von käfer
Drei Tage später waren sie soweit. Argus hatte gekündigt, seine Sachen gepackt und Fahrkarten nach Edinburgh besorgt. Gemeinsam mit Sarah brach er auf in das größte Abenteuer seines Lebens.
Sie hatten vereinbart, in Edinburgh zwei Nächte in einem billigen Hotel zu verbringen und die Tage zu nutzen, um irgendwo in der Umgebung Arbeit und Wohnung zu finden. Als sie aus dem Zug stiegen, sagte Sarah: „Ich habe irgendwie das Gefühl, dass uns jemand beobachtet.“
Argus sah sich um. Menschen hasteten hin und her, standen an den Fahrkartenschaltern, verabschiedeten sich voneinander, saßen wartend herum. Aber keiner nahm Notiz von den zwei Fremden. Hier waren alle fremd. Plötzlich zuckte Sarah zusammen. „Sie ist uns gefolgt, ich hab sie genau gesehen.“
„Wen meinst du?“
„Anne Gray, Murdochs Haushälterin. Die ist mir schon in London manchmal hinterhergegangen, wenn ich mit den Kötern unterwegs war.“ Sarah zitterte am ganzen Leib. Argus nahm sie in den Arm und führte sie aus dem Bahnhof. „Vielleicht hilft es, wenn du eine Weile nicht mehr zauberst. Setzen wir uns einfach in den nächstbesten Überlandbus und fahren bis zur Endhaltestelle. Und dann sehen wir weiter.“
Sarah nickte und zitterte immer noch.
Weder Argus noch Sarah wussten, wohin der Bus fuhr, in den sie stiegen. Argus verlangte einfach: „Zweimal bis zur Endhaltestelle.“ Der Fahrer sah sie mitleidig lächelnd an. Als er das Wechselgeld herausgab, sagte er: „Wohl auf Abenteuerurlaub, was?“ Argus nickte und schob Sarah auf einen freien Platz in der Mitte des Busses. Die Fahrt musste recht weit gehen, denn sie war ziemlich teuer. Argus sah aus dem Fenster, sobald sie in eine Ortschaft kamen. Sarah hatte sich ganz klein gemacht, als wolle sie sich verstecken.
Nachdem sie die Umgebung von Edinburgh hinter sich gelassen hatten, ging die Fahrt lange durch dünn besiedeltes Gebiet. Der Bus fuhr im Zickzack zu winzigen Dörfchen, manchmal war eine Haltestelle auf scheinbar freier Strecke. Als sie nach einer Stunde einen größeren Ort erreichten, schaute Argus sich den Ort an und überlegte, ob es sich vielleicht lohnte, schon hier auszusteigen. Er flüsterte Sarah ins Ohr: „Wenn diese Gray mitbekommen hat, dass wir bis zur Endhaltestelle bezahlt haben, wird sie vielleicht dort auf uns warten. Lass uns hier aussteigen und weitersehen.“
„Gut.“
In dem Moment fuhren sie an einer Schule vorbei. „Hausmeister gesucht“ stand auf einem großen Schild an der Tür. „Ich glaube, hier gibt´s Arbeit, zumindest für mich.“
Sie stiegen aus und sahen sich im Ort um. Middlehall war zu groß für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Aber es gab alles, was sie brauchten: billige Wohnungen und Arbeit. Argus bekam die Hausmeisterstelle in der Schule, Sarah fand eine Anstellung als Privatsekretärin bei einem reichen alten Ehepaar. Sie musste die Korrespondenz der beiden erledigen, die sich im Wesentlichen auf das Verfassen von Briefen an die weitläufige Verwandtschaft beschränkte, morgens aus der Zeitung vorlesen und nachmittags den Tee servieren.
Argus und Sarah zogen in einen heruntergekommenen Wohnblock in zwei nebeneinanderliegende Miniwohnungen, richteten sich mit gebrauchten Möbeln spärlich ein und lebten monatelang ruhig nebeneinander her.
In den ersten Wochen war Sarah noch unruhig und unsicher und wagte sich kaum auf die Straße. Als aber niemand Bekanntes auftauchte, keine verdächtigen Briefe kamen und keiner Fragen nach ihrer Vergangenheit stellte, beruhigte sich Sarah allmählich.
Sie verbrachten die Abende abwechselnd in einer der beiden Wohnungen, gingen aber stets getrennt schlafen. Argus widmete Sarah viel Aufmerksamkeit, bedrängte sie jedoch nicht, über ihre Ehe mit Murdoch zu sprechen. Wenn Sarah reden wollte, würde sie es ohne Aufforderung tun.
Der Winter kam. Argus und Sarah begriffen, warum in den Blocks so viele Wohnungen leer standen und nur arme Leute dort wohnten: Die Wohnungen hatten zwar Fernheizung, aber viel Wärme kam nicht an. Obwohl die Heizkörper voll aufgedreht waren, fühlten sie sich meistens nur lauwarm an und erwärmten die Räume gerade so viel, dass die Wasserleitungen nicht einfroren. Argus und Sarah waren wohl die einzigen in der ganzen Straße, die nicht frieren mussten, denn Sarah hexte ein Becken mit einem wohligen Feuerchen in eine Ecke.
Eines Tages jedoch kam sie voller Panik zu Argus. „Ich habe Mrs. Gray in der Stadt gesehen. Ich bin schnell um die Ecke gerannt und kann nur hoffen, dass sie mich nicht gesehen hat.“
Sie traten ans Fenster und spähten auf die Straße. Niemand war zu sehen. Sarah atmete tief durch, Argus zog die Vorhänge zu.
„Wie kann sie mich nur hier gefunden haben?“, fragte Sarah voller Verzweiflung.
Argus dachte lange nach. „Vielleicht durch deine Arbeitgeber?“
„Das ist unwahrscheinlich. Sie sind Muggel und haben keine Ahnung von der Existenz eines Maximilian Murdoch. Außerdem habe ich ihnen erzählt, ich sei eine mittellose Witwe aus Liverpool, die auf der vergeblichen Suche nach Verwandten hier gestrandet ist. Zum Glück lebt keiner namens Norris hier in der Gegend.“
„Ob diese Mrs. Gray systematisch nach dir sucht und einfach jeden Ort entlang der Buslinie abgeklappert hat?“
Sarah seufzte. „Wenn ich das wüsste. Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, dazu hat sie gar keine Zeit. Sie ist Murdochs rechte Hand und führt ihm das Haus, die alte Krähe.“
Argus zog die Brauen hoch. Was hatte Sarah alles im Haushalt von Maximilian Murdoch erdulden müssen? „Warum sollte Murdoch gerade seine Haushälterin hinter dir herschicken? Vielleicht war es nur Zufall, dass sie zur gleichen Zeit in Edinburgh war wie wir. Vielleicht besucht sie hier irgendwelche Verwandte oder Bekannte oder so.“
„Zufall war das bestimmt nicht. Anne Gray hat keine Verwandten und Bekannten außerhalb von London, sie hat sich nie einen Tag frei genommen für Besuche oder Besorgungen. Und Murdoch weiß, dass ihr bloßer Anblick mir Unbehagen bereitet. Ich war zwar pro Forma die Hausherrin, aber sie hat jede meiner Entscheidungen in Zweifel gezogen und Anordnungen grundsätzlich missachtet. Dabei habe ich ewig gebraucht, um ihr falsches Spiel zu durchschauen, sie hat die Freundliche gemimt.“
Argus grübelte weiter. „Hast du viel gehext, seit wir hier wohnen?“
„Nein. Ich lebe wie ein Muggel und putze sogar mit der Hand. Nur das Feuer, das habe ich gehext.“
„Vielleicht ist es das“, meinte Argus. „Minderjährige Zauberer bekommen mit elf Jahren einen Zauber auferlegt, man nennt das `die Spur`. Damit merken es die vom Ministerium, wenn einer außerhalb der Schule zaubert. Wir hatten in Hogwarts mal so einen Fall in der Klasse. Vielleicht hat Murdoch dir so eine Spur aufgelegt und kann dich nun finden, wenn du zauberst.“
Sarah wurde bleich. „Das ist ja schrecklich. Und was machen wir jetzt?“
„Nicht mehr zaubern und dafür frieren. Und schnellstens den Wohnort wechseln.“
Letzteres war gar nicht so einfach. An jedem freien Nachmittag fuhren die beiden in der Gegend herum und suchten Arbeit, aber es gab keine freien Stellen, dafür jede Menge Arbeitslose.
Weil sie beide wenig verdienten, hatten Argus und Sarah auch nicht genügend Geld, sich wieder in einen Bus zu setzen und aufs Geradewohl wegzufahren. Das wollten sie im Sommer versuchen, wenn es warm genug war, notfalls auch im Freien zu übernachten.
Vorerst richteten sie sich auf die Kälte ein, wärmten sich abends gegenseitig und irgendwann war Sarah auch zu Zärtlichkeiten bereit. Von da an schliefen sie in einem Bett.
Nach vier Wochen gab Sarah ihre Wohnung auf und stellte ihr Bett neben das von Argus.
Für eine Weile schien es, als hätten sie Ruhe. Weihnachten kam näher, Sarah schmückte die bescheidene Wohnung mit bescheidenen Mitteln und bereitete ein kleines Festessen vor. Argus war an einem freien Tag in die nächste größere Stadt gefahren und hatte in einem Schmuckgeschäft einen Ring gekauft, den er Sarah am Weihnachtsabend überreichen wollte.
Doch das friedliche Fest wurde überschattet von einem großen Schrecken.
Am Morgen klopfte eine Eule ans Fenster. Der Brief war für Sarah, sie las und erbleichte.
„Was hast du?“, fragte Argus.
Sarah hielt ihm wortlos das Stück Pergament hin.
„Noch 99 Tage bis zum Ende.“
Mehr stand nicht auf dem Blatt.
„Das ist Murdochs Schrift“, sagte Sarah tonlos. „Er hat nach der Scheidung damit gedroht, mich zu vernichten.“
„Nur über meine Leiche!“ Argus spürte, wie er wütend wurde.
„Murdoch geht über Leichen, das weiß ich. Er schnippst dich aus dem Weg wie ein lästiges Staubkorn.“
„Das soll er erst mal versuchen!“, rief Argus aufgebracht.
Sarah blätterte im Kalender. „99 Tage, das ist der zweite April…“ Ihre Stimme wurde schwächer. „Das ist das Datum, an dem Murdoch mir zum ersten Mal begegnet ist. Und – das Datum unserer Hochzeit.“
Sarah ließ sich in den Sessel sinken. Sie zitterte am ganzen Körper.
Argus bereitete Tee und gab einen Schuss Rum hinein. Wortlos reichte er Sarah die Tasse, sie trank mechanisch. Nach und nach kehrte die Farbe auf ihre Wangen zurück.
„So einfach kriegt der dich nicht. Da muss er erst mal an mir vorbei“, sagte Argus und holte den Ring aus der Tasche. „Lass uns das zusammen durchstehen. Willst du meine Frau werden?“
Sarah sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Argus zitterte innerlich. Wie würde Sarah reagieren? Eigentlich hatte er den Heiratsantrag auch etwas freundlicher und mit liebevolleren Worten machen wollen. Was, wenn Sarah ablehnte? Wenn sie davonlief? Dann war sie ganz allein auf der Welt mit Murdochs Drohung im Rücken…
Sarah sah starr auf den Ring. Argus konnte nicht erkennen, was sie dachte. Es war still im Raum, nur die alte Uhr tickte überlaut und zerhackte die Zeit.
Als Sarah sich regte, hatte Argus das Gefühl, dass Stunden vergangen sein mussten.
„Willst du das wirklich auf dich nehmen? Murdoch wird mich verfolgen bis ans Ende.“ Sarah schluckte und kämpfte mit den Tränen. „Ich würde… ich würde schon ganz gern ein normales Leben leben, vielleicht sogar Kinder haben… und Katzen.“
„Ich auch!“, rief Argus. „Sarah, begreif doch, ich liebe dich. Ich liebe dich seit dem Augenblick, an dem ich dich das erste Mal gesehen habe. Und ich will nichts anderes als mit dir zusammen zu sein.“
Ganz langsam steckte Sarah den Ring an ihren Finger. Dann stand sie auf und umarmte Argus. „Ja, ich will. Lass uns heiraten.“
Sarah war so aufgeregt, dass ihr der Weihnachtsbraten anbrannte. Sie schämte sich und weinte, aber Argus nahm sie in den Arm. „Es gibt wirklich größere Katastrophen.“
Sarah wischte sich die Tränen ab. „Du hast Recht. Wenn Murdoch schon weiß, wo ich bin, kann ich auch den hier benutzen.“ Sie zückte ihren Zauberstab und beseitigte den Schaden im Bratentopf. Das Weihnachtsessen war doch noch vorzüglich und die beiden Liebenden verbrachten ein stilles, beschauliches Weihnachtsfest zu zweit.
PS: Vielen Dank an meine Beta-Leserin halbblutprinzessin137, die sich wirklich viel Mühe mit meiner FF gibt und immer schöne Kommis schreibt!
Aber vielleicht könnte ja einer der "Schwarzleser" auch mal so lieb sein und ein oder zwei Sätze im Kommifenster hinterlassen? Ich schreib´ doch die FF für "alle"!
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