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Kindertage - Verwandtenbesuch

von käfer

Am Sonntag sauste die Mutter nicht gerade gut gelaunt im Haus herum, räumte auf und kochte. Severus verzog sich lieber in sein Zimmer, auch wenn es dort kalt war. Es reichte, wenn unten der Vater im Wege stand.
„Geschafft! Alles fertig“, seufzte die Mutter genau in dem Moment, in dem der Vater rief: „Sie kommen!“
„Wie immer – eine Stunde zu früh“, murmelte die Mutter, als sie in der Diele Aufstellung nahmen, um die Gäste zu begrüßen.
Zuerst kam die Großmutter hereingerauscht. „War das eine Fahrt!“, stöhnte sie. „Die Straßen hier in der Gegend sind aber auch erbärmlich!“ Dann wandte sie sich an den Vater: „Tobias, mein Junge! Schmal siehst du aus!“, und schickte einen bösen Blick zur Mutter. Die gleiche Prozedur wie jedes Mal.
Hinter der Großmutter kam der Großvater gestapft. Er röhrte: „Wann gibt´s Essen?! Ich hab´ Hunger wie ein Wolf!“
„Es gab wohl nichts zum Frühstück?“, fragte die Mutter im gleichen Ton wie die dicke Mrs. Summer neulich gefragt hatte, ob Severus eingebildet sei.
„Wenig“, knurrte der Großvater und die Mutter brummte etwas.
Als nächstes drängte sich der Onkel in den kleinen Flur und klopfte dem Vater auf die Schultern.
Die Tante schob ihren Sohn vor sich her, der älter und größer und kräftiger war als Severus. Ricky versuchte, in die Küche zu gelangen, aber die Mutter stand vor der Tür. Die Tante trug eine glänzende Bluse und das graue Kostüm, das sie immer trug, wenn sie zu Besuch kam, und musterte die Mutter mit gerümpfter Nase von oben bis unten. Der Onkel hatte auch seinen Besuchsanzug an, Severus, der seine Augen genau auf der Höhe vom Hintern des Onkels hatte, sah, dass die Hose ein wenig speckig und dünn war.
In dem engen Flur wurde allmählich die Luft knapp. Severus konnte in dem Gestank-Gemisch kaum atmen. Jeder roch intensiv und jeder roch anders: Die Mutter nach Waschpulver und Bratendunst. Der Vater nach Fabrik. Die Großmutter nach Einreibung und Schweiß, der Großvater nach Zigarren, Bier und scharfem Essen. Die Tante stank nach Parfüm und Mottenkugeln, der Onkel nur nach Mottenkugeln. Und der Cousin hatte sich anscheinend ein paar Tage nicht gewaschen. Severus verdrehte die Augen und bekam einen unsanften Stoß.

Die Mutter gruppierte alle im Wohnzimmer um den großen Tisch, der für so viele Leute viel zu klein war. Severus musste zwischen Mutter und Cousin an der Ecke hocken.
Die Mutter eilte in die Küche, man hörte sie mit Tellern und Töpfen hantieren. Die Großmutter starrte finster auf den Tisch. Die Tante sah sich, immer noch die Nase rümpfend, im Wohnzimmer um.
Schließlich trug die Mutter die Teller herein. Es gab für die Erwachsenen zwei dünne Bratenscheiben, Gemüse und Kartoffeln. Ricky und Severus bekamen kleinere Portionen mit nur einer Fleischscheibe. Dann brachte die Mutter noch Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse, ein Kännchen mit Soße und zuletzt stellte sie mit lautem Knall Pfeffer und Salz vor die Großmutter hin.
Severus aß langsam, mit Bedacht und genoss jeden einzelnen Happen. So köstlichen Braten bekam er nur ganz selten. Er erinnerte sich an das, was die Mutter über die Großmutter gesagt hatte, und schaute hoch.
Die Großmutter sah aus, als müsste sie etwas absolut ekliges essen, dabei war ihr Teller schon halb leer. Großvater und Onkel mampften. Wenn Severus so schmatzte, trug ihm das stets Ermahnungen ein. Die Tante hatte ihre feine Bluse bekleckert.
Als Severus seinen Blick wieder auf seinen eigenen Teller richtete, bekam er gerade noch mit, dass Ricky herüberlangte und seine Fleischscheibe angelte. „Eh! Ricky klaut mein Fleisch!“, beschwerte sich Severus.
„Was für unanständige Worte!“, mokierte sich die Tante.
„Ricky! Leg sofort das Fleisch zurück!“, befahl die Mutter in dem Ton, in dem sie manchmal mit Severus schimpfte, aber Ricky reagierte nicht. Da langte die Mutter über den Tisch und gab Severus seine Bratenscheibe zurück.
„Also bitte!“, protestierte die Tante.
„Wenn du nicht für Ordnung sorgst, muss ich es eben tun.“
„Die Fleischscheiben sind wirklich extrem dünn“, mischte sich die Großmutter ein.
„Das ist bei feinen Leuten so üblich“, erwiderte die Mutter in einem Ton, den Severus nicht zu deuten wusste. „Und ihr wollt doch alle vornehm sein, oder?“
Darauf sagte keiner mehr etwas.

Nach dem Essen sollten Ricky und Severus nach oben gehen und spielen. „Das ist mein Zimmer und ich bestimme“, sagte Severus genau so, wie es Ricky letztens gesagt hatte. „Wir spielen Mensch-ärgere-dich-nicht.“
„Bäh! Das ist langweilig. Hast du nichts Besseres?“
„Nur Babyzeugs, mit dem ich schon längst nicht mehr spiele, und Bausteine.“
„Zeig mal her!“
Severus holte die beiden Schuhkartons mit den uralten Bauklötzen hervor.
„Wir machen, wer den höchsten Turm baut! Das sind meine und das sind deine“, bestimmte Ricky, schob Severus den kleineren der beiden Kartons zu und begann hastig zu bauen. Severus stapelte seine Klötzchen lustlos aufeinander, er hätte lieber Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt.
Da fiel Rickys Turm um. Er brüllte: „Das ist gemein!“
„Wieso? Ich habe gewonnen.“
Ricky kam herüber, warf Severus´ Turm um und trat ihm gegen das Bein. „Und das ist dafür, dass du mir dein Fleisch nicht geben wolltest.“
Severus trat zurück. „Du bist ein aufgeblasenes Scheusal!“ Er hatte gehört, dass die Mutter über die Tante gesagt hatte, sie wäre ein aufgeblasenes Scheusal. Was für die Tante zutraf, musste auch für den Cousin, ihren Sohn, stimmen.
Ricky holte mit der Faust aus und Severus dachte, dass es besser wäre, sich in Sicherheit zu bringen. Im nächsten Moment saß er oben auf dem Schrank, ohne dass er wusste, wie er hinaufgekommen war. Soviel war aber sicher: Ricky konnte ihm hierhin nicht folgen.
Der Cousin hämmerte wütend gegen die Schranktüren. Dann begann er, die Schubkästen und Kartons mit Severus´ Spielzeug herauszuziehen und alles im Zimmer herumzuwerfen. Severus war froh, dass er sein Lieblingsspielzeug – die Drachen, die von der Mutter gebastelte Ritterburg, die Buntstifte und seine wenigen Bücher – in Sicherheit gebracht hatte. Vieles von dem, was Ricky durch die Gegend schmetterte, war schon kaputt; Severus wünschte sich dennoch, dass die Mutter kam und ihn erlöste. Doch nichts passierte, er konnte unten die Erwachsenen reden hören. Die meiste Zeit sprach die Großmutter mit ihrer überlauten, durchdringenden Stimme.
Schließlich begann Ricky, auf dem Bett herumzuspringen. Severus bekam es mit der Angst zu tun, sein Bett war ziemlich wackelig. „Bitte, hör auf!“, flehte er Ricky an. „Wenn das Bett zusammenkracht, brichst du dir den Hals!“
Aber Ricky lachte nur und sprang weiter.
Endlich rief die Mutter von unten: „Severus! Ricky! Runterkommen zum Teetrinken!“
Wie ein geölter Blitz schoss Ricky davon. Severus glitt vom Schrank und eilte hinterher. Ricky warf sich der Tante an den Hals und verkündete laut: „Ich habe gewonnen!“
„Gar nicht wahr“, murmelte Severus.

Nach dem Teetrinken hatte es die Großmutter eilig, wegzukommen. Severus stand mit Vater und Mutter vor der Haustür und winkte. Als das Auto um die Ecke bog, atmete die Mutter auf. Sie schob Severus in die Küche und steckte ihm das übriggebliebene Kuchenstückchen in den Mund. „Was habt ihr denn so gespielt?“
„Gar nix“, antwortete Severus und erzählte, was im Kinderzimmer passiert war.
„Die sind alle aufgeblasene Scheusale“, murmelte die Mutter, als Severus an diese Stelle kam.
Severus erzählte zu Ende. Der Blick der Mutter wurde immer finsterer. Trotzdem wagte er es, die Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gegangen waren, als er oben auf dem Schrank gehockt hatte: „Die Großmutter ist doch die Mum von Dad, nicht wahr? Und der Großvater der Dad von Dad und der Onkel sein Bruder, oder?“
Die Mutter nickte.
„Hast du auch eine Mum und einen Dad und einen Bruder? Und warum kommen die uns nie besuchen?“
Die Mutter wurde weiß, presste die Lippen aufeinander und schluckte. Severus sah, dass sie beinahe anfing zu weinen. Sie sagte leise: „Ich habe Mutter und Vater und sie leben auch noch. Warum sie uns nicht besuchen, ist eine lange und komplizierte Geschichte. Ich glaube, das begreifst du erst, wenn du schon ein Stück in die Schule gegangen bist und richtig gut lesen und schreiben gelernt hast.“
„Aber dann erzählst du´s mir, versprochen?“
„Versprochen.“ Die Mutter machte den Rittergruß und Severus wusste, dass sie ihr Versprechen halten würde.



PS: In dieses Kapitel habe ich einige eigene Erfahrungen einfließen lassen.... Die Pfeffer-und-Salz-Methode kann ich nur empfehlen!


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