von käfer
Severus hatte Geburtstag.
Es war ein Tag wie jeder andere. Er wachte schon sehr zeitig auf und wartete fest in seine Decke gewickelt, bis der Vater zur Arbeit gegangen war. Aus irgendeinem Grund mochte es der Vater nicht, wenn er seinen Sohn frühmorgens schon sah.
Severus frühstückte wie immer mit der Mutter. Sie sagte keinen Ton. Severus wusste, dass er am 9. Januar Geburtstag hatte. Aber war heute der 9. Januar? Das wusste er nicht. Die Mutter hatte am Abend zum Vater gesagt: ´Vielleicht kommst du morgen sofort nach der Arbeit nach Hause. Severus hat Geburtstag.´ Oder hatte sich Severus geirrt?
„Mummy, welches Datum haben wir heute?“
„Den 9. Januar“, erwiderte die Mutter und lächelte auf eine besondere Art. Wenn die Mutter so lächelte, hatte sie eine Überraschung für Severus.
Doch nach dem Frühstück sollte er sich erst einmal ganz warm anziehen. Das bedeutete: über das graublaue Flanellhemd, das ihm der Weihnachtsmann gebracht hatte (und von dem Severus wusste, dass es aus zwei alten Hemden vom Vater genäht war), und den kratzigen hellblauen Pullover, den Severus schon seit Ewigkeiten hatte, kam die bunte Jacke, die er nur deshalb nicht hasste, weil sie warm und weich und von der Mutter gestrickt war, und darüber die ausgeblichene Kutte, die langsam zu klein wurde. Und unter die Hose mussten zwei lange kratzige Unterhosen. Mütze, Schal und Handschuhe bestanden aus verfilzter hellgrauer Wolle und waren auch schon uralt, sie stammten von Severus´ Cousin.
Severus packte seine Schaufel und machte den Weg frei zum Gartentor und zum Schuppen. Weil es so schneite, musste er gleich nochmal von vorn anfangen. Da steckte die dicke Mrs. Summer von nebenan ihren Kopf aus dem Fenster und rief: „He, Kleiner! Mach doch gleich bei mir weiter! Du kriegst auch was dafür.“
Severus überlegte. Vor ein paar Tagen hatte er schon einmal für die fette Nachbarin Schnee geschaufelt und als Dank einen klebrigen Bleistiftstummel bekommen, der so kurz war, dass selbst Severus mit seinen kleinen Händen Mühe hatte, ihn zu halten. Und die Fette hatte noch gemeckert, weil er so enttäuscht geguckt hatte.
„Na, was ist?“, brüllte sie herüber. „Willst du nicht? Bist wohl zu stolz zum helfen? Oder bildest du dir ein, es nicht nötig zu haben?“
Severus setzte sich in Bewegung, obwohl ihm Arme und Rücken schon gewaltig wehtaten. Stolz und eingebildet durften nur die reichen Leute sein, das hatte ihm der Vater eingeschärft.
Gerade als Severus endlich fertig war, kam die Postfrau. „Na, du bist ja fleißig“, sagte sie und drückte ihm ein Päckchen Briefe für Mrs. Summer in die Hand.
„Ich bin fertig“, sagte Severus und hielt der Nachbarin die Briefe hin. Sie reichte ihm einen Apfel. Severus sagte „Danke“ und griff zu. „Ihhh!“, rief er; der Apfel war zur Hälfte matschig und Severus hatte genau dahinein gefasst.
Wütend lief er zu seiner Mutter. „Mummy, guck mal, den Matschapfel hat mir die fette Summer dafür gegeben, dass ich ihr den ganzen Weg freigeschaufelt habe.“
Die Mutter runzelte die Brauen, zog die Schuhe an und lief zur Nachbarin. Severus öffnete das vordere Fenster einen Spalt, um zu lauschen.
„Sie sollten sich schämen!“, sagte die Mutter so laut, dass es über die ganze Straße hallte. „Mein Sohn hat Ihnen den ganzen Weg freigeräumt und Sie speisen ihn mit einem matschigen Apfel ab! Das war das letzte Mal, dass Severus etwas für Sie gemacht hat!“
Was die Nachbarin antwortete, war nicht zu hören, aber der laute Knall, mit dem sie die Tür zuschmiss. Severus sah, dass die alte Miss Milhouse von gegenüber hinter der Gardine stand und grinste. Er streckte ihr die Zunge raus.
„Ich verbiete dir, jemals wieder etwas zu tun, was Mrs. Summer von dir verlangt. Soll sie doch ihre Dienstboten dafür bezahlen“, sagte die Mutter ernst und ein bisschen böse, als sie zurückkam.
„Aber was soll ich machen, wenn die Frau es wieder verlangt und sagt, ich bin stolz und eingebildet?“
„Gerade wir armen Leute dürfen unseren Stolz nicht verlieren“, antwortete die Mutter.
„Aber Daddy sagt immer, Stolz ist nur was für reiche Leute.“
„Da hat Daddy unrecht. Wenn wir unser letztes bisschen Stolz verlieren, kriechen wir vor den Reichen im Dreck, werden getreten und bedanken uns noch artig dafür.“
„Oder“, entgegnete Severus eifrig, „oder wir machen für die dicke Mrs. Summer, die zu geizig ist, ihre Dienstboten zu bezahlen, den Schnee weg und kriegen nur einen Matschapfel dafür.“
„Genau. Du bist ein helles Köpfchen!“, entgegnete die Mummy lachend.
Nach dem Essen war Severus so müde, dass er sich freiwillig aufs Sofa legte. Er schlief so tief, dass er nicht mitbekam, was die Mutter im Wohnzimmer machte. Erst als etwas klirrte und die Mutter „Ach du Schreck! Reparo!“ rief, wachte er wieder auf.
Der Tisch war fein gedeckt, wie sonst nur, wenn die Großmutter kam. Aber die wurde heute nicht erwartet, sonst hätte die Mummy etwas gesagt.
Es klingelte, Severus sollte aufmachen. Draußen standen Mary Louise Winterbottom, Patrick Highfield und die Großmutter von Mary Louise. Sie sangen „Happy Birthday to you“ und es klang so komisch, dass alle lachen mussten.
Die Mutter führte die Gäste in die gute Stube. Die Uhrzeiger erreichten die Stellung, zu der der Vater immer von der Arbeit kam, und liefen weiter. Die Mutter presste die Lippen zusammen und forderte alle auf, sich zu setzen. Endlich gratulierte sie Severus zum Geburtstag und gab ihm zwei Päckchen. Sie waren in Packpapier eingewickelt, auf das eine hatte die Mutter einen Schmetterling gemalt, auf das andere eine Katze.
„Mummy, darf ich das an die Wand hängen, dort wo die Flecken sind?“
„Ja natürlich, aber du musst aufpassen beim Aufmachen.“
Unter dem Schmetterling kamen eine Schachtel Buntstifte und ein Ausmalbuch zum Vorschein, das andere Päckchen enthielt ein Bilderbuch mit richtigen Seiten aus Papier. Severus schnupperte daran, es duftete verlockend. Er blätterte ein wenig, auf den Bildern waren nur Tiere zu sehen: Hühner, Enten, Gänse, ein Hund, gelbe und ein graues Küken. Die anderen Tiere jagten das graue Küken, es saß traurig in der Ecke. Auf der letzten Seite waren zwei Schwäne. „Mummy, was ist das für eine Geschichte?“
„Das hässliche junge Entlein“, erwiderte die Mutter.
„Oh, die kenne ich“, rief die Oma von Mary Louise, „Wenn ihr wollt, erzähle ich sie euch nachher.“
„Au ja!“, jauchzte Severus. Die Oma von Mary Louise konnte wunderschöne Geschichten erzählen.
„Wir haben auch was für dich“, riefen Patrick und Mary Louise gleichzeitig. Patrick überreichte Severus ein Tütchen Kekse. „Die hab ich mit meiner Mama gebacken.“
Mary Louise gab Severus ein großes, weiches, in Glücksklee-Papier eingewickeltes Paket. Vorsichtig zog Severus die Schleife ab und bald hielt er staunend Mütze, Schal und ein Paar Fausthandschuhe aus kuschlig weicher dunkelblauer Wolle in der Hand.
„Wir haben alle mitgemacht“, erklärte Mary Louise. „Opa Miller hat das Schaf geschoren, Oma Miller die Wolle gesponnen und gefärbt, meine Mummy hat die Mütze gemacht, Oma Winny die Handschuhe und ich habe den Schal gestrickt.“
Severus fiel der Reihe nach allen um den Hals, dann holte die Mutter aus der Küche Kakao und einen Kuchen mit fünf Kerzen. Severus gab sich ganz viel Mühe und schaffte es, alle Kerzen auf einmal auszupusten.
Nach dem Kakaotrinken und Geschichteerzählen gingen die beiden Frauen in die Küche, die Kinder blieben im Wohnzimmer.
Mitten im schönsten Spielen flog die Tür auf, der Vater stürmte ins Zimmer und rief: „Was´n hier los? Könnt ihr nich woanders spielen?“
Die Mutter eilte herbei, die Hände an der Schürze abwischend. „Lass sie doch, Tobias! Severus hat doch Geburtstag.“
„Na und? In meinem Wohnzimmer wird nicht gespielt.“
„Tobias! – Möchtest du noch ein Stück GEBURTSTAGSkuchen?“
„Kuchen mitten in der Woche? Als ob wir uns das leisten könnten! Aber wenn du schon solche Verschwendung treibst, will ich wenigstens etwas davon haben.“
Fünf Minuten später waren die Gäste gegangen und der Vater saß im Wohnzimmer und aß Kuchen. Dabei fiel sein Blick auf das Geschenkpapier. „Was soll das denn? Ist jetzt der Wohlstand ausgebrochen oder was? Und dann beklagst du dich wieder, dass das Wirtschaftsgeld nicht reicht!“
„So teuer war´s gar nicht. Ich habe Packpapier genommen und etwas draufgemalt.“
„Ach, dafür hast du Zeit! Aber mein Hemd stopfen konntest du gestern nicht mehr!“
„Wenn du draufhören würdest, wenn ich was sage, wüsstest du, dass ich das Hemd erst wasche, ehe ich es ausbessere.“
„Und – hast du´s gewaschen?“
„Nein. Waschtag ist erst morgen.“
Severus hatte eilends seine Schätze in Sicherheit gebracht. Wer weiß, was passierte, wenn der Vater das Buch sah. Er meinte nämlich, Bücher wären unnütze Ablenkung.
„Du faules Stück!“, brüllte der Vater. „Für solchen Blödsinn hast du Zeit, aber deinem Mann das Hemd zu waschen, das fällt dir nicht ein!“ Ehe Severus das Packpapier schnappen konnte, hatte der Vater es zusammengeknüllt und in den Kamin geworfen.
„Die Bilder wollte ich mir an die Wand machen!“, rief Severus halb erstickt.
„Solchen Unsinn fangen wir gar nicht erst an! – Und du, Weib, sieh zu, dass ich mein Hemd wiederkriege!“
„Wenn ich jetzt anfange zu waschen, meckerst du nachher, weil es nach Wäsche stinkt. Und Abendessen fällt auch aus.“
„Untersteh dich!“
Auf Zehenspitzen schlich Severus in sein Zimmer. Er wusste zwar, dass Jungs nicht weinen durften, aber er war so abgrundtief traurig, dass er die Tränen einfach nicht mehr zurückhalten konnte.
Anmerkung: Die Mary Louise Winterbottom in dieser FF ist die gleiche, die Severus am Ende der „Suche nach dem verlorenen Ich“ heiratet.
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