als könnte sie Ordnung hineinbringen. James duckte sich grummelnd weg.
„Du siehst aus, als wärst du gerade vom Besen gestiegen“, sagte Dorea tadelnd und seufzte, weil sie wusste, dass sie gegen eine Wand redete. „Alles gut bei dir?“
James nickte. Es fühlte sich nicht nach einer Lüge an, aber auch nicht ganz ehrlich. Er war verwirrt, das war die Wahrheit.
„James, was hältst du davon, wenn wir heute –“
Ein Klopfen auf Glas unterbrach sie. Ein stattlicher Waldkauz hämmerte seinen Schnabel gegen das Küchenfenster. Dorea ließ ihn herein und band die zwei Briefe von seinem Bein.
„Eure Hogwarts-Briefe“, las sie vor.
James stellte sein Glas mit einem lauten Klonk ab und eilte zu ihr, riss beide Briefe aus ihren Händen. Die schweren Pergamentumschläge versteckten ihre ZAG-Ergebnisse. James grinste und stürzte im nächsten Moment aus der Küche.
„Ich geh Sirius Bescheid sagen“, rief er seiner Mutter von der Treppe aus zu. Er nahm zwei Stufen auf einmal und stolperte prompt über die letzte. Taumelnd fiel er gegen seine Zimmertür, die nur angelehnt war und unter seinem Gewicht nachgab. Sirius war nicht hier.
James drehte sich auf den Fersen um und warf sich gegen die Badezimmertür. Er hämmerte mit der Faust dagegen. „Tatze? Tatze, bist du da –“
Sirius zog die Tür auf. James fiel ihm entgegen. Instinktiv stützte er sich ab – auf Sirius‘ nasser Brust. Er schien gerade aus der Dusche gekommen zu sein. Ein Handtuch war um seine Hüften geschlungen und das Haar hing in tropfenden Strähnen vor seinen Augen. Seine Haut glänzte nass. James‘ Handfläche wurde warm, als würde Sirius‘ Hitze auf ihn übergehen, wie bei einem ausschlagenden Feuer. Es prickelte, aber nicht genug um ihn zu vertreiben.
„Was?“, fragte Sirius.
James schob ihn zurück ins Bad. Er hielt die Briefe vor Sirius‘ Nase, so dicht, dass er ihn zum Schielen brachte. „Unsere ZAG-Ergebnisse sind da.“
„Und die konnten nicht warten, bis ich eine Hose trage?“, gab Sirius zurück.
„Hosen werden vollkommen überbewertet“, sagte James. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne und zog Sirius an seinem Handtuch neben sich. Es rutschte auf eine gefährliche Höhe, bevor Sirius es zu packen kriegte. Er ließ sich neben James auf den Wannenrand nieder.
James reichte den Umschlag mit Sirius‘ Namen weiter. „Was tippst du?“
„Zwölf von zwölf“, sagte Sirius. „Du?“
„Zwölf von zwölf“, sagte James mit einem selbstbewussten Grinsen.
Sirius gab das zurück. „Verlierer muss seinen Umschlag zum Frühstück essen.“
„Deine Definition von Verlierer passt auf niemanden in diesem Raum.“ James kassierte einen Klaps gegen den Oberarm und stieß mit dem Ellenbogen zwischen Sirius‘ Rippen. Er fühlte, wie sie sich bewegten, als Sirius zusammenzuckte, verfolgte die Bewegung aus den Augenwinkeln. Erst, als er das Reißen von Pergament hörte, sah er weg. Sirius hatte seinen Brief geöffnet, und James tat es ihm hastig gleich.
Er entfaltete die Pergamente, legte die Bücherliste für das nächste Jahr auf seinen Schoß und hatte seine Noten vor sich.
„Okay…“ James scannte die Noten genauestens. Eine Menge ‚O‘s und einige schmachvolle ‚E‘s. In Wahrsagen und Muggelkunde hatte er mit einem ‚Annehmbar‘ nur knapp bestanden. Das wurmte ihn auch dann, als er sich das ‚Ohnegleichen‘ in Verwandlung anschaute. McGonagall würde ihm dadurch noch so einiges durchgehen lassen, da war er sich sicher. Talent war der beste Schutz vor ungerechten Strafen.
James grinste zufrieden. Er hatte genügend ZAGs um eine Taschengelderhöhung einzustreichen. Das bedeutete mehr Stinkbomben und ein weiterer Versuch ein Fangendes Frisbee an Filch vorbeizukriegen.
„Zwölf von zwölf“, sagte er gelangweilt. „Die wichtigen mit ‚O‘, die Austauschbaren mit ‚E‘ und du-weißt-schon-welche mit ‚A‘. Bei dem Klacks von Prüfungen sollte man nichts anderes erwarten, hm?“ James lehnte sich über Sirius‘ Schulter. „Du?“
„Was denkst du?“ Sirius hielt das Pergament so, dass James einen guten Blick darauf werfen konnte. Ihre Noten glichen sich sehr, bis auf ein ‚Ohnegleichen‘ in Astronomie, das er gratis mit seinem Namen geliefert bekommen hatte. Die Blacks standen darauf neunzig Prozent ihres Stammbaums nach den Gestirnen zu benennen.
Und die ‚Ohnegleichen‘ in Verteidigung, Zauberkunst, Kräuterkunde, Zaubertränke und Verwandlungen brachten sie einen Schritt näher dahin gemeinsam das Aurorenbüro aufzumischen und Askaban mit Voldemort-Verschnitten zu füllen. James klopfte Sirius voller Stolz auf den Rücken. Einen Moment lang hatte er vergessen, wie viel nackte Haut zwischen ihnen lag. Und jetzt viel es ihm doppelt so intensiv auf.
„Ähm…“ James zog sein Pergament weg, als Sirius sich darüber lehnte um auch einen genauen Blick auf seine Noten zu werfen. Aber je weiter er es wegzog, desto näher kam Sirius. „Äh, und welche wirst du los? Ich schmeiß Wahrsagen und Muggelkunde – braucht beides kein Mensch.“
„Das sagst du bloß, weil du fast durchgefallen wärst“, sagte Sirius grinsend.
James boxte ihn dafür, grinste aber zurück. „Das sagt derjenige, der gedacht hat die Rune für sieben wäre ein Blitz. Pff, Loser.“
„Oi.“ Sirius schlug sich eine Hand aufs Herz, als hätte James ihm ein Messer hineingerammt. „Nächstes Jahr überleg ich mir, ob ich eine ganze Nacht lang mit dir in die Sterne starre, bis du dir ein paar Namen merken kannst.“
James erinnerte sich an diese Nächte. Alle vier hatten sie am Rand des Verbotenen Waldes gelegen und in den Himmel gestarrt. Sirius hatte ihm die Konstellationen mit den Fingern gemalt, während Peter daneben versucht hatte zu behalten, ob Pluto ein Planet war oder nicht. Und im Morgengrauen der Vollmondnächte hatten sie aus den Fenstern der Heulenden Hütte zum Himmel geblickt und die letzten Sternenschimmer aufgefangen. Die Ellenbogen auf den Fensterbänken so dicht nebeneinander, dass ihre Arme beinahe miteinander verschränkt gewesen waren. Kein Wort hatten sie gesprochen. James hatte nur zugesehen, wie Sirius‘ Finger die Positionen von Planeten in die Staubschicht der Fensterscheibe malte. Die einzigen Geräusche waren das menschliche Schnarchen einer Ratte und das schwere Atmen von Remus im Schlaf gewesen.
James faltete seinen Brief wieder. „Und ich überleg mir, ob ich für dich in Geschichte wachbleibe und mitschreibe.“
„Das waren Remus‘ Notizen, die wir abgeschrieben haben“, sagte Sirius.
„Gut, dann sind wir beide Loser.“
„Loser-Five!“ Sirius hob die Hand und James schlug mit einem Klatschen ein, das von den Kachelwänden des Badezimmers schallte. Er griff Sirius‘ Hand, ganz unbewusst, und hielt sie einen Moment lang fest. Sie war rau, ausgetrocknet von der Nässe. Er mochte, wie sie sich anfühlte.
Von einer Sekunde auf die andere ließ James los. Er wusste nicht mehr wirklich, was er mit seiner Hand anfangen sollte, und fuhr sich durch die Haare.
„Also“, begann James etwas leiser.
„Ich wähl nichts ab“, murmelte Sirius. „Zwölf ZAGs waren die Bedingung dafür, dass ich Muggelkunde belegen darf.“
„Du hast Muggelkunde belegt, um deine Eltern zu ärgern.“
„Und zwölf ZAGs waren ein gutes Argument dafür“, sagte Sirius schmunzelnd. „Meine Mutter hat sich nicht mehr eingekriegt, aber mein Vater hat’s geschluckt. Muss ich jetzt durchziehen.“
„Warum? Deine Eltern interessiert doch nicht mehr, was du treibst“, sagte James.
Sirius runzelte die Stirn, sah einen Moment verwirrt aus. Als hätte er vergessen, was er darüber gesagt hatte, nie wieder nach Hause zu gehen. Vielleicht hatte er das. Vielleicht hatte er seine Meinung geändert. Nach gestern Nachmittag… Am Abend hatte er zurück nach Hause gewollt. Seine einzige Fluchtmöglichkeit.
„Jaah…“ Sirius zuckte die Schultern. „Aber hey, gute Noten in so vielen Fächern wie möglich, und kein neunmalkluger Vertrauensschüler kann mich einen Taugenichts nennen, der nur Unfug im Kopf hat.“
„Jeder, der das denkt, ist ein Idiot. Wir haben grandiosen Unfug im Kopf“, sagte James und in einem Anflug von Gedankenlosigkeit, angestachelt von Sirius‘ Lächeln, strich er ihm die nassen Haarsträhnen aus der Stirn.
„Ja, du bist ziemlich brillant“, sagte Sirius.
James lächelte. „Sind wir, ja.“ Er zog eine nasse Haarsträhne zwischen seinen Fingern durch und wrang ein paar Tropfen Wasser heraus, die auf seinem Unterarm landeten. „Und du tropfst.“
Er fragte sich, wie Sirius wohl reagieren würde, wenn er die kleine Lücke zwischen ihnen schließen würde. Vielleicht würde diesmal Sirius das Weite suchen.
Er überlegte einen Moment zu lange.
„Jungs?!“, rief die Stimme seiner Mutter aus dem Erdgeschoss.
James zog seine Hand zurück, rutschte im gleichen Moment von Sirius weg. Er wich seinem bohrenden Blick aus.
„Am besten besorgen wir eure Schulbücher gleich, bevor die Masse die Winkelgasse überfüllt. Was haltet ihr davon?“
„Okay! Wir… wir kommen gleich runter“, rief James zurück. Er seufzte, wusste aber nicht, ob aus Erleichterung oder Reue. „Kommst du, Tatze?“
„Darf ich mich erst anziehen?“
James lugte auf Sirius‘ Handtuch, das viel zu locker saß.
Sirius schaute ihn mit einem provozierenden Feuer in den Augen an. „Hast du vor, mir dabei zu helfen, oder…?“
James schluckte. Er sprang auf und presste ein heiseres Lachen heraus. „Witzig.“ Rückwärts bewegte er sich zur Tür. „Sehr witzig.“ Er winkte mit seinem Umschlag, den er, wie er erst jetzt bemerkt hatte, in der Faust zerknüllt hatte. „Hey, keiner von uns muss den essen. Witzig, nicht?“
Sirius stand auf, locker bis in die breiten Schultern, und zog eine Augenbraue hoch. Bevor er etwas sagen konnte, schlug James die Tür zu und sich jeden dummen Gedanken aus dem Kopf. Keiner von denen war auch nur in die Nähe von einem ‚Annehmbar‘ gekommen.
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