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Fanfiction

Schattenland - Teil V: Versunkene Stadt

von solvej

@steinchen: Mwahaha, du hast mich grade wirklich zum Lachen gebracht. Nein, ich würde sagen, nachdem man in dieser Welt weder essen noch trinken muss, muss man auch nicht aufs Klo... ^^ Man bleibt ja quasi... stecken, in dem Zustand, in dem man angekommen ist.
Tja, Frank und Alice... ich glaube, sie haben die ganze Zeit mehr oder weniger an der Grenze gelebt. Da hat es nur einen Tropfen gebraucht, um das Fass zum überlaufen zu bringen. Ob das jetzt Harrys Schuld ist... oder Malfoys... oder von niemandem. Dinge passieren. Well.
Und das hier ist btw der letzte Teil, und einen Epilog gibts noch... Aber das war's dann auch schon.

So long. Have fun.



__________________________________




Teil V: Versunkene Stadt


Ob der Regen tatsächlich eine Verbesserung darstellte, dafür konnte Harry nicht bürgen. Das Wasser hatte nichts, wo es hinfließen konnte und der Boden war überall zu einem schlammigen Sumpf geworden.

Schwungvoll schlug Harry die Tür hinter sich zu und lehnte sich gegen das Türblatt, das verräterisch knarrte. Die nasse Kleidung klebte an seinem Leib, denn die gut einen Meter lange und ebenso breite Plastikplane, die er gefunden hatte, konnte ihn kaum vor den Regenmassen schützen. Aber vielleicht wenigstens die undichte Stelle ausbessern, durch die es kontinuierlich in seinen Wohnraum tropfte.

Er hatte sich in jenem Haus eingenistet, in dessen Innenhof er einst mit Draco Vier gewinnt gespielt hatte. Es schien ihm wie eine Ewigkeit die sich zwischen ihm und diesem Moment ausgebreitet hatte, der in seiner Erinnerung geradezu idyllisch wirkte. Nachdem Alice verschwunden war – Harry wollte nicht darüber nachdenken, was aus ihr geworden war – war er nicht mehr in das alte Haus zurückgekehrt und war lange im Gewirr der dunklen Gassen umhergegeistert, in der Hoffnung Draco zu finden. Stattdessen aber fand er nur dieses Haus und er beschloss, dort zu bleiben. Es war riesig und stand anscheinend völlig leer. Harry hatte das hinterste Zimmer im obersten Stockwerk gewählt und sich dort seine notdürftige Bleibe eingerichtet. Er war weiter auf Streifzüge gegangen, um Brauchbares zu finden, das ihm half, den Verstand zu bewahren. Leider fand er nicht viel. Das Loch in der Decke war beinahe eine willkommene Abwechslung gewesen, weil es ihm Anlass gegeben hatte, nach draußen zu gehen, etwas Bestimmtes zu suchen, sich zu beschäftigen. Es hatte lange gedauert, bis er die Plane gefunden hatte. Obwohl sie nicht optimal war, so war sie doch besser als der verbeulte Topf, der momentan unterhalb der tropfenden Stelle stand. Jetzt könnte er versuchen, den Topf stattdessen als Feuerstelle zu benutzen. Nicht, dass er etwa fror. Seine sämtlichen Empfindungen waren abgestumpft, so als wären sie nichts weiter als im Körper gespeicherte Erinnerungen an die Gefühle, die da sein sollten. Nichts weiter, als eine leere Hülle. Kälte, Schmerz, Nässe, er spürte es, aber es betraf ihn kaum. Das letzte Mal, dass er etwas wirklich gefühlt hatte, das mussten die Begegnungen mit Draco gewesen sein. Vielleicht war das auch nur etwas, das Harry sich selbst einredete, weil er sonst nichts hatte, an das er wehmütig zurückdenken konnte. Die Realität, aus der er gekommen war, die gefüllt war mit Krieg, Angst, Voldemort und Todesgefahr, schien ihm kaum mehr als eine verblassende Photographie im Album eines früheren Bekannten zu sein. Manchmal fand er mit milder Verwunderung Erinnerungen an Momente des Glücks oder der Zufriedenheit in spinnwebenverhangenen Winkeln seines Gehirns; etwa Zeit, die er mit Ginny, oder mit Ron und Hermine geteilt hatte. Aber immer öfter hielt er sie für bloße Hirngespinste, die es nie wirklich gegeben hatte.

Harry stopfte die Plane in seinen neuen Multi-Funktions-Gürtel, den er selbst gebastelt hatte. Er bestand aus einem Seil, an das eine Plastiktüte geknotet war. Außerdem griff er sich ein paar Nägel und seinen besten Freund, den Stein Nummer zwei. Nummer zwei hatte sich als handlich genug erwiesen, überall hin mitgenommen werden zu können, im Gegensatz zu Nummer eins, der auf Dauer einfach zu schwer war. Und im Notfall reichte Nummer zwei wahrscheinlich auch aus, um jemanden K.O. zu schlagen, obwohl Harry das noch nicht ausprobiert hatte. Jedenfalls machte ihn das als ständigen Wegbegleiter attraktiver als Nummer drei, der jetzt sein Dasein als Türstopper fristete, was ihn in Harrys sehr eingeschränktem Wohnbereich in die Kategorie „vollkommen nutzlos“ verbannte.

So ausgerüstet erklomm Harry die morsche Leiter, die am fernen Ende des Ganges zum Dachboden führte. Oben gab es keine Fenster, das einzige Licht drang von unten durch die Luke und von einem leisen Lichtschimmer, der hinter einer Biegung hervorfiel. Wahrscheinlich ein Leck im Dach. Ihm wurde plötzlich klar, dass es völlig ausreichend wäre, einfach ein Zimmer weiter zu ziehen und er sann kurz darüber nach, einfach wieder umzukehren. Aber er war so weit gekommen. Also stemmte er sich ganz aus der Bodenluke heraus und richtete sich auf. Nur in der Mitte des langgezogenen Raumes konnte er aufrecht stehen, das Dach fiel zu beiden Seiten von ihm ab, bis es den Boden berührte. Die Dielen knarrten bei jedem vorsichtigen Schritt, den er tat. Es roch nach feuchtem Holz und modrigem Papier, und Harry glaubte förmlich zu spüren, wie der Schimmel an seinem Körper hinaufkroch. Dieser Ort war ihm nicht geheuer.

Zögernd ging er auf den Lichtfleck zu, der über den Boden tanzte und die alten Holzbalken zum Leben zu erwecken schien. Und dann mischte sich plötzlich ein neuer, scharfer Geruch in den feuchten Moder – Rauch. Harry blieb wie angewurzelt stehen. Der Lichtschein fiel nicht einfach durch ein Loch im Dach, sondern wurde allem Anschein nach von einem Feuer geworfen. Als Harry angestrengt lauschte nahm er endlich hinter dem steten Prasseln des Regens leises Zischen und Knistern wahr – eben so wie es klang, wenn feuchtes Holz verbrannte.

Harry schlich weiter und hoffte darauf, dass der Klang seiner Schritte von den anderen Geräuschen überdeckt wurde. Je näher er der Biegung kam, desto langsamer wurde er und einen Meter davor blieb er stehen. Vorsichtig ließ er sich auf alle viere nieder und holte Nummer zwei aus seiner Tasche. Er kroch so weit es möglich war in den Schatten der abfallenden Dachkante und tastete sich langsam weiter vor, bis er so weit war, dass er vorsichtig um die Ecke lugen konnte.

Der Mund klappte ihm auf und brauchte einige Momente, bis er sich wieder schließen konnte. Dort stand ein Ofen. Natürlich war es der schlechteste Ofen, den man sich vorstellen konnte, aber auch der erste, den Harry hier sah. Eigentlich bestand er nur aus einer Blechtonne, in die vorne ein Loch geschnitten worden war, um Holz nachzulegen und einem Rohr, das möglicherweise einmal ein Abflussrohr gewesen sein mochte und oben aus dem Gebilde herausragte und durch ein Loch aus dem Dach führte. Hinter dem Ofen kauerte eine zierliche Gestalt, die in eine Decke gehüllt war und sich langsam vor und zurück zu wiegen schien. Es war nicht unbedingt eine furchterregende Erscheinung, also beschloss Harry, das Risiko einzugehen und sich zu zeigen. Den Stein immer noch in der Hand kroch er zur Mitte des Dachbodens, wo er sich wieder aufrichten konnte. Die Gestalt bemerkte ihn nicht, erst als er sich laut räusperte fuhr sie auf und ließ dabei die Decke herabfallen. Gekrümmt stand sie da, die eine Hand um einen scharfkantigen Gegenstand geklammert, die andere presste sie gegen ihren Bauch.

„Alice!“, rief Harry verblüfft.

Sie machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, ließ jedoch ihre Waffe nicht sinken.

„Ich bin’s doch“, sagte er und trat vor, damit das Licht ihn besser erreichte und sie ihn erkannte. Im ersten Moment zuckte sie leicht zurück, dann jedoch entspannte ihre Körperhaltung sich endlich.

Sie seufzte und ließ sich wieder am Boden nieder. „Komm und setz’ dich.“

Zögernd folgte Harry der Aufforderung. Das Abzugssystem des Ofens war nicht perfekt und die Luft war schwer vom Rauch, jedoch tat die plötzliche Wärme unerwartet gut.

„Angenehm, oder?“, sagte sie, als Harry die Hände gegen die knisternden Flammen streckte. „Ich hab’ ewig gebraucht, bis ich etwas zum Brennen gebracht habe. Seitdem lasse ich das Feuer nicht mehr ausgehen.“

Harry schwieg und genoss das Gefühl, wie seine Kleidung langsam trocknete. Währenddessen sah er sich um: in einem dunklen Winkel standen Pappkartons, die aussahen, als wären sie mit äußerst brennbaren Akten gefüllt. Außerdem hatte Alice einen Vorrat an Holz angelegt, der an der Wand trocknete. Das spitze Ding, mit dem sie ihn bedroht hatte, lag griffbereit neben ihr. Offenbar war es ein scharfkantiges Stück Metall, um dessen Ende sie ein Stück Stoff gewickelt hatte, um es besser halten zu können. Alice’ linke Hand war – ob nun bewusst oder unbewusst – immer auf die Stelle gepresst, an der Harry ihre Verletzung vermutete, die aber von ihrer Kleidung verdeckt wurde.

Schließlich fragte er: „Wie kommst du gerade hier her?“

Alice ahmte müde ein Lächeln nach. „Ich hab’ dich draußen gesehen, vor einiger Zeit, und bin dir hier her gefolgt. Irgendwie wollte ich nicht ganz allein sein, nur zu wissen, dass jemand in der Nähe ist, den ich kenne, war schon genug. Deswegen der Dachboden. Das hier“, sie nickte in Richtung des Ofens, „war schon da. Aber alles war nass und sah aus, als wäre es lange nicht benutzt worden. Also bin ich geblieben.“ Sie starrte einen Moment ins Feuer und griff dann nach einem zusammengeknüllten Blatt Papier, das sie in die Flammen warf, um sie dabei zu beobachten, wie sie daran leckten und es schließlich gierig verschlangen.

„Aber das Papier...“, fiel Harry ein und sah sie fragend von der Seite an. Dabei tastete er nach dem vertrauten Blatt in seiner Tasche, das er immer noch bei sich trug.

Alice schüttelte den Kopf. „Nichts als Zahlenkolonnen. Völlig sinnlos, meiner Meinung nach, aber du kannst dich gerne selbst überzeugen.“ Sie deutete auf die gestapelten Pappkartons. „Da sind noch tausende andere...“

„Mh“, machte Harry unbestimmt. Ihm war nicht mehr sonderlich nach Rätsel lösen.

„Du kannst mich jederzeit besuchen kommen“, sagte Alice plötzlich und stellte damit klar, dass das Wohnarrangement weiterhin getrennt bleiben sollte, was Harry nur Recht war. Zu viel menschliche Nähe hätte womöglich bedeutet, dass seine Abgestumpftheit wieder von ihm abfallen könnte. Etwas, das er lieber vermieden hätte.

Er wollte schon aufstehen, als Alice ihn noch einmal am Ärmel zurückhielt. „Hast du... Frank mal gesehen?“

Harry schüttelte stumm den Kopf, denn er wusste nicht, was er dazu hätte sagen sollen.

„Schon gut“, sagte sie und starrte wieder ins Feuer.

***


Unten packte Harry seine wenigen Besitztümer zusammen und zog ein Zimmer weiter. Er verließ das Haus kaum noch. Manchmal ging er zu Alice nach oben und brachte ihr ein paar Bodendielen mit, die er in anderen Räumen herausgerissen hatte, damit sie ihr Feuer erhalten konnte.

Einmal sprach er Alice darauf an, ob denn nun noch jemand in die Ebene ginge, um nach Neuankömmlingen zu suchen.

Sie lachte zynisch auf. „Wenn du nicht gehst, dann wohl niemand.“

Harry war eben noch dabei, darüber nachzudenken, ob er nun ein schlechtes Gewissen haben sollte oder nicht, als sie seine Überlegung auch schon unterbrach: „Vergiss es. Es war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen.“

„Aber Sirius hat mich –“, gerettet, wollte Harry sagen, aber Alice fuhr dazwischen.

„Und was hat es dir gebracht? So viel Spaß und schöne Erlebnisse? Ich glaube nicht“, sagte sie bitter. „Ehrlich, Harry, es hat keinen Zweck mehr. Dort draußen ist nur noch ein Sumpf und bei dem Regen siehst du keine zehn Meter weit. Du hättest keine Chance.“

„Und die Menschen die hier landen haben auch keine Chance“, knurrte Harry.

„Der Krieg ist vorbei, hast du gesagt. Wer soll denn jetzt schon noch groß auftauchen?“ Alice Stimme war schleppend, als würde sie sich nur mit Mühe durch die Unterhaltung kämpfen.

Harry schüttelte sich vor Abscheu. „Wie du redest! Was zur Hölle ist nur mit dir passiert, Alice? Du warst doch mal...“ Ihm gingen die Worte aus und sein letzter Satz verebbte in einem Kopfschütteln.

„Das ist mit mir passiert!“, sagte Alice plötzlich laut und hob ihren ausgefransten Pullover an, so dass Harry das widerwärtige, blutige Loch in ihrem Bauch sehen konnte. „Also sag du mir nicht, wie ich sein soll oder nicht!“

Sie bat ihn nicht zu gehen, sondern wendete sich einfach den Flammen im Ofen zu. Eine Weile wartete Harry noch und sah ihr dabei zu, wie sie ins Feuer starrte. Aber nachdem sie ihn vehement ignorierte und eisern schwieg, stand er irgendwann auf und ging.

Ohne bewusst einen Entschluss gefasst zu haben, ging er nicht in sein Zimmer zurück, sondern stieg Treppe für Treppe hinunter, bis er schließlich im rechteckigen Innenhof des Gebäudes stand. Harte Regentropfen peitschten ihm ins Gesicht. Unter der Toreinfahrt hatte sich eine meterbreite Lache gebildet, die nicht zu umgehen war. Harry war es egal, er würde ohnehin innerhalb von Minuten völlig durchnässt sein. Als er hindurchwatete sog sich das Wasser von unten in seine Schuhe, die plötzlich jeden Schritt zur Qual machten, als wären sie mit Bleigewichten beschwert worden. Trotzdem kämpfte er sich weiter.

Inzwischen kannte er das Labyrinth der dunklen Gassen so gut wie eine Labormaus, die im immergleichen Irrgarten aus Pappmaché den Weg zu einem Salatblatt finden muss. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er Moodys Haus erreichte.

Natürlich wusste Harry, dass Mad-Eye ihn wegen seines Holzbeines nicht begleiten würde können, aber er erhoffte sich zumindest ein paar nützliche Tipps. Und die eine oder andere Neuigkeit über Frank. Oder ob sonst irgendetwas Wissenswertes geschehen war. Obwohl Moody sein Haus so gut wie nie verließ, schienen solche Informationen immer den Weg zu ihm zu finden. Harry hatte es schon vor langem aufgegeben, sich zu wundern.

Zu seiner Überraschung antwortete jedoch niemand, als er sich endlich unter den schützenden Dachvorsprung vor den Regenmassen gerettet hatte, und mit der Faust gegen die Tür schlug. Er wartete einen Moment und klopfte dann noch einmal. Im Haus blieb es still. Harry war besorgt.

„Alastor?“, schrie er gegen das tosende Wetter an. „Ich bin’s, Harry! Wenn du keine Lust auf Besuch hast, gehe ich wieder, aber sag nur irgendwas!“

Schweigen schlug ihm hart entgegen.

Entschlossen drückte er sich gegen das klinkenlose Türblatt, das wie immer ohne weiteres aufschwang. Heiseres Scheppern dröhnte durch die gespenstische Stille. Die Tür war mit einer Seilkonstruktion gesichert, die eine improvisierte Glocke aus einem Eimer und ein paar Steinen zum Poltern brachte. Moodys Paranoia hatte auch hier um nichts nachgelassen. Harry ließ den Blick durch die Hütte gleiten, die nur aus einem einzigen Raum bestand – nicht unähnlich jener, in der Hagrid gehaust hatte. Nur, dass hier die Monster fehlten und keine getrockneten Kräuter oder Tierfelle von der Decke hingen. Stattdessen stapelten sich an den Wänden Fundstücke wie rostige Eimer, Lumpen aus Stoff, oder eigenartig geformte Steine. In der Mitte des Raumes lag eine Tür auf zwei Ziegelstapeln, die einen Tisch ersetzte. Anstelle von Stühlen standen daneben zwei Holzkisten.

Harry kannte den Raum. Er war einige Male hier gewesen, seit er sein neues Quartier bezogen hatte, aber ohne Mad-Eye wirkte er plötzlich kalt und fremd wie eine Theaterkulisse an einem spielfreien Tag. Aber noch irgendetwas schien an diesem Bild nicht zu stimmen – einmal abgesehen von der eklatant auffälligen Abwesenheit von Alastor Moody. Noch einmal ließ Harry seinen Blick über den Raum gleiten; es war wie in einem dieser Fehlersuchbilder, die er als Kind immer gemacht hatte. In den Kinderzeitschriften, die er selbst nie geschenkt bekommen hatte, sondern sein Cousin Dudley, hatte jener sie immer ausgelassen, weil sein Horizont nicht ausgereicht hatte, um subtile Fehler zu finden, wie etwa eine Kerze, die ruhig brannte, obwohl sie neben einem offenen Fenster stand, dessen Vorhänge sich bauschten. Harry dagegen hatte sich stundenlang mit diesen durchgekauten und wieder ausgespuckten Rätseln beschäftigen können. Er fand die Fehler und dachte sich dann dazu ein neues Universum aus, in dem die Gesetze der Physik nicht herrschten und Uhren auch rückwärts gehen konnten. Ohne Ironie hatte er später oft gedacht, dass er mit seinen Phantasien gar nicht so weit daneben gelegen hatte. Jedenfalls hatte er dieser Kindheitsbeschäftigung ein scharfes Auge für winzigste Ungereimtheiten zu verdanken, was ihm schon in Hogwarts häufig dabei geholfen hatte, versteckte Türen und verborgene Fallen zu entdecken. Und auch diesmal hatte sein aufmerksamer Blick ihn nicht im Stich gelassen. Wenn auch nur unbewusst, so hatte er doch die kleine Ungereimtheit registriert, die er jetzt beim genaueren Hinsehen sofort entdeckte: dort unter dem Tisch, halb verborgen hinter einer der Kisten – lag Moodys Bein.

Das hölzerne.

Er seufzte und ließ sich auf einer der Kisten nieder, wobei er penibel darauf achtete, das Holzbein weder ansehen zu müssen, noch es unabsichtlich zu berühren. Allein der Gedanke daran ließ leichte Übelkeit in ihm aufsteigen. Trotzdem blieb er sitzen und klammerte sich mit beiden Händen an die improvisierte Tischplatte, weil ihm das zumindest die Illusion von Halt verlieh.

Besonders, bevor Alice wieder aufgetaucht war, hatte Mad-Eyes Gesellschaft so etwas wie eine Konstante für Harry dargestellt. Und obwohl Moody meistens mürrisch geschwiegen hatte, höchstens hin und wieder wie zufällig einen zynischen Kommentar aus dem Mundwinkel geknurrt hatte, so hatte er seine Tür doch immer für Harry geöffnet und ihn oft auch mit brauchbaren Informationen versorgen können. Etwa wo jemand aufgetaucht oder verschwunden war, und wenn es irgendwo etwas zu plündern gab.

So plötzlich war er jetzt verschwunden, dass es Harry aus dem Gleichgewicht brachte, als hätte man einen Teppich unter seinen Füßen weggerissen. Natürlich war Alice noch da. Aber sie war nicht mehr dieselbe, sie war gebrochen. Und Frank... Harry hatte ihm nicht verziehen, dass er ihm die Schuld an Sirius’ Verschwinden gegeben hatte. Vielleicht gerade deswegen, weil er sie sich auch selbst gab. Jedenfalls hatte er ihn seit dem Moment nicht mehr gesehen, in dem der Regen eingesetzt hatte.

Auch Draco nicht. Aber Harry dachte nie an Draco. Zumindest war es das, was er sich selbst vorsagte, wenn er sich beim Gedanken an ihn erwischte.

Aber Mad-Eyes Verschwinden – es war nur ein Grund mehr, nach draußen zu gehen. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Kurz entschlossen stand er auf und schob langsam die Tür auf, um sich wieder dem strömenden Regen zu stellen. Im Schatten der Häuser schlich er dahin und schützte sich soweit es noch möglich war. Sobald er die Ebene erreichte, wäre er ohnehin schutzlos ausgeliefert – dem Regen, den Schatten, den Blicken. Aber vorher machte er noch einen kleinen Umweg durch die Stadt. Wieder einmal wurde ihm die Trostlosigkeit der halb-verfallenen Gebäude bewusst, all des Unrats und des Schmutzes, der ihn überzog. Rost, der sich seit Beginn der Flut ins Metall fraß. Gerümpel, das langsam im Schlamm vermoderte.

Endlich fand er sein Ziel. Das alte Haus sah noch heruntergekommener aus, als damals, als auch er für kurze Zeit darin gewohnt hatte. Es musste schrecklich feucht drinnen sein, wenn nicht ohnehin das Wasser zwei Fuß hoch stand. Vorsichtig schlich er in einem weiten Bogen näher, immer von einer Deckung zu nächsten huschend, bis er die rückwärtige Seite des Hauses erreicht hatte. Er duckte sich und lief in raschen Schritten, bis er sich mit dem Rücken flach gegen die Wand presste. Langsam schob er sich bis zum Küchenfenster vor und riskierte es schließlich nach kurzem Zögern einen Blick hindurch zu werfen. Es schien wie ausgestorben, also wagte er es, beide Hände gegen die Scheibe zu legen und sich gründlicher umzusehen.

Frank war fort.

Aber anders als bei Mad-Eye schien sein Auszug geplant vor sich gegangen zu sein: das Regal war bis auf wenige Stücke leergeräumt worden, sogar einer der intakten Stühle war verschwunden. Offenbar hatte Frank sich eine neue Bleibe gesucht und der Grund dafür war kaum zu übersehen. Von der Decke tropfte es stetig und an einer Wand hatten sich große, dunkle Schimmelflecken gebildet.

Harry wandte sich ab. Er hatte alles gesehen, was es hier zu erfahren gab.

Er suchte seinen Weg zurück auf die Straße und fragte sich, wohin Frank wohl gegangen war, und ob Alice es wusste. Ob Mad-Eye es gewusst hatte – er hatte nie etwas über Franks Verbleib angedeutet. Ob jeder etwas wusste, irgendeinen Teil einer großen Wahrheit kannte, die nur zusammengesetzt ein Bild ergab. Die man aus der Distanz betrachten musste, um sie zu erkennen. Aber niemand wollte seine Wahrheit teilen, weil sonst nichts da war, an dem man festhalten konnte.

Mit schweren Schritten stapfte er auf den Stadtrand zu, während er Gedanken wälzte, die zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen konnten. Endlich wurden die Abstände zwischen den Häusern breiter und das Gefüge aus Straßen löste sich langsam auf, bis durch den schweren Vorhang aus Regen keine weiteren Konturen von Gebäuden mehr auszumachen waren. Vor ihm lag nur noch die Ebene und weit dahinter der brennende Wald. Wenn er es so weit schaffte, dann könnte er tatsächlich in den Wald gehen, um seine Mitte zu suchen. Die Mitte, die hier der Horizont war. Vielleicht war es ja das Gleiche. Noch während Harry diesen Gedanken hatte, kam er ihm schon albern vor. Dort draußen war nichts – nichts außer der Wesen, die er fürchtete und gleichzeitig herbeiwünschte, weil Angst immerhin etwas war, das er fühlen konnte und seinem Dasein für einen Augenblick Sinn verlieh. Und wenn sie ihn erwischten? Nun, dann wäre er immerhin wieder mit Sirius vereint. Obwohl er bezweifelte, dass er, wenn es so weit käme, überhaupt noch Freude empfinden könnte. Oder irgendetwas anderes außer dem Hunger auf andere, die dumm genug waren, sich in die Ebene zu wagen.

Würde er ihnen überhaupt entkommen können, wenn der Regen ihm die Sicht nahm und der Morast seine Füße fesselte?

Harry senkte den Kopf, vor den peitschenden Tropfen gab es hier keinerlei Schutz mehr, und stapfte entschlossen los ins Ungewisse. Vor sich sah er nur graubraune Schlieren, über sich die stählernen Wolken und hinter ihm würde die unregelmäßige Silhouette der Ruinenstadt bald verschwinden. Seine Ohren waren vom Rauschen des Regens erfüllt und seine ganze Aufmerksamkeit auf nichts anderes als den nächsten Schritt gerichtet. Und den nächsten. Und den danach.

Erst in dem Moment, in dem ihn ein harter Schlag an der Schulter traf, der ihn von den Füßen riss, nahm er verspätet wahr, dass sich ein anderes Geräusch unter das gleichmäßige Rauschen gemischt haben musste. Harte, platschende Fußtritte, als wäre jemand von hinten auf ihn zu gerannt.

Er stieß ein dumpfes „Ough“ aus, als ihm beim Aufprall sämtliche Luft aus der Lunge gepresst wurde und einen Sekundenbruchteil später jemand auf ihn fiel, der sich aber sofort hochrappelte und einige Schritte zurückwich.

Harry hob unter Schmerzen das Gesicht aus dem Matsch und blinzelte.

Auf den ersten Blick sah die Gestalt die sich auf ihn geworfen hatte aus, wie ein schlammbeschmierter Astronaut. Auf den zweiten Blick war es Draco.

„Was zum...“, setzte Harry an, brachte jedoch kein weiteres Wort heraus. Ein beinahe hysterisches Lachen versuchte sich seinen Weg durch Harrys plötzlich wie zugeschnürte Kehle zu bahnen. Heraus kam nur ein absurdes Quietschen.

Vage erinnerte Harry sich an eine ähnlich gekleidete Gestalt, die er in einem anderen Leben mit einem Pappschild vor einem Supermarkt hatte betteln sehen. „Bitte um Spende für den Ausbau meines Raumschiffs“, hatte auf dem Schild gestanden, und das Raumschiff war offenbar einmal ein Einkaufswagen gewesen. Tante Petunia hatte sofort kehrt gemacht und war in einen anderen Laden gegangen.

Dracos Erscheinung war gelinde gesagt bizarr. Er war von Kopf bis Fuß in Plastikfolie gewickelt, die er notdürftig mit Schnüren und Stoffstreifen an Armen und Beinen festgebunden hatte. Auf dem Kopf trug er wie eine Kapuze eine Tüte, in die er vorne ein Loch für sein Gesicht gerissen hatte.

„Was zur Hölle...“, brachte Harry schließlich heraus, unterdrückte das Lachen und entschied sich stattdessen für ein entsetztes Keuchen.

„Ja, was zur Hölle, Harry!“, schnappte Draco. „Was zur Hölle, dachtest du, was du hier tust?“

„Uhm“, machte Harry ratlos. Sein Plan erschien ihm mit einem Mal sehr, sehr undurchdacht. „In den Wald gehen“, log er.

Draco schnaubte. „Du hast versprochen, dass du es mir sagen würdest...“ Ein Hauch von Enttäuschung lag in seinem Tonfall.

„Dass ich es dir...? Warte mal, hast du nicht seit – seit Ewigkeiten nicht mehr mit mir gesprochen?“, blaffte Harry ihn an.

„Mir kommt es vor als wäre es gestern gewesen“, sagte Draco kühl und zog unter seiner Kapuze eine Augenbraue hoch.

„Oh, witzig, Malfoy, echt witzig“, sagte Harry beleidigt.

Einen Augenblick lang zögerte Draco, dann sagte er entschlossen: „Komm mit. Irgendwo rein. Von all dem Regen krieg ich schon schrumpelige Finger. Scheußlich.“

Genervt verdrehte Harry die Augen, was Draco allerdings nicht mitbekam, weil er schon wieder durch den Schlamm in Richtung Stadt stapfte, aber er folgte ihm trotzdem.

„Moodys Haus ist am nächsten, da ist keiner mehr“, sagte Harry, der Draco nur nicht mit zu sich nehmen wollte, damit Alice nichts merkte.

Draco schien es ohnehin einerlei zu sein und mit betont desinteressiertem Achselzucken schlug er den entsprechenden Weg ein. Dort angekommen schälte er sich zunächst aus seiner Plastikhülle, die er am Boden zum Trocknen ausbreitete. Als nächstes räumte er äußerst unzeremoniell Moodys zurückgelassenes Holzbein weg, indem er es hinter einen Stapel Bretter stopfte. Als er Harrys leicht schockiertem Blick begegnete, zuckte er beiläufig mit den Schultern. „Du kannst es auch wieder rausholen und es auf ein Podest stellen, wenn dir das lieber ist.“

„Uh, nein, nein, schon in Ordnung“, sagte Harry hastig.

Draco grinste.

Harry jedoch war nicht nach Sticheleien zumute. Schwer ließ er sich auf eine Holzkiste fallen und stützte die Ellbogen auf die Knie, die Finger in seine nassen Haare vergraben. Er starrte auf den nackten Boden aus abgetretenem Stein, als würde er auf das Loch warten, das sich unter ihm auftun sollte.

Einen Moment lang betrachtete ihn Draco stumm, das durchtriebene Grinsen in seinem Gesicht erloschen. Dann zog er eine zweite Kiste heran und setzte sich Harry gegenüber. So nahe, dass sich fast ihre Knie berührten. „Sieh mal, ich...“

„Warte“, unterbrach ihn Harry. „Bevor jetzt dieser ganze Mist kommt, von wegen ich hätte es nicht so gemeint und du hättest es nicht so gemeint und am Ende liegen wir uns in den Armen – das wird nicht passieren.“

„Welcher Teil davon?“, fragte Draco abwägend.

„Ich habe es so gemeint“, sagte Harry. „Und du hast es so gemeint, als du verschwunden bist. Was nachvollziehbar ist und wahrscheinlich sogar die freundlichste aller möglichen Reaktionen.“ Er hielt inne und hob seinen Kopf, um Draco in die Augen zu sehen, der starr aufrecht saß und seine grauen Augen scharf auf Harry gerichtet hielt. Dann fuhr er mit schwerer Stimme fort: „Ich habe es so gemeint. Wegen Sirius. Wegen Remus. Er hat ihn wohl geliebt, denke ich.“ Es auszusprechen fiel ihm schwerer, als er angenommen hatte und er schluckte mühsam, als er daran dachte, wie oft er Sirius nun schon gefunden und unweigerlich wieder verloren hatte.

Eine Weile sagte Draco nichts, er schien sich für etwas zu sammeln, das kommen musste und er nicht länger abwenden konnte. Nachdem er ein paar Mal Luft geholt und zu sprechen ansetzen wollte, fand er endlich die Worte wieder, und sie kamen überraschend gefasst über seine Lippen. Er sprach langsam und formte jedes Wort wie eine Skulptur in seinem Mund, ehe er es in die erstarrte Luft zwischen Harry und ihm entließ. Gegen die Fenster trommelte der Regen. „Ich wusste, dass du kommen würdest, früher oder später. Und ich wollte dich da rausholen, bevor sie dich kriegen. Alles andere war mir egal. Jeder andere. Ich wollte nur dich...“ Seine Stimme driftete davon und verlor sich zwischen den im Wind quietschenden Fensterläden.

Harry ließ die Hände sinken und er sah wieder auf. Nun war es Draco, der den Blick stur auf den Boden gerichtet hielt. Es war keine Entschuldigung, nichts dergleichen. Aber was Draco anging, war es mehr als das – so viel mehr.

Herzschläge dröhnten durch die Stille wie grollendes Kanonenfeuer. Die Spannung wuchs mit jeder Sekunde, die sie noch schwerer zu ertragen machte. Wenn das ein Film wäre, dachte Harry, würde er Draco jetzt küssen. Aber etwas in ihm weigerte sich beharrlich vor diesem Eingeständnis, welches bedeutete, dass er verzieh, dass er zuließ, dass er verstand.

Mit einem Ruck stand er auf und ging zur Tür. Hinter sich hörte er, wie Draco scharf Luft holte, und er zögerte einen Moment, durch die aufgestoßene Türe zu treten. Plötzlich war Draco direkt hinter ihm, er konnte die Wärme seines Körpers spüren und den Regen auf seiner Haut riechen. „Warte“, sagte Draco leise sehr nah an seinem Ohr. Es war kaum mehr als das Raunen der Regentropfen, die unablässig vor ihm fielen. Kühl legte sich Dracos Hand von hinten über seine Augen. „Stell dir einfach vor, alles hier wäre nicht real.“ Harry spürte, wie Dracos andere Hand sich auf seine Schulter legte und ihn sacht zu sich drehte. Sein Atem kitzelte Harrys Ohr wie ein leiser Windhauch und seine Stimme wurde Eins mit dem Murmeln des Regens. „Diese Hütte ist nicht wirklich, auch der Regen nicht, und das ganze Land hier.“ Die kühle Hand bedeckte immer noch Harrys Augen, die er inzwischen längst geschlossen hatte. Wie im Traum versank er in den geflüsterten Worten. „Auch ich bin nicht wirklich hier“, flüsterte Draco.

Sein Körper, der sich hingegen sehr wirklich anfühlte, berührte nun Harrys, ihre Schultern und Hüften streiften sich und Dracos Hand lag auf seinem Rücken. Die andere glitt langsam von den Augen sein Gesicht hinab, die Finger berührten sachte seine Lippen und fuhren dann unendlich langsam seinen Hals hinab. Harry spürte das leise Zittern darin und Dracos mühsam beherrschten Atem auf seinen Lidern. Vorsichtig hob er seine Hände und fand ohne die Augen zu öffnen Dracos Gesicht, ließ seine Finger darüber gleiten und erspürte jedes Detail der glatten, jungen Haut. Zu jung zum Sterben. Es war nicht wirklich. Es konnte – durfte nicht wirklich sein. Seine Lippen fanden Dracos. Die Wirklichkeit hatte nie so süß geschmeckt.

***


Als Harry die Augen aufschlug, raste die Realität mit der Wucht eines Presslufthammers auf ihn herab. Erschrocken verkrampften sich seine Hände und mit Erstaunen stellte er fest, dass eine davon die Dracos umschloss.

„Schon gut“, sagte dieser, „mir geht es genauso.“

Harry vermied es, ihn anzusehen, beließ seine Hand jedoch wo sie war.

„Ich weiß nicht mehr, was ich mir wünschen soll“, sagte Draco leise. „Früher hatte ich Wünsche. Jede Menge. Ich wollte mehr. Und jetzt? Was ist schon übrig.“

Harry sah ihn von der Seite an. „Wünschst du dir nicht, dass es vorbei geht?“

Draco lachte bitter. „Das kann ich nicht mehr. Du bist hier. Wir könnten die Ewigkeit haben, aber ein Albtraum, den man mit jemand anderem erlebt, ist immer noch ein Albtraum.“

„Aber vielleicht nicht mehr so schlimm.“

Draco sah ihn an. „Denkst du das wirklich?“

„Nein“, antwortete Harry ehrlicher als er wollte.

Mit einem Seufzen ließ Draco sich wieder zurückfallen. Sie lagen auf dem Bündel aus Kleidung, das sie sich von den Körpern geschält hatten, nutdürftig auf diese paar Lumpen gebettet wie in das schäbige Nest einer Ratte aus der Kanalisation. Unter seinem Körper raschelte etwas leise. Er richtete sich auf und fand ein Stück zerknittertes Papier, grau von Asche und Schmutz, und abgenutzt von hundertfachen Berührungen. Rasch ließ er seinen Blick darübergleiten und ein Hauch des Erkennens flackerte in seinen Augen auf. „Hattest du es?“, fragte er Harry interessiert.

„Also, ich...“, stammelte Harry und wusste nicht, warum es ihm so unangenehm war, dass Draco den Zettel gefunden hatte.

„Weißt du, es war Zufall, dass ich es gerade in der Tasche hatte, als...“ Draco wurde blass und wedelte dann wegwerfend mit dem Blatt in seiner Hand. „Anfangs habe ich sogar einmal versucht, ihn herzustellen, aber das war komplett sinnlos.“ Er runzelte leicht die Stirn und überflog den unverständlichen Text. „Baldrianwurzel, Rattenleber... und das sind nur die einfachsten Zutaten.“

Verständnislos starrte Harry ihn an. „Wovon redest du?“

„Der Schlaftrank“, sagte Draco mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. „Das Rezept ist aus unserem alten Schulbuch. Andererseits“, er warf Harry einen hämischen Seitenblick zu, „wundert es mich nicht, dass du es nicht wiedererkennst. Hatte nie den Anschein, als hättest du das Buch je aufgeschlagen.“

Harry konnte nicht darüber lachen. Stattdessen riss er Draco die herausgetrennte Buchseite aus der Hand und starrte sie fest an, als würden sich die Zeichen plötzlich durch Wunderhand zu verständlichen Worten formen. Aber sie waren für ihn immer noch genauso unentschlüsselbar wie zuvor. „Ich... kann das nicht lesen“, erklärte er schließlich tonlos.

Eine nachdenkliche Falte bildete sich zwischen Dracos Augenbrauen.

„Und wenn ich so darüber nachdenke... ich glaube sogar, dass die Zeichen sich jedes Mal verändert hatten, wenn ich das Blatt wieder angesehen habe. Irgendwie hatte ich den Eindruck schon vorher, als ich versucht habe, es zu entschlüsseln, aber da dachte ich einfach...“ Er zuckte halb erklärend, halb hilflos mit den Achseln.

„Vielleicht kann immer nur derjenige etwas lesen, der es hierher mitgebracht hat“, setzte Draco mit dem schwächlichen Versuch einer Erklärung an, konnte aber kaum wirkliche Überzeugung in seine Stimme legen. Verlegen faltete er die Seite zusammen und schob sie in eine hohle Fuge zwischen den Steinen.

Nachdenklich sah Harry ihn von unten her an. „Was denkst du, warum sind wir hier? Ich meine, warum manche gehen und andere so lange bleiben, wie Frank und Alice.“

Draco hob kaum merklich die Achseln. „Keine Ahnung“, sagte er abweisend.

„Sag mir nicht, dass du nie darüber nachgedacht hättest“, murrte Harry. Er selbst hatte sich fast ununterbrochen mit dieser Frage beschäftigt und konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendjemandem anders dabei ging.

Für einen Moment tauchte eine kleine, scharfe Falte zwischen Dracos Brauen auf, die aber sofort wieder verschwand. „Ich denke...“, begann er gedehnt, „irgendetwas hält uns fest. Auf der anderen Seite. Eine Erinnerung, eine Aufgabe, vielleicht ein Körper, wie bei den Longbottoms. Was auch immer.“ Sein Blick verlor sich im Leeren. Harry setzte zu einer Erwiderung an, aber unvermittelt fuhr Draco fort, leise und tonlos. „Wir müssen es erst loswerden.“

„Was hält dich?“, flüsterte Harry. Plötzlich spürte er die Kälte scharf auf seiner nackten Haut.

Wie in Zeitlupe wandte Draco sich ihm zu. Eine kleine Ewigkeit ruhte der Blick aus seinen dunkel umschatteten Augen auf Harry, ehe er resigniert die Lider niederschlug. Vielleicht war es auch nur für die flüchtige Dauer eines Gedankens gewesen, in der sich ihre Blicke gekreuzt hatten. Harry konnte nicht anders, als sich abzuwenden – Draco war ihm gleichzeitig so fremd und so vertraut, dass er seinen Anblick kaum ertrug. Unnahbar, jedoch gleichermaßen fragil.

Irritiert versuchte er sich abzulenken, indem er auf die nackten Dachbalken starrte und versuchte die Risse darin zu zählen. Aber es waren zu viele und er geriet immer wieder durcheinander, wenn er glaubte, Dracos Blick auf sich ruhen zu spüren und er unwillkürlich aus den Augenwinkeln in dessen Richtung spähte. Jedoch schien Draco tief in Gedanken versunken und saß starr mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt. Harry bemerkte die leichte Gänsehaut auf seinem Rücken und konnte sich nicht davon abhalten, mit dem Finger leicht darüber zu fahren. Draco schrak eine Spur zusammen.

„Bleib“, sagte Harry. „Bleib bei mir.“

Dracos Mundwinkel hoben sich in der Andeutung eines wehmütigen Lächelns. Sein Körper zerfloss über Harry und schien jede Substanz zu verlieren, ihn gleichzeitig überall zu berühren, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Seine Haare kitzelten Harry an der Schulter. Dracos Berührung sagte, „Ich verspreche es“, aber seine Lippen schwiegen.

***


Sie gingen schweigend. Der Regen sprach genug für sie beide. Jeder Schritt, den sie taten, machte ein schmatzendes Geräusch in dem durchweichten Untergrund. Wenn es möglich war, hielten sie sich im Schatten der Hauswände, wenn keine mehr da waren, blieben sie Opfer des Regens. Draco hatte sich wieder in seine Plastikhülle gewickelt, jedoch auf die Tüte über seinen Kopf verzichtet. Verloren war sie als einziges Relikt einer bereits verblassenden Erinnerung auf dem Tisch in Mad-Eyes Haus zurückgeblieben. Vielleicht würde sie jemand finden, irgendwann. Der Regen lief ihm in den Kragen und rann in kleinen Rinnsalen über seinen Körper.

Harry war tief in Gedanken versunken. Wenn Draco nun Recht hatte... Vielleicht war Moody gegangen, weil er nun wusste, dass der Krieg vorbei war, dem er sein Leben gewidmet hatte. Ein Hauch von Hoffnung keimte in Harry auf, dass Sirius möglicherweise doch einen Weg gefunden hatte um weiterzugehen, wenn tatsächlich Remus es gewesen war, der ihn hier gehalten hatte. Die drängendste Frage blieb jedoch offen – was war es, das ihn selbst an dieses Dasein fesselte?

Draco neben ihm schwankte leicht und Harry griff nach seiner Hand. Warm tropfte das Wasser aus seinem Ärmel.

„Alice hat einen Ofen“, sagte er.

„Sie wird nicht begeistert sein, mich zu sehen“, bemerkte Draco zweifelnd.

Einen Augenblick lang zögerte Harry und überlegte. „Sie wird es verstehen“, meinte er schließlich.

Draco starrte stumm und verbissen auf den Weg, der verschwommen vor ihnen lag.

Obwohl Harry selbst vorgeschlagen hatte, Moodys Haus zu verlassen, so war er sich doch nicht so sicher, wie er sich gab, ob Alice es Draco tatsächlich so leicht machen würde. Immerhin hatte er die Katastrophe ins Rollen gebracht, die sie am Ende ihren intakten Körper, ihren Mann und ihren besten Freund, Sirius, gekostet hatte. Eigentlich fragte Harry sich, wie es möglich war, dass er selbst Draco verziehen hatte. Jedoch, wenn er es recht bedachte, hatte er das gar nicht. Ihre Schuld wog sich nur gegenseitig auf und verlor dadurch ihre Kraft. Er konnte nicht einmal genau sagen, wie es passiert war, oder wer sich nun letztendlich wessen angenommen hatte, aber fest stand, dass er und Draco jetzt aneinander gekettet waren – im besten und im schlechtesten Sinn.

Er spürte, wie Dracos Hand ihm entglitt und er hielt inne. Draco strauchelte.

„Was ist los?“

Draco war stehen geblieben und stütze sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Sein Atem ging flach und angestrengt. „Nur ein Moment...“ Blassrote Rinnsale auf seinen Beinen.

„Merlin!“ Mit einem Schritt war Harry bei ihm und riss seinen Ärmel hoch. Die darumgewickelte Plane fiel raschelnd zu Boden und unmittelbar begannen sich kleine Pfützen darin zu bilden. Blut tropfte weiter von Dracos Arm und zog rote Schlieren im graubraunen Schlamm.

„Was...“, murmelte Draco und starrte fassungslos auf seinen Unterarm, auf dem die Wunde aufgebrochen war und blutete, als hätte sein Kreislauf nie ausgesetzt. Er schwankte und im nächsten Moment gaben seine Knie nach und er knickte um, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich rissen. Harry fing ihn im Fall auf, schaffte es aber nicht, ihn auf den Füßen zu halten. Also hielt er ihn halb aufrecht auf den Knien, er selbst war vor Draco niedergesunken, die Schienbeine schon halb im verfärbten Morast versunken.

„Harry...“, nuschelte Draco, den Kopf auf Harrys Schulter gestützt. Hinter Harrys Rücken umklammerte seine rechte Hand den linken Unterarm, als könne er ihn dadurch vom Bluten abhalten. „Wenn das hier weitergehen ist... ich hatte nicht erwartet, dass es so weh tut.“

„Nein nein nein“, flüsterte Harry hektisch und umklammerte Dracos Körper, der sich anfühlte wie ein nasser Sack Lumpen. „Es wird gut, es wird alles gut!“

„Was...“, setzte Draco mühsam an. Er atmete schwer und schien um jedes einzelne Wort ringen zu müssen, das langsam von seinen Lippen rollte und schwer zu Boden fiel. „Was, wenn das hier mein Traum ist? Und nicht deiner.“

Harry schüttelte heftig den Kopf. Er schmeckte Salz zwischen den Regentropfen, die ihm im Gesicht brannten. „Ich bin da! Du weißt, dass ich da bin“, flüsterte er verzweifelt, während Stück für Stück jede Spannung aus Dracos Körper wich. Er glaubte, eine Bewegung an seiner Schulter zu spüren, als würde Draco versuchen zu nicken. Oder den Kopf zu schütteln.

Der Regen löste alle Konturen auf, als würde ein Gemälde rund um ihn in seine einzelnen Farben aufgespalten und langsam zerrinnen. „Bleib“, keuchte Harry. Er umklammerte Dracos Körper, der sich nicht mehr regte, und die Welt ging in verlaufenden Farben unter.

Schmutzigbraun wie die Erde.

Stahlgrau wie der Himmel.

Rot wie Blut.


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