von MagicMarlie
Die Welt ist kalt und grau. Sie ist leer, völlig frei von Liebe. Zumindest für mich. Nicht für alle, nein, aber für mich.
Hier im Wald ist es kalt, doch in meinem Herzen ist es kälter. Ich muss aufpassen, um nicht über eine herausragende Wurzel zu stolpern, während ich meinen trübsinnigen, verzweifelten Gedanken nachhänge. Ja, das bin ich, verzweifelt. Aber wer wäre das nicht? Wer nicht, wenn er alles verloren hätte? Alles, was wichtig wäre im Leben. Sie.
Wie hypnotisiert setze ich einen Fuß vor den anderen, immer weiter gehe ich, immer weiter …
Der Tag schwindet schon fast, die Sonne wirft noch einmal verzweifelt ihre letzten glühenden Strahlen über das weiße Land. Doch sie vermag nicht mehr zu wärmen. Dann verschwindet sie am Horizont und am Himmel erscheinen nach und nach die Sterne, schließlich der Mond.
Der Schnee unter meinen Füßen knirscht und die wenigen verbliebenen Blätter rascheln im leichten Wind.
Vor mir läuft ein Eichhörnchen über den Weg, so jung, voller Lebenskraft. Ich atme tief durch, dann setze ich meinen Weg fort, immer weiter, immer weiter …
Mittlerweile ist der Mond ganz aufgegangen. Bleich und kahl hängt er am dunklen Nachthimmel und wirft sein Spiegelbild auf die glatte Eisschicht eines kleinen Reihers vor mir.
Nach einer Weile lichten sich die Bäume und beschleunige meine Schritte. Je schneller es erledigt ist, desto besser.
Endlich, da vorne kann ich sie sehen, die Klippen. Ich ziehe die Schultern hoch und beobachte meinen Atem, der in weißen Wölkchen vor mir hängt.
Langsam trete ich näher an die Klippen heran. Der Abgrund ist tief, tiefer als ich geglaubt hatte. Aber wahrscheinlich ist das gut so.
Erinnerungen durchfluten mich, an eine glückliche Zeit, doch ich verdränge sie. Ich will keinen Rückzieher mehr machen.
Trotzdem kann ich meine Gedanken und Gefühle nicht einfach ausschalten. Ständig taucht ihr Gesicht vor mir auf, ihr grünen Augen …
Abermals durchflutet mich ein starkes Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Trauer, wenn ich an ihr schreckliches Ableben denke. Sie hat es nicht verdient.
Aber das Schlimmste ist meine Schuld. Meine Schuld an ihrem Tod.
Stumm lasse ich meine Blicke über die raue Landschaft streifen, während mir heiße Tränen über die Wangen laufen. Ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr. Jahrelang habe ich gelogen und allen etwas vorgespielt. Aber jetzt hört das auf, ein für alle mal, ich kann nicht mehr.
Noch einmal atme ich tief durch, nehme die Gerüche und Geräusche um mich herum intensiv wahr. Aber meine Atemzüge sind gezählt.
Ich weiß nicht, wie es sein wird, danach. Doch hoffe ich, dass es besser sein wird. Und dass ich sie wiedersehen werde. Ich wünsche es mir so sehr.
Für mich wird es kein Morgen mehr geben, nie mehr, so wie es für sie kein Morgen mehr gegeben hat. Ich schaudere und schließe kurz die Augen. Es muss sein, es ist gut, wie es ist, ich darf keinen Rückzieher mehr machen.
Und das tue ich nicht. Langsam trete ich näher, meine Stiefelspitzen berühren den Rand der Klippe. Das ist viel schwerer, als ich gedacht habe. Sehr viel schwerer.
Aber dann tue ich es, ich springe. Ich stoße mich von dem felsigen Untergrund ab und breite die Arme aus. Der kalte Wind treibt mir Tränen in die Augen und sein Rauschen umhüllt mich.
Ich musste es tun. Das Leben hat keinen Sinn mehr für mich.
Der Erdboden kommt näher. Alles dreht sich.
Und ich falle. Ich falle immer weiter, immer weiter …
In meinen Ohren surrt es und ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben frei.
Ich fliege. Vielleicht spüre ich es nicht. Ich werde nie mehr werde ich irgendetwas spüren oder irgendetwas fühlen. Nie mehr.
Und ich habe nur noch einen Gedanken. Wieder sehe ich nur sie vor meinem geistigen Auge. Nur sie. Bald werde ich bei ihr sein.
Ich falle. Immer tiefer. Ich falle und ich kann es nicht mehr verhindern. Meine Zeit ist um. Es wird kein Morgen mehr geben.
Und ich falle, ins Dunkel. Ich falle und ich sehe nur sie.
Ende
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