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Kindertage - Zaubern ohne Stab

von käfer

Als im Herbst das Wetter schlechter wurde, streunte Severus nicht mehr so viel herum. Es lohnte sich nicht, der Spielplatz am Stadtrand war jetzt meistens leer.
In einem Waldstück am anderen Ende von Spinners End baute er sich aus Zweigen und Ästen eine Hütte, in der er an einem Feuer hockte und las. Zwischen den gedruckten Büchern mit Seiten aus Papier hatte er eines gefunden, das sich anders anfühlte. Auf dem abgegriffenen Ledereinband stand in längst nicht mehr glänzender Goldprägung „Sprüchesammlung“; die Seiten waren bedeckt mit der runden, gleichmäßigen Schönschreibschrift der Mutter. Severus bekam heiße Ohren, als er las, was man anderen Leuten alles anhexen konnte: Tierschwänze und –ohren, Nagezähne, Hängebacken, Eiterpusteln, eklige Auswüchse und , und, und. Noch interessanter fand Severus allerdings die Sprüche, mit denen man sich gegen solche Zauber schützen konnte. Er beschloss, all dies auswendig zu lernen, damit er es schon konnte, wenn er nach Hogwarts kam. Vermutlich waren diese Sprüche kein Unterrichtsstoff.
Als Zauberstabersatz benutzte Severus ein gerades Stück von einem Holunderzweig. Damit übte er die Bewegungen, die schnell und präzise ausgeführt werden mussten. Der Holunderstab wurde sein ständiger Begleiter, so wie ein großer Zauberer seinen echten Zauberstab immer bei sich haben sollte.

Als sich Severus eines Tages an seine Hütte anschlich wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, gewahrte er, dass jemand darin war: Rauch stieg auf und er hörte Stimmen: „…Vater hat Arbeit in Manchester gefunden. Nächste Woche fährt er hin und wenn er dann Geld verdient und eine Wohnung gefunden hat, holt er Mom und die Schwestern nach.“ Severus erkannte die Stimme, es war Richard Beringar, der Bäckerlehrling. „Und wenn ich ausgelernt habe, gehe ich erstmal auf Wanderschaft.“
„Ich auch. Meine Lehre kriege ich gerade noch fertig, aber der Alte hat mit schon gesagt, dass er mich nicht als Gesellen behält. Zu wenig Aufträge. Wer kann es sich in dieser lausigen Zeit schon noch leisten, Möbel anfertigen zu lassen.“
Diese Stimme erkannte Severus nicht, wohl aber die desjenigen, der nun seufzend antwortete: „Ihr habt´s gut. Ihr lernt wenigstens richtige Berufe. Ich werd´ wohl mein Leben lang Gehilfe im Kramladen bleiben müssen.“
„Du hast es doch darauf angelegt, von der Schule zu fliegen“, sagte Beringar.
„Ich konnte doch nicht wissen, dass das mit meiner Mutter und diesem reichen Schnösel SO ausgeht.“
Altklug erwiderte der Unbekannte: „Diese Typen versprechen das Blaue vom Himmel, solange du ihnen nützlich bist, dann lassen sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Man darf sich nicht auf andere verlassen, wenn man vorwärtskommen will.“
„Zu spät. Wo ich mich schon überall beworben habe – ohne Schulabschluss nimmt einen keiner.“
„Hast du schon mal dran gedacht, auf die Abendschule zu gehen?“
„Hab ich, aber das ist zu teuer. Selbst wenn ich aufhöre zu rauchen und nur noch Wasser saufe, müsste ich fünf Jahre sparen für ein einziges Semester.“
„Wer sagt das?“
„Mom.“
„Die sollte mal deiner kleinen Schwester weniger Geld für Klamotten geben“, mischte sich Beringar ein.
„Vergiss es. Mom will, dass es ihr Töchterlein besser hat als sie selber und eine gute Partie macht. Und dazu muss man schick aussehen.“
Beringar schnaubte: „Gute Partie – in diesem Kaff!“
Der Unbekannte meinte: „Ich mach mich mal schlau und dann rechnen wir nach. Irgendwas muss doch gehen.“
„Oder -“, Beringar lachte schallend, „oder du machst es wie Snape und heiratest ein dummes, braves Frauchen, das die Kohle verdient. Dann bist du ein freier Mann und kannst dich nach Belieben deinen Geschäftchen widmen.“
Severus schluckte. Seine Mutter war nicht dumm! Aber er wagte nicht, in die Hütte zu gehen, um zu protestieren.
Der Unbekannte in der Hütte wusste auch hierauf eine kluge Antwort: „Ich glaube nicht, dass Snape mit seinen komischen Geschäften was verdient. Der macht doch nur den Deppen für einen, der im Hintergrund bleiben will. Der geht eher in den Knast, als dass er reich wird.“
Die Leute im Dorf redeten schon lange über Severus´ Eltern. Wie würden sie sich erst die Mäuler zerfetzen, wenn der Vater wirklich ins Gefängnis müsste! Severus schauderte bei dem Gedanken. Ein Ast knackte, die Jungen in der Hütte riefen: „Was war das?! Da lauscht einer!“
Severus wollte weglaufen, blieb aber mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und fiel hin. Im nächsten Moment standen die drei großen Kerle über ihm.
Zitternd rappelte er sich auf und tastete im Innenfutter der Jacke nach seinem „Zauberstab“. In „Grundlagen der Magie“ hatte er gelesen, dass ein Zauberer aufpassen musste, dass sein wichtigstes Werkzeug immer heil und gepflegt war. Auch wenn er nur ein einfaches Stück Holz hatte ohne magischen Kern, fühlte sich Severus als vollwertiger Zauberer, seit er es wie einen echten Zauberstab immer bei sich trug. Der Gedanke ´Ich bin ein Zauberer, ich habe etwas, das ihr nicht habt´ gab ihm Schutz und Selbstvertrauen.
„Snape, wieso belauschst du uns?“, fragte Beringar drohend. Bob, der Krämergehilfe, holte aus, aber der dritte Junge, ein großer Kerl mit breiten Schultern und Löwenmähne, hielt den Arm fest. „Hören wir doch erst mal, was der Zwerg uns zu erzählen hat.“
Solchermaßen ermutigt, brachte Severus trotzig hervor: „Das ist meine Hütte, die hab´ ich gebaut, ganz alleine.“
Der Große fragte: „Und was machst du hier drin?“
„Lesen.“
Bob lachte schallend.
Richard Beringar fragte: „Kannst du das nicht zu Hause machen?“
Severus schüttelte den Kopf.
Der Große fragte im Ton einer Feststellung: „Du bist der Sohn von Tobias Snape, hab ich Recht?“
Severus nickte beklommen.
„Der kriegt Dresche von seinem Alten, wenn er sich mit so was Unnützem befasst wie Büchern. Das stimmt doch, oder?“
Die Spuren, die der letzte Wutanfall des Vaters auf Severus´ Rücken hinterlassen hatte, weil er dumm genug gewesen war, sich mit „Robinson Crusoe“ erwischen zu lassen, waren gerade erst verblasst. Severus nickte und fragte sich, woher der Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, davon wusste.
„Schließen wir einen Pakt“, fuhr der Fremde fort. „Wir nutzen deine Hütte mit und dafür beschützen wir dich vor den Jungs im Dorf.“
Ohne zu zögern streckten auch Bob und Richard die Hände vor. Severus blieb gar nichts anderes übrig als einzuschlagen. Vermutlich büßte er jetzt sein Versteck ein und wurde trotzdem weiter drangsaliert. Denn wie hatte es der Große schon zu Anfang gesagt: man musste sich selber kümmern, wenn man vorwärts kommen wollte. Doch mit den drei großen Kerlen wollte sich Severus lieber nicht anlegen. Ja, wenn er ein vollwertiger Zauberer wäre…
In dem Buch, das er als erstes aus der Truhe geholt hatte, stand etwas über ein unbrechbares Versprechen. Severus hatte zwar nicht ganz kapiert, worum es ging, aber er hatte sich den Spruch gemerkt und sagte ihn in Gedanken auf, während er den anderen die Hand gab.

Zu seiner Verblüffung fand Severus die Hütte in den folgenden Tagen frei, nur am Sonntagnachmittag hockten die Großen darin. Das machte nichts, das Wetter war gut und Severus wandte sich in Richtung Stadtrand und suchte das Mädchen Lily Evans. Er fand sie auf der Schaukel, ihr rotes Haar flog wie Flammen um ihren Kopf. Doch kaum hatte Severus es sich in einem Versteck bequem gemacht, rief die größere Schwester: „Lily, komm, wir müssen heim!“
„Gleich!“, rief Lily zurück und schaukelte noch wilder.
„Lill-lieh!“, brüllte die Ältere und stampfte mit dem Fuß. „Komm endlich!“
Genau auf dem höchsten Punkt sprang Lily von der Schaukel, breitete die Arme aus, flog mit einem Jauchzen in hohem Bogen durch die Luft und landete lachend neben ihrer wütend aussehenden Schwester.
Severus erstarrte. War sie etwa…? Äußerte sich so die Magie? Das musste er unbedingt die Mutter fragen. Irgendwann musste sie doch mal Zeit für ihn und seine Fragen haben; es gab so viel, was er wissen wollte.
Solchermaßen in Gedanken versunken lief Severus durch Spinners End. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er verfolgt wurde. Die Jungen im Dorf machten das öfters. Sie liefen schweigend hinter ihm her, äfften ihn nach und zeigten auf seine viel zu kurzen Hosen. Severus gab immer vor, nichts zu bemerkten, aber er hatte stets mit den Tränen zu kämpfen. Es tat furchtbar weh, dass sich die anderen dauernd über ihn lustig machten.
Der Metzgerssohn war der Anführer der Bande und er war der erste, der Severus anfasste. Erst war es nur ein kurzes Zupfen an der Jacke, dann an den Haaren. Severus ging schneller. Bis nach Hause war es noch ziemlich weit, heute würden sie wohl das ganze Programm durchziehen und sich zuletzt um das Haus herum postieren, damit sie noch mal richtig lachen konnten, wenn Severus in seiner verschmutzten Kleidung dem Vater in die Arme lief und Prügel bezog. Würde die Mutter ihn für die dreckigen Klamotten bestrafen, könnte Severus das verstehen, schließlich war sie es, die waschen musste und nicht der Vater. Aber die Mutter schimpfte nicht einmal, sie seufzte nur, während der Vater tobte und zuschlug.
Severus biss die Zähne zusammen und bezwang seinen Wunsch, fortzulaufen. Wenn er jetzt rannte, würde er nicht weit kommen, Nick Summer lief neben dem Metzgerssohn. Summer spielte in der Stadt bei einem großen Verein Fußball und konnte noch schneller und ausdauernder rennen als Severus.
Es wäre schön, wenn jetzt die drei großen Beschützer da wären und ihr Versprechen einlösten, aber woher sollten sie wissen, dass Severus in Bedrängnis war, sie saßen ja in der Hütte.
Es dauerte nicht lange, und Severus stolperte über ein gestelltes Bein und hörte Hohngelächter. Dann ging die Schubserei los und er rannte nun doch davon. Im Laufen tastete Severus nach dem Holunderstecken und sagte in Gedanken den Spruch für Klumpfüße auf. Dass Nick Summer gerade in dem Moment strauchelte, war mit Sicherheit Zufall, einen Klumpfuß bekam er jedenfalls nicht. Die kurze Verzögerung reichte für Severus jedoch aus, im einen Haken zu schlagen und sich zu verstecken. Die Jungen verlegten sich auf Schmähreden, schimpften Severus einen stinkenden Feigling, Ölkanne, Sohn einer Hündin und was noch alles. Severus in seinem Versteck zog seinen „Zauberstab“, zielte auf den Metzgerssohn und flüsterte den Spruch, der Pickel wachsen ließ. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit, das warme Holz zu spüren und Sprüche zu murmeln, mit denen sonst niemand etwas anzufangen wusste.

Am Montag hatte der Metzgerssohn einen fetten Pickel am Kinn.


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