von Dr. S
Onkel Alphards Gesicht tauchte wie eine Illusion aus Rauchschwaden vor ihm auf. Sein Gesichtsausdruck, enttäuscht und voller Abneigung, war derselbe wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Und das sollte jetzt immer seine letzte Erinnerung an seinen Onkel bleiben?
Regulus schüttelte den Kopf, wollte diese Erinnerungen loswerden, und wandte sich Sirius in der Hoffnung zu, dass er sich bellend lachend über seinen naiven kleinen Bruder amüsieren würde, der den dämlichsten Scherz auf der Welt geschluckt hatte. Sirius war allerdings in der tröstenden Umarmung von James verschwunden.
Wieso bekam Sirius eine tröstende Umarmung, wenn er auch seinen Onkel verloren hatte, durchschoss es Regulus in einem Anflug von unangebrachter Missgunst. Er schämte sich bereits im nächsten Moment so sehr dafür, dass er sich lautlos auf die Couch setzte, wo ihn hoffentlich niemand bemerken würde.
„Was ist denn passiert?“, fragte James vorsichtig, die Hände noch immer auf Sirius‘ Schultern liegend, als müsse er ihn so auf den Beinen halten.
„Bei seiner Arbeit ist wohl… irgendein Tier ausgebüchst… Sie haben versucht es wieder einzufangen, da… hat’s ihn erwischt.“
Regulus wollte sich das gar nicht vorstellen, trotzdem tauchte Onkel Alphards Gesicht wieder vor ihm auf, diesmal mit leeren, toten Augen und herausgerissener Kehle. Er kniff die Augen zusammen, nur damit das Bild an Farbe und Festigkeit gewann. Regulus entwich ein Keuchen voll Horror und Mitleid – trotzdem schien ihn niemand zu bemerken.
Es war schrecklich, dass er sich nicht einmal genau vorstellen konnte, was sein Onkel gearbeitet hatte. Die Abteilung hatte er gekannt, aber es hatte ihn nie gekümmert, was sein Onkel tagtäglich arbeitete. Jetzt würde er es nie erfahren. Er konnte nicht einmal mehr nachfragen. Man würde ihn für einen unsagbar schlechten Menschen halten, wenn er so eine banale Frage stellte. Und das völlig zu Recht. Welcher Neffe wusste denn nicht einmal, was sein Onkel arbeitete?
Er hatte sich sowieso nie groß für seinen Onkel interessiert. Die ganze Aufmerksamkeit, die Alphard auf sich gezogen hatte, den lauten Trubel, den er verursacht hatte, das war ihm alles auf die Nerven gegangen. Regulus hatte lieber alleine in seinem Zimmer gesessen und aus dem Fenster gestarrt, anstatt Zeit mit Onkel Alphard zu verbringen.
Wahrscheinlich hatte Alphard ihn deswegen nicht ausstehen können…
„Willst du unsere Familie endgültig kaputt machen?“, hatte Alphard ihn bei ihrem letzten Treffen gefragt, und Regulus realisierte erst jetzt, dass er sich wohl nie richtig um seine Familie geschert hatte.
„Sirius?“ Orion kam ins Zimmer, einen Stapel Pergamente in den Händen. Er stockte kurz bei James‘ Anblick, sagte aber nichts und legte die Pergamente auf den Tisch. Regulus sah er dabei nicht an. „Das hier –“
„Was ist in Mutter gefahren?“, unterbrach Sirius ihn. „Ich hab sie bis hier unten… gehört.“ Er ließ überdeutlich eine genaue Beschreibung davon weg, was ihre Mutter gesagt hatte.
„Du kennst deine Mutter, Sirius“, wollte Orion da offensichtlich auch nicht näher drauf eingehen. So wie Walburga in letzter Zeit auf Onkel Alphard zu sprechen gewesen war, konnte Regulus sich denken, dass sie nicht unbedingt in Tränen ausgebrochen war. Andererseits war Alphard ihr Bruder. Wenn Regulus nur daran dachte, dass Sirius sterben würde, dann, egal was vorher gewesen wäre, würde ihn das verzweifeln lassen.
„Er ist ihr Bruder“, sagte Sirius und stolperte nicht ansatzweise über die Präsensform. „Wie kannst du einfach über… über so einen Freudentanz hinwegsehen?! Wartet sie jetzt nur noch darauf Brandlöcher auf diesen Scheißwandteppich zu drücken? Soll ich James und Regulus aneinandergeklebt nach oben schicken, damit sie noch etwas zum Rumbrüllen hat?!“
„Im Moment bist du derjenige, der herumbrüllt“, sagte Orion gelassen, trotz der Tatsache, dass er erneut auf die Eskapaden hingewiesen wurde, die sein jüngster Sohn sich erlaubte. Und Sirius tratschte die scheinbar bei erstbester Gelegenheit weiter. „Ich kann auch verstehen, dass dir danach ist, aber deine Mutter kann ich auch verstehen, wenn ich mir das hier so ansehe.“
Er deutete auf den Pergamentstapel auf dem Tisch. Alle Blicke folgten ihm, nur damit Orion die Aufmerksamkeit auf ein Bund Schlüssel lenkte, das er aus seiner Umhangtasche zog.
„Das ist der Schlüssel zu Alphards Verlies in Gringotts, Nummer 711, der hier gehört zu seiner Wohnung, diese hier zu diversen Sachen in seiner Wohnung, und der hier war für diesen fahrenden Motorreifen…“
„Motorrad“, korrigierte Sirius. Er streckte die Hand aus und Orion ließ die Schlüssel in seine Hand fallen. „Was soll ich…“
„Das sind die Urkunden, die dir seinen gesamten Besitz überschreiben.“ Orion deutete noch einmal auf den Pergamentstapel. Sirius starrte perplex zwischen den Schlüsseln und den Pergamenten hin und her. So fassungslos hatte Regulus seinen großen Bruder selten gesehen.
„Er hat mir…“ Sirius konnte seinen Satz nicht einmal beenden, so geschockt war er. James nahm die Pergamente für ihn, ließ Sirius über seine Schulter einen Blick hineinwerfen – als wüsste er ganz genau, dass Sirius die Dokumente im Moment nicht anfassen wollte.
„Du kannst…“ Orion räusperte sich. Es fiel ihm hörbar schwer die nächsten Worte auszusprechen. „Dein Zimmer ist staubfrei. Und so, wie du es verlassen hast.“
Regulus beobachtete Sirius ganz genau. Er sah aus, als würde er am liebsten zustimmen. Was immer er heute durchgemacht hatte, es trieb ihn fast zurück in sein Bett.
„Mutter würde das nicht gefallen“, lieferte Sirius den perfekten Grund ihn gleich wieder hinauszuwerfen.
„Deine Mutter… schläft und geht außerdem nicht in die Nähe deines Zimmers“, sagte Orion steif. „Du könntest also durchaus… die Nacht hier verbringen.“
Regulus wusste, dass Sirius das niemals tun würde. Nicht einmal, wenn Onkel Alphard auf Sirius‘ aufsässige Lieblingscousine draufgefallen und sie mit in den Tod gerissen hätte, würde er noch eine Nacht seines Lebens hier verbringen. Ein Teil von Regulus hoffte trotzdem, dass Sirius nicht stur bleiben würde. Das würde für ihn alles so viel leichter machen. Er könnte glücklich mit James in den Tag hineinleben und sich weiterhin einen Dreck um seine Familie scheren.
Zu schade, dass Sirius sich genauso wenig um seine Familie kümmerte.
„Ich kann nicht“, sagte Sirius überhaupt nicht überraschend, dafür mit merkwürdig heiserer Stimme. „Das hier ist nicht mehr mein zu Hause.“
Orion konnte Sirius nicht mehr in die Augen sehen und nickte deswegen der Wand zu. Sirius nahm James die Pergamente ab und zögerte kurz, bevor er sich umdrehte. Was immer er Orion noch hatte sagen wollen, er verkniff es sich.
„Reggie…“ Stattdessen brachte er Regulus in die verzwickteste Zwickmühle seines Lebens. „Willst du mitkommen?“
Regulus hob langsam den Kopf. Sirius sah einfach nur deprimiert aus, kein aufforderndes oder ermutigendes Lächeln, höchstens ein fragendes Funkeln in den Augen. Orion dagegen blickte immer noch die Wand an, streng darauf bedacht sich nicht anmerken zu lassen, was für Emotionen er gerade empfand. Regulus sah hilflos zwischen ihnen umher. Er blieb an James hängen, der ihm ein ganz vorsichtiges Lächeln schenkte.
„Nein…“ Regulus löschte James‘ Lächeln genauso leicht wie eine schwach flackernde Kerze aus. Er hatte die Zwickmühle gerade an James abgetreten. Sichtlich unsicher schaute der von Sirius zu Regulus und wieder zurück. Natürlich wollte er gerade bei Sirius sein, der sonst ganz alleine in einem Hotel oder vielleicht sogar Onkel Alphards Wohnung enden würde, aber er hatte Regulus auch versprochen bei ihm zu bleiben, damit sie das hier zusammen durchstehen konnten – außerdem hatte Regulus auch einen Onkel verloren.
„Du… Du kannst auch bei mir bleiben, Sirius“, schlug James vor. Er warf einen fragenden Blick in Regulus‘ Richtung, hoffte wohl darauf, dass Regulus ihn wenigstens nach Godric’s Hollow begleiten würde. Aber konnte er das?
„Das wär cool“, antwortete Sirius, während Regulus immer noch mit sich haderte. Er konnte den Rest seiner Familie doch nicht genauso dreckig wie Alphard behandeln. Aber Sirius gehörte auch zu seiner Familie und ihm machte Alphards Verlust am meisten aus. Seinen eigenen Bruder konnte man doch nicht im Stich lassen.
„Gut, dann… dann lass uns gehen.“ James schob Sirius in Richtung des brennenden Kamins, schaute aber über die Schulter zu Regulus. Sein bettelnder Blick war Regulus nur zu vertraut. Genau auf diese Weise sah James ihn an, wenn er Mist gebaut hatte und Vergebung suchte.
Regulus schaute auf den Boden. Er hörte das zischende Geräusch, als Flohpulver in die Flammen geworfen wurde, kurz darauf Sirius‘ Stimme, die diesmal wohl wirklich zum letzten Mal durch dieses Haus hallte. Dann war es kurz ruhig, bevor raschelnde Geräusche Regulus hochsehen ließen.
James wühlte in seinem Koffer herum, zog ein schlecht verpacktes Päckchen heraus und drehte sich zu Regulus herum. Er grinste schief.
„Ich hab noch dein Weihnachtsgeschenk.“ Er schien es zuerst auf den Tisch legen zu wollen, entschied sich dann doch dafür es Regulus in die Hände zu drücken. Dabei hockte er sich vor ihn auf den Boden. „Mach’s noch nicht auf und… und schreib mir, okay? Es tut mir so leid, Reg.“
Regulus nickte bloß. Kurzzeitig dachte er, James wollte ihn zum Abschied küssen, als er sich aufrichtete und dabei zu ihm vorbeugte, aber er lehnte einfach nur seine Stirn gegen Regulus‘. Für einen Augenblick schloss Regulus die Augen und zog jeden Tropfen Trost aus dieser Geste. Dann musste er James gehen lassen.
„Pass gut auf ihn auf“, bat Regulus, kurz bevor James in den Kamin stieg. James nickte und verschwand gleich darauf in den auflodernden Flammen.
Regulus ließ den Kopf hängen, als ein plötzliches Gefühl der Schwere ihn von hinten überrannte. Er seufzte auf.
„Regulus.“ Er hatte ganz vergessen, dass sein Vater noch hier war. Regulus stand ruckartig auf, als Orion sich ihm näherte, brachte schnell wieder Abstand zwischen sie.
„Du hast was du willst“, sagte er und steuerte auf die Tür zu, James‘ Geschenk fest an sich gedrückt. „Lass mich jetzt einfach in Ruhe.“
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